den Angeklagten zu den Verbrechen getrieben zu haben scheinen, als vielmehr grenzenloser Leichtsinn und die angeborene Kunst, den Leuten etwas vorzumachen und daraus Gewinn zu ziehen, … wenn schon ich anerkenne, daß der Angeklagte ein gemeinschädliches Individuum ist …«; und damit meint der Mann dann »das Wenige, was für den Angeklagten spricht, herangezogen zu haben«. Eine derartige Berufung richtet natürlich nichts aus; am 16.5.70 wird das Urteil vom Sächsischen Oberappellationsgericht Dresden bestätigt.[22]
Vier lange Jahre lang: vom 3.5.1870 bis 2.5.1874: ist Karl May der Sträfling Nr. 402 im Zuchthaus Waldheim.
Kapitel IV
Aus der Mappe eines Vielgereisten
Die vier Jahre Waldheim bilden die dunkelste Zeit in Mays Leben, und nicht nur im Blick auf die dumpf verworrenen Seelenzustände, deren Quittung sie sind: schweigsamer als irgend sonst bleiben die Dokumente, und was sich in diesem vergitterten Zeitraum vollzieht, die große Wendung, der Anfang des Wortwerdens allen lange allzu schwachen Fleisches, ist zuletzt nur eigentlich im Ergebnis sichtbar. Mysteriös bleibt die Verwandlung in allen Details, und das gerade da, wo May es selber zu ihrer Erklärung an Einzelheiten nicht fehlen ließ.
Nicht halten läßt sich, neben so manchen anderen Deutungen des Feinsinns, die patente Lösung, die Straftaten selbst seien von förmlich abgespaltenen, halb bewußtseinslosen Zuständen nur ermöglicht worden und erst unter der Besinnung der Zelle durch die dicke Schicht von Lehm und Häcksel in die regulierten Bezirke von Einsicht heraufgedrungen: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«, die May – im Alter verwirrter noch als je vor den ihm rüde ins Gesicht geworfenen Fakten – für sich in Anspruch nahm, ist eine Mystifikation – wie das Buch mit dem genannten Titel, das den Beichtspiegel abgegeben haben soll, – und wie am Ende wohl auch die Rolle, die spät sublimierte, des katholischen Anstaltskatecheten Johannes Kochta (1824–1886): ein weiteres Mal – wie bei der Märchengroßmutter und ihrem Buch – borgte sich May bei einem aus lauter Erinnerungslücken verdichteten Modell Anhalt und Autorität, die anders für sich herzustellen ihm mißlang. Nicht abgespalten, sondern – nach endlos langen Übungen in kahler Zellenstille – ganz heimlich und behutsam in sich isoliert werden sämtliche so verhängnisvollen Züge der gescheitert zerschundenen Person; ein gleichwohl riesiger Schub von Energie überführt sie in einen Bewußtseinsbezirk, in dem sie fortan schadlos weiterschalten können: in Bücher gebannt, von Einbänden gebändigt, vermögen sie heil zu bleiben noch im kranken, krankhaften Detail: die Heilung des Konflikts selbst entgeht der schmerzhaften, verkrüppelnden Operation. Was May hier gelingt, ist so ziemlich ohne Beispiel (und ein ›Geniestreich‹, wenn man will): nicht stutzt er zurecht, beschneidet, duckt, bekämpft, was ins bürgerliche Milieu nicht einzupassen war und auf weitere Zeit darin hätte umkommen müssen, sondern er verwandelt das Milieu selbst: er schafft seiner so bizarren Person und allen ihren heroischen, revoltierend herrischen Attitüden eine eigene, imaginäre Umwelt, in der sie ungehemmt gedeihen können: einen Traumraum, der in zähem Kleinarbeiten von jetzt an mit immer reicheren Details von höherer Wirklichkeit ausstaffiert wird. Der Vorgang dauert lange: über ein Vierteljahrhundert hin vollzieht sich Mays Entwicklung nunmehr im Gehäuse seiner Imagination. Was draußen in der rohen Realität übrigbleibt, ist nur der schattenhafte Umriß des alten vertrackten Charakters: ein ungefährliches, umweltverträgliches Wesen, das auf sehr leisen Sohlen weitergeht, bis … das wird später zu verfolgen sein. Am 2.5.1874 liegt die Zeit, welche für mich und für jeden Menschenfreund die schrecklichste, für den Psychologen aber die interessanteste ist, – wenn auch nicht buchstäblich hinter ihm, so doch auch nicht mehr eigentlich vor ihm und um ihn: Es war ausgestanden. Ich kehrte heim …
Wann die ersten Exerzitien des Einsiedlers in der gestreiften Kutte zustande kommen, die ersten Schreibensversuche, ist kaum mit Sicherheit auszumachen. Ein Manuskript ›Ange et Diable‹ lag bereits in Mittweida vor[1]; das Weihnachtsgedicht, das May später in seine Schulzeit verlegte, ist offenbar in Waldheim selbst entstanden;. von den vielgesuchten ›ersten Veröffentlichungen‹ bis dahin aber fehlt jede gewisse Spur. Mit größerer Wahrscheinlichkeit aus der Waldheimer Zeit stammt das Dokument des Repertorium C. May[2], eine Sammlung von 2 längeren Entwürfen und rund 200 Titelnotizen, von denen einige wohl damals schon ausgeführt wurden: solche Arbeiten vermutlich hatten May die Bekanntschaft mit H. G. Münchmeyer eingetragen[3], dem tranig funzelnden Leitstern der Folgejahre.
Ursprünglich Zimmergesell und Tanzmusikant auf den Dörfern, hatte der Heinrich Gotthold Münchmeyer (1836–1892) im Jahre 1862 in Dresden ein »Verlags- und Colportage-Geschäft« begonnen, mit dessen Produkten – Groschenheften und Kalendern – er rings im Land begreiflich reüssierte. 1868 kann er das Begonnene »nunmehr auch dem Gesammt-Buchhandel eröffnen«; 1874 ist die anfängliche Handdruckpresse einer kompletten »Druckerei mit Dampfbetrieb« gewichen, und aus dem Geschäft erblüht eine Sorte Volksliteratur, für deren Besitz sich heute unverändert Volk wie Verleger selig preisen würden: ein ›Venustempel‹ ist dabei, ein ›Buch der Liebe‹ – dessen III. Abteilung ›Die Liebe nach ihrer Geschichte‹, ein Traktat im Höhern Chor, von May stammt, – und ein 4bändiges ›Schwarzes Buch / Verbrecher-Gallerie‹: eine Art Kolportage-Pitaval, in dem 2 oder 3 anonyme Geschichten vielleicht Mays frühester Muse zu danken sind. Die eigentlich engere Zusammenarbeit zwischen May und Münchmeyer beginnt 10 Monate nach der Entlassung aus Waldheim: da erscheint der Verleger ganz plötzlich in Ernstthal und bietet dem nun fleißig ums Brot Schreibenden, der ihm gleich die längere Novelle ›Wanda‹ überreicht, einen Redakteursposten an: der bisherige Verweser des Wochenblatts ›Der Beobachter an der Elbe‹, Otto Freitag, hat sich mit Krach auf eigene Füße gestellt, Konkurrenz ist zu befürchten: da liegt schon so etwas wie eine wirkliche Aufgabe. Und May wird nur zu gern nach dieser Chance gegriffen haben, so grandios er später auch Bedenken und Abneigung beteuerte; auch winken 600 Taler Jahresgehalt: – da gab ich ihm den Handschlag; ich war – – – Redakteur.
Als Redakteur in Dresden
Bereits 2 Tage später, am 8.3.75, reist er nach Dresden und mietet sich am Jagdweg 7 ein, ganz in der Nähe des Münchmeyerschen ›Geschäftslocals‹, der Nr. 14. Aber nach kaum einer Woche faßt auch hier die Vergangenheit nach ihm: kurz vor der Entlassung noch hatte die Kgl. Kreisdirektion Leipzig dem zweifelhaften Gefangenen 2 Jahre Polizeiaufsicht verordnet; das veranlaßt sogleich am 12.3.75 den Gendarmeriebrigadier Frenzel, der Dresdener Kriminalpolizei anzuzeigen, daß der »bereits wegen schweren Diebstahls, Betrugs, Widersetzung und Fälschung bestrafte Gauner und frühere Schullehrer Carl Friedrich May« sich von Ernstthal nach Dresden entfernt habe; »da nun zu vermuthen steht, daß derselbe … auch seine frühere verbrecherische Laufbahn theilweise wieder betreten dürfte …, so wollte der Unterzeichnete nicht unterlassen, einem geehrten Commissariate hiervon ganz gehorsamst Notiz zugehen zu lassen«[4], – und die Notiz wird nur zu gnädig angenommen, die Vermutung zu eigen gemacht, und am 15.3. weist man May aus Dresden aus. Zwar setzt er gleich am folgenden Tag ein langes Gesuch an die hohe Kgl. Polizei-Direction auf (und die Gnadenbitte ist wahrlich anrührend zu lesen: Nach langem Irren ist mir endlich eine Stellung gebothen, welche mich von Sorgen befreit und mir Gelegenheit biethet, das Vergangene wieder gut zu machen und den Beweis zu führen, daß der Weg meines Lebens nie wieder sich einem ›dunklen Hause‹ nähern werde. Wer da weiß, wie schwer es dem entlassenen Strafgefangenen wird, sich aus dem Schmutze emporzuarbeiten, der wird begreiflich finden, daß ich mit innigster Freude und Genugthuung dem Rufe gefolgt und in die gebothene Stellung eingetreten bin. In den wenigen Tagen meines Hierseins habe ich das vollständige Vertrauen meines Chefs erlangt, und ich hegte die freudige Hoffnung, daß ich die Vergangenheit hinter mich werfen und mit unbeirrtem Eifer vorwärts streben könne … Wohl weiß ich, daß ich schwer gefehlt und gesündigt habe, und die Thätigkeit meines ganzen Lebens muß darauf gerichtet sein, Verzeihung des Geschehenen zu erlangen …[5]); doch obgleich er sich erbietet, im Fall der Erfüllung seiner Bitte in steter Dankbarkeit der Humanität zu gedenken, welche meinen Eltern die bitterste Kränkung erspart und mir das Fundament läßt, auf welchem ich mir eine