ist weit über ein Menschenalter her, daß ich an einer schweren seelischen Depression erkrankte, deren Äußerungen man vor den Strafrichter brachte, anstatt vor den Arzt und Psychologen. Ich habe es schwer zu büßen gehabt, daß der Stand der gerichtlichen Psychologie damals noch nicht derselbe war, wie er es heutigen Tags ist. Heut würde man mich freisprechen …[1] Heute: zwei weitere Menschenalter nach der Niederschrift dieser Sätze: würde man May gewiß ebensowenig ›frei-sprechen‹ wie damals; und ob der ›Stand der gerichtlichen Psychologie‹ in den vergangenen 100 Jahren eine heilsame Änderung erfahren habe, ist eine Frage, auf die das Strafgesetzbuch auch nach Revision nur eigentlich trübe Antworten austeilt. ›Vor Gericht‹, vor welchem immer, wäre Mays Fall nur wenig aussichtsreich, heute wie immer[2]; ein Verstehen ließe wohl einzig aus jener Humanität sich erwarten, nach der sich der alte Mann dann so verzweifelt umsah und so vergeblich: die er, blind tappend zwischen den mit ihm alt gewordenen Erinnerungen, nicht mehr zu greifen bekam, so süchtig auch er zu ergreifen suchte. Anrührend immer bleiben diese späten Versuche, die heillos dunkle Zeit seiner Jugend ins Licht der Begnadigung zu bringen; bei sachlicher Aktennüchternheit zu bleiben haben gleichwohl die kurzen Referate, mit denen sie im Gesamtbild seines Charakters noch am ehesten menschlich vorüberzuschaffen ist.
Am 2.11.1868 wird May »in Folge Allerhöchster Gnade« vorzeitig aus Osterstein entlassen. Aber die brutal verhängte lange Zeit hat von allen theoretisch möglichen Wirkungen die unterste gezeitigt, die nächstliegende und verständlichste: nur geduckt versteckt unter verworrener Schweigsamkeit, bricht sie im Augenblick des Freiwerdens durch die dünne Kontrolldecke herauf. Er geht zu den Eltern nach Ernstthal, und kaum war ich dort, so stürzte sich alles, was ich beseitigt glaubte, wieder auf mich. Die Anfechtungen begannen von neuem. Ich vernahm unausgesetzt den inneren Befehl, an der menschlichen Gesellschaft Rache zu nehmen, und zwar dadurch Rache, daß ich mich an ihren Gesetzen vergriff … Die ›inneren Stimmen‹, auf die May in der späten Beschreibung den Konflikt projizierte, sind freilich bereits Imagines einer höheren Einordnung; bei kälterem Licht besehen, und abgelöst von der belletristischen Überfärbung, zeigt sich der Zwiespalt weit verwischter, dumpfer in der tieferen Region der kaum mehr sichtbar abgegrenzten Antriebe: wenig wahrscheinlich ist, daß die Parteien des Getümmels dem Bewußtsein deutlich geworden wären, einem Bewußtsein, das – ohnehin unklar genug – von den immer dichter heraufreichenden, von Alkoholzufuhr aufgerührten Bodensätzen fehlschlägiger Erziehung am Ende nun ganz eingetrübt wird. Nach knapp 5 Monaten Freiheit bereits folgen die Folgen.
Am 29.3.69 begibt sich ein vorgeblicher Polizeileutnant v. Wolframsdorf aus Leipzig in Wiederau auf einen Ostermontagsspaziergang zum Krämer Reimann, teilt diesem mit, er sei »beauftragt, nach Falschmünzern, mit denen Reimann bereits seit Jahren in Verbindung stehen solle, zu recherchieren«[3], und fordert den strammstehenden Untertan forsch auf, doch einmal seine Kassenscheine zur Prüfung herzuzeigen – (und der Auftritt wird schon echt genug ausgefallen sein: den ›Leutnantston‹ beherrschte May, wie er dann in den Kolportageromanen demonstrierte, durchaus virtuos). Ein Zehn-Taler-Schein wird herbeigeholt; natürlich ist er falsch und läßt sich »nach anscheinend genauer Untersuchung« beschlagnahmen. Enttäuscht nun von der geringen Ausbeute seines Recherchierens, erblickt der Herr von Wolframsdorf des Krämers »vergoldete Zylinderuhr« (Wert: 8 Taler) und nimmt auch diese zu sich, »mit dem Bemerken, daß er sie als gestohlen erkannt«. Dann fordert er Reimann auf, »behufs weiterer Erörterung mit ihm nach Clausnitz zu gehen, wo sich die Gendarmerie befinde«; doch dort wartet der Krämer vergeblich im Gasthof, daß man ihn zur Einvernahme hole: der Polizeileutnant ist verschwunden …
Weniger freundlich verläuft der zweite Streich, der diesem sogleich folgt. Ermutigt von der Erfahrung, wie leicht es in Deutschland doch sei, das Volk im Gewande der Obrigkeit um brachliegende Barschaften zu bringen, erscheint am 10.4.69 ein weiteresmal ein »Mitglied der geheimen Polizei« beim Seilermeister Krause in Ponitz, verlangt diesen unter vier Augen zu sprechen und fordert ihn dreist zur Vorlage der im Haus vorhandenen Gelder auf: das sind 23 Taler Courantbillets und ungefähr 12 Taler »klingender Münze«, von denen der Geheime unverzüglich 30 »unter der Erklärung, daß dieses Geld falsch sei« zu sich nimmt, nämlich sämtliche papierenen und 7 der klingenden Münzen. Alsdann fordert er den Krause auf, »ihm sofort nach Crimmitschau an Gerichtsamtsstelle zu folgen. Auf dem Wege dahin und vor Frankenhausen ist indes der Angeklagte« (= der geheime May) »unter dem Vorgeben, ein natürliches Bedürfnis befriedigen zu müssen, abseits getreten und hat plötzlich querfeldein die Flucht ergriffen, ist von Krause und einem von diesem zu Hülfe gerufenen Dritten verfolgt und eingeholt worden und hat, nachdem er vorher das Krausen abgeschwindelte Geld von sich geworfen, der von seinen Verfolgern beabsichtigten Ergreifung dadurch mit Erfolg sich widersetzt, daß er ein bei sich geführtes Doppel-Terzerol … aus der Tasche gebracht und damit auf seine Verfolger, wenn sie ihn nicht gehen lassen würden, zu schießen gedroht hat …«[4] Der interessanteste Zug dieses Stückleins ist die »Widersetzung gegen erlaubte Selbsthilfe«: denn eigentliche Gewalttätigkeit hat May nie gelegen, obwohl er schon bei der Verhaftung am 27.3.65 im Rosental gräßlicherweise ein Beil bei sich führte, angeblich »um es in Leipzig schärfen zu lassen«. Daß dieses neuerliche »Doppel-Terzerol damals geladen gewesen, hat man dem Angeklagten, der das in Abrede gestellt, nicht nachweisen können …« Immerhin aber entkommt er mit Hilfe des Geräts, doch fassen jetzt bereits die ersten ›Bekanntmachungen‹ nach ihm: »Der Unbekannte ist von mittlerer Größe mit braunem dünnen Schnurrbart und braunem langen Haupthaar, trug breitkrempigen hellbraunen Filzhut, hellbraunen Rock und Weste, Beinkleider von gleicher Farbe und schwarze Gallons …«[5]
Die Betrügereien aber sprechen sich noch schneller herum, als man annehmen möchte. Als May am 12.4.69 bei den Eltern in Ernstthal auftaucht, ist bereits ein Bericht des Obergendarmen Prasser unterwegs[6], der die Identität des Gesuchten vermutet; er hat also einige Gründe, eiligst wieder zu verschwinden. Am 18.4. fährt er nach Schwarzenberg, um sich mit einer »Geliebten«, dem Dienstmädchen Auguste Gräßler, zu treffen; einen Tag lang erfreut er sich des Intermezzos, dann geht es weiter nach Leipzig, von wo er am 20.4. an die Eltern schreibt, er gedenke, sich nunmehr nach Nordamerika zu begeben: Ich traf nämlich zwei nordamerikanische Herren, Vater und Sohn, welche von einer Vergnügungs- und wohl auch halb und halb Geschäftsreise kamen und über Leipzig, Frankfurt, Amsterdam etc. nach Hause wollten. In Prag hatten sie ihren Hofmeister zurückgelassen und machten mir den annehmbaren Vorschlag, an dessen Stelle zu treten, mit nach Pittsburg zu gehen und dort die jüngeren Geschwister zu unterrichten … Ihr werdet wohl mit meinem Schritte einverstanden sein, der mir vielleicht Aussicht auf etwas mehr Glück biethet, als ich bisher gehabt habe … Ich reise ab; man wird meine Vergangenheit vergessen und verzeihen, und als ein neuer Mensch mit einer besseren Zukunft komme ich wieder …[7] Obwohl nun die Vermutung nicht ganz fern liegt, der Brief habe schlicht eine Mystifikation sein sollen, bestimmt zuletzt auch, Behördennachforschungen irrezuführen, reist May tatsächlich noch am gleichen Tage mit den beiden Amerikanern nach Amsterdam ab; doch kommt er nur bis Bremen, von wo er wieder nach Sachsen zurückkehrt.[8] Zu Pfingsten (16./17.5.) weilt er ein weiteres Mal in Schwarzenberg bei Auguste Gräßler; dann taucht er am 27.5. plötzlich in Ernstthal auf, jedoch nicht bei den Eltern, sondern beim Paten Weisspflog, der ihm – vermutlich aus geistesverwandter Abenteuerlichkeit – während der folgenden Zeit beisteht. Vermutlich ebenso ist er es gewesen, der dem Verfolgten die wenige Kilometer nördlich von Hohenstein in den Wäldern gelegene Eisenhöhle zuweist, später ›Karl-May-Höhle‹ genannt[9]; eher gutmütig vom Paten verschenkt als ihm gestohlen dürften die Gegenstände sein, die May sich in der Nacht zum 28.5. dort hinschafft: 1 Kinderwagen, 1 Schirmlampe, 1 Brille mit Etui, 1 Brieftasche und 2 Börsen mit insgesamt 2 Talern 1 Neugroschen 3 Pfennigen Inhalt, ¼ Pfund Waschseife und 2 Bunde mit zusammen 60–70 Sperrhaken alias Dietrichen … Aber ein Nachbar hat die Transaktion beobachtet, und so muß Weisspflog, um nicht wegen Beihilfe – nach so mancher Tat und vor so mancher weiteren Tat – belangt zu werden, eine Schein-Anzeige erstatten[10]; er nimmt sich freilich eine ganze Woche damit Zeit, – aber das Delikt kommt zu denen, auf die hin May dann später verurteilt wird.
Kaum in seinem feuchten und wenig romantischen Hauptquartier etabliert, setzt May seine Bemühungen fort, sich an den Gesetzen der menschlichen Gesellschaft zu vergreifen. Am 31.5. frühmorgens betritt er eine Gaststube in Limbach, bestellt ein Glas Wein, ohne es zu erhalten, da der Herr Wirt noch nicht aufgestanden