Hans Wollschläger

Karl May


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ihm vereitelt: den ›Verlornen Sohn‹, seinen sozialen Roman, verdarben ihm die albernen Klischees der Kolportage, und die Selbstbiographie, spätestes Niedergreifen auf den vergrabenen Hort frühester Erfahrung, wurde von ästhetischer Zensur verstellt (und von nur wieder viel zu vielen ego-bedingten und -gebundenen Zwecken): »In seinem Buche, da deutet er sehr viel vom Schmutz und Sumpfe seines Heimatortes Ernstthal an, und darüber hätte ich gern von ihm genaue Angaben gewünscht. Er versagte, weil ihm die Erinnerung daran wehe tat …«[9]

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      Das Geburtshaus in Ernstthal

      Unter die Erinnerungen, vor denen May versagte (anders: unter die Fiktionen, die ihm beim zwischen Lücken gebückten Sortieren nur allzu behilflich waren), gehört zuletzt auch die Rolle der Märchengroßmutter, der Person, die in seelischer Beziehung den tiefsten und größten Einfluß auf meine Entwicklung ausgeübt hat; … ein ganz eigenartiges, tiefgründiges, edles und, fast möchte ich sagen, geheimnisvolles Wesen … ein herzliebes, beglückendes Rätsel, in dessen Tiefen ich schöpfen durfte, ohne es jemals ausschöpfen zu können … Wie in seinem späten Lebensbericht das Große Buch der Märchen selbst, Der Hakawati / d. i. / der Märchenerzähler in Asia, Africa, Turkia, Arabia, Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung, explanatio und interpretatio auch viele Vergleychung und Figürlich seyn / von / Christianus Kretzschmann / der aus Germania war. / Gedruckt von Wilhelmus Candidus / A.D. M.D.C.V.[10] durchaus nur ›figürlich‹ ist, so dürfte es auch die Erzählerin sein, der May erst ganz am Ende, als Krönung der sichtbar zwanghaft betriebenen Sublimation, auch die Autorität über sein Werk zuschrieb. Welchen Einfluß immer die sonderbare Frau auf ihn hatte, die Inspirationsquelle des Kindes war sie in dem Sinne wohl nicht, den die Selbstbiographie so unvergleichlich intensiv beschreibt. Die Suche nach den frühesten Anregungen hätte sich eher einem Mann zu widmen, den das späte ›Leben und Streben‹ gar nicht einmal mehr kennt; glaubwürdiger, echter erscheint, was May über ihn, den Schmiedemeister Christian Weisspflog, bereits 1899 in einer ersten, noch ganz spontanen biographischen Äußerung zu Protokoll gibt: Ich hatte einen Pathen, welcher als Wanderbursche weit in der Welt herumgekommen war. Der nahm mich in der Dämmerstunde und an Feiertagen, wenn er nicht arbeitete, gern zwischen seine Kniee, um mir und den rundum sitzenden Knaben von seinen Fahrten und Erlebnissen zu berichten. Er war ein kleines, schwächliches Männlein, mit weißen Locken, aber in unseren Augen ein gar gewaltiger Erzähler, voll übersprudelnder, mit in das Alter hinüber geretteter Jugendlust und Menschenliebe. Alles, was er berichtete, lebte und wirkte fort in uns, er besaß ein ganz eigenes Geschick, seine Gestalten gerade das sagen zu lassen, was uns gut und heilsam war, und in seine Erlebnisse Szenen zu verflechten, welche so unwiderstehlich belehrend, aneifernd oder warnend auf uns wirkten. Wir lauschten athemlos, und was kein strenger Lehrer, kein strafender Vater bei uns erreichte, das erreichte er so spielend leicht durch die Erzählungen von seiner Wanderschaft. Er hat seine letzte Wanderung schon längst vollendet; ich aber erzähle an seiner Stelle weiter …[11]

      Vor das Bild der Mutter schiebt sich eine gewisse Sprachlosigkeit; Schuldgefühle, ihr gegenüber stärker als gegen andere, weil viel weniger greifbar, blieben noch im Alter Mays lebendig; darüber ist seine Erinnerung, die sonst durchaus mit vielem fertig wurde, auffällig formelhaft und schweigsam geworden: – sie war eine Märtyrerin, eine Heilige, immer still, unendlich fleißig, trotz unserer eigenen Armut stets opferbereit für andere, vielleicht noch ärmere Leute. Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus ihrem Mund gehört. Sie war ein Segen für jeden, mit dem sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen für uns, ihre Kinder. Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch erfuhr davon. Doch des Abends, wenn sie, die Stricknadeln emsig rührend, beim kleinen, qualmenden Öllämpchen saß und sich unbeachtet wähnte, da kam es vor, daß ihr eine Träne in das Auge trat und, um schneller, als sie gekommen war, zu verschwinden, ihr über die Wange lief. Mit einer Bewegung der Fingerspitze wurde die Leidesspur sofort verwischt … Was sie, bei dauernd grober Arbeit zwischen den grob dauernden Schwangerschaften, zu leiden hat, weniger unter der bloßen Armut selbst als unter dem tyrannischen Mann, ihrer durchaus schlechteren Hälfte, scheint sich in wortlos wachsender Schwermut geduckt zu haben (die in der Familie lag: ihr Vater, Christian Friedrich Weise [1788–1832], kehrte dem Weberglück durch Selbstmord den Rücken – »Ursache: Trunkenheit und Verzweiflung« vermerkt das Kirchenbuch); eher passiv nur ist der Einfluß, den sie auf die Entwicklung des Jungen nimmt. Einmal rafft sie sich auf, dem Elend, das der Vater nicht zu lindern vermag, mit einem eigenen Beruf beizukommen: sie geht nach Dresden, um einen Hebammen-Kursus zu absolvieren, und da sie am 13.2.46 die Prüfung »vorzüglich gut« besteht, erhält sie 5 Wochen später die Bestallung als Hebamme in Ernstthal – ein Amt, in dem ihr dann die Tochter Caroline Wilhelmine verh. Selbmann (1849–1945) gefolgt ist.

      Seit 1838 besaß die Mutter durch Erbschaft sogar einiges ›Vermögen‹ (das Geburtshaus Mays gehört dazu; und die Barschaft dürfte um einiges beträchtlicher gewesen sein, als die Groschenaufzählung der Selbstbiographie glauben läßt: 60 vor dem Ehemann verborgen gehaltene Taler werden allein für den Hebammenkurs verwendet). Aber dem Heinrich August rinnt nach und nach alles durch die zwar fleißigen, aber übel leichtsinnigen Hände: Wenn er auch nicht geradezu glaubte, plötzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch an, jetzt zu einer andern Lebensführung übergehen zu dürfen. Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben lang hinter dem Webstuhl abzurackern. Er hatte ja nun ein Haus, und er hatte Geld, viel Geld. Er konnte zu etwas anderem, Besserem greifen, was bequemer war und mehr lohnte als die Weberei … Das Bessere: sind täppische Versuche als Taubenhändler und ›Agent für alles mögliche‹; die Ersparnisse schmelzen dahin; am 15.4.45 muß das Haus in der Niedergasse verkauft werden (und der Erlös von 515 Talern scheint den gleichen Weg gegangen zu sein wie die raren ›Beutel‹; – fürs Wirtshaus hat es bei dem Patriarchen sonderbarerweise immer wieder gereicht, während die Familie sich mit dem Nähen von ›Leichenhandschuhen‹ plagt und die Kinder von den Schutthaufen Melde pflücken müssen, von den Rainen Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich, um das zu kochen und mit ihm den Magen zu füllen. Die Blätter der Melde fühlen sich fettig an. Das ergab beim Kochen zwei oder drei kleine Fettäuglein, die auf dem Wasser schwammen. Wie nahrhaft und wie delikat uns das erschien!): – man zieht zur Miete an den Markt, in das Haus des Webermeisters Selbmann.[12]

      Der Vater ist die weitaus interessanteste Persönlichkeit im trüb verschwommenen Personale von Mays Kindheit und Jugend. Einige auffällige Eigenschaften, die sich dem Sohn vererbten und so sehr nicht mit dem erzgebirgischen Menschenschlag überein zu bringen sind, über weitere Voreltern hin zu verfolgen, wäre freilich müßig: mit Wahrscheinlichkeit ist er ein außereheliches Kind (»Der Schwängerer soll ein Unbekannter gewesen seyn«, vermerkt das Kirchenbuch – unentschieden, ob als bloßes Gerücht oder als Angabe des Mannes, der einen Fehltritt der Märchengroßmutter mit seinem Namen zudeckte; zwei weitere Geburten in der Umgebung des Datums tragen den gleichen Zusatz; eine vierte: »Der Schwängerer ist ein bayerischer Soldat«; 1810: Durchzug von Rheinbundtruppen[13]). Bei der Beschreibung des verworrenen Mannes hat May seiner Erinnerung besonders behutsame Sperren vorgeschaltet, doppelt erklärlich, weil er hier zugleich einer Selbstbeschreibung auswich; aber noch aus den humorig vermummten Episoden blickt das Gesicht zuweilen unangenehm genug hervor. Zwei Seelen müssen sich auch in dieser Brust die Wohnung teilen: die eine sei unendlich weich gewesen, unpräzise verträumt, in Gedanken verspielt; die andere (der gewöhnlich 10 Stunden des Tages gehören – gegenüber 4 unendlich weichen) bietet einen wahrlich fatalen Anblick. Da waren wir in steter Angst, ihn zu erzürnen … Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte ›birkene Hans‹, vor dem wir Kinder uns besonders scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung im großen ›Ofentopfe‹ einzuweichen, um ihn elastischer und also eindringlicher zu machen. … Selbst in den heitersten und friedlichsten Augenblicken hatten wir das Gefühl, daß wir auf vulkanischem Boden standen und von Moment zu Moment einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man den Strick oder den ›Hans‹ so lange, bis Vater nicht mehr konnte … Daß der dauernde Konflikt zwischen seiner unleugbaren Intelligenz und der sie plump foppend umtölpelnden Unterumwelt sich hinter bleibend heiligmäßigem Wandel hätte verbergen