hatte allerlei Ursache, in der Lokalgeschichte zu schwanken. In der späteren Erinnerung der betreffenden Ernstthaler lebte er als liederlicher, streitsüchtiger Trunkenbold fort; doch hat er in der Gemeinde Ämter bekleidet, die nur an Bürger »von gutem, unbescholtenem Rufe«[14] verliehen wurden: als 24jähriger bereits gehörte er zum »Bürgergarden-Corps«, später war er Marktmeister und im Alter noch Armenpfleger. Aber das alles sind ›Ehrenämter‹, die nichts eintragen. Der Drang nach dem Fortkommen aus dem nicht mehr geliebten Beruf in, sei’s wie’s sei, ein Anderes, ›Höheres‹, nimmt bei ihm mit wachsender Erbitterung nur mehr die Formen einer immer trüberen Groteske an. Spielhafte, wenn auch gallig ernste Realträume werden exerziert: militärische Chargen erscheinen am Wunschhorizont als Formen ›höheren Rangs‹: Vater war Hauptmann der siebenten Kompanie (einer anläßlich des 49er Aufstands zur ›Rettung des Königs‹ in Marsch gesetzten Dorfarmee; die Schilderung scheint allerdings bei May besonders bunte Blüten zu treiben) – und das grobe Vaterverlangen nach dem Vorgesetzter-Sein mißbraucht den Jungen als willig gekrümmte Folie. Der Herr Hauptmann bekam einen Säbel und eine Signalpfeife. Aber er war mit dieser Charge nicht zufrieden; er trachtete nach Höherem. Darum beschloß er …, sich ganz heimlich … im ›höheren Kommando‹ einzuüben … So wurde ich einstweilen vom Handschuhenähen dispensiert und wanderte mit ihm täglich hinaus in den Wald, wo auf einer rings von Büschen und Bäumen umgebenen Wiese unsere heimlichen Evolutionen vorgenommen wurden. Vater war bald Leutnant, bald Hauptmann, bald Oberst, bald General; ich aber war die sächsische Armee. Ich wurde erst als ›Zug‹, dann als ganze Kompagnie einexerziert. Hierauf wurde ich Bataillon, Regiment, Brigade und Division … Aber ich war noch so jung und klein, und so kann man sich bei dem jähen Temperamente meines Generals wohl denken, daß es mir nicht möglich war, mich in so kurzer Zeit von der einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur vollzähligen, gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die Strenge der militärischen Disziplin an mir erfahren zu haben … Obwohl May dann noch gutmütig bekennt, er habe durchaus Lust und Liebe zur Sache gehabt, scheint von jenen frühen, albern scheußlichen Erfahrungen seine Einstellung zum Militär zu datieren: später war er ebenso wehruntauglich wie -unwillig, und im Alter gab er schließlich in aller Ruhe zu Protokoll, daß zum Soldatenberuf eigentlich nur körperliche und geistige Krüppel geeignet wären[15] (ein Einfall, den bekanntzumachen freilich damals schon Perlen vor die Deutschen werfen hieß). Aber dann notiert er auch wieder, halb ergriffen sogar, den komischen Ausruf des Kantors Samuel Friedrich Strauch (1788–1860), der beim Vorbeimarsch der Königsretter dem Jungen die rechte Einstellung zur Obrigkeit wies – (und Kantors Wort ist ja fast schon Gottes Wort; wer wollte da nicht mitglauben –): »Es ist doch etwas Großes, etwas Edles um solche Begeisterung für Gott, für König und Vaterland! … Das Glück bringt sie ein, das wirkliche, das wahre Glück!« … Ich ging nach unserm Hof. Da stand ein Franzäpfelbaum. Unter den setzte ich mich nieder und dachte über das nach, was der Herr Kantor gesagt hatte. Also Gott, König und Vaterland, in diesen Worten liegt das wahre Glück; das wollte und mußte ich mir merken! Und das hat sich May dann zeitweilig auch nur zu gut gemerkt – und es seine Leser, die ebenso lieben wie deutschen, ebenfalls gehörig merken lassen.
Mit fünf Jahren ist seine Kindheit zu Ende. Aber keine Jugend hat danach mehr Raum; die mit dem Schulbesuch (1848–1856) sichtbar werdende Lernbegabung verleitet den Vater zu nebulosen Zukunftsplänen, hinter deren wütendem Betreiben das Bewußtsein des eigenen Versagens zum Schweigen kommen soll: zum unsinnigsten Vielwissen wird der Junge genötigt. Alles bei Pfarrer und Rektor nur Greifbare muß schwarz auf weiß besessen werden; der konfuse Bildungsbegriff des Vaters verlangt förmlich kulihafte Demonstrationen: ganze Kompanien von alten Gebetbüchern, Rechenfibeln, antiquierten Naturgeschichten muß der Junge wahllos abschreiben. Die Reaktion mag schon damals unter der Schwelle sich eingestellt haben: durchsichtiger zumindest wird, warum sein Umgang mit dem Wissen (zu schweigen von ›den Wissenschaften‹) zeitlebens dilettantisch blieb und nie die Heftigkeit des Kennverlangens erreichte, die den eigentlichen Autodidakten bezeichnet. Gefördert wird auch die musikalische Begabung: Orgel-, Geigen- und Klavierspiel bringt der Kantor bei, dazu das Handwerkliche des Tonsatzes. Die Texte der alten Kirchengesänge machen lateinischen Unterricht wünschenswert; und als wieder einmal ein Auswandererzug die Elendsgegend verlassen will, um ›drüben‹ die bessere Zukunft aufzusuchen, stellt sich die Gelegenheit fürs Englische ein (das May freilich, wie die sämtlichen vierzig Sprachen, deren er sich später rühmte, nur in den Anfangsgründen beherrschte); Französisch kommt gleichzeitig (nur wenig besser fundiert) hinzu. Und was sich bei diesem Wust noch an freien Viertelstunden und Sonntagspausen hatte erübrigen lassen, fällt schließlich dem letzten, verderblichen Unfug zum Opfer, den der Vater sich einfallen läßt oder zumindest duldet: als für die Hohensteiner Schankwirtschaft Engelhardt ein Kegelaufsetzer gesucht wird, gerät der Junge, eben 12 Jahre alt, für ganze Tageteile in den Dunstkreis der dörflichen Biertischbürger, und wie er, von abgestandenen Resten geistiger Getränke animiert, labil und ahnungslos den um so weniger geistigen Tagestratsch in sich aufnimmt, so ist er auch ahnungslos dem zweiten Gift ausgeliefert, das ihn durchsetzt: der Hintertreppenbücherei der Kneipe, deren Schund ihm Rechts- und Wirklichkeitsgefühl verzerrt: wo die Not am höchsten, ist Rinaldo Rinaldini am nächsten: und so macht sich der Junge eines Tages auf, um ›in Spanien‹ bei einem der Edlen Räuber Hilfe zu holen … Für lange Jahre hat ihn so der Kitsch infiziert.
Die Rectoratsschule verläßt Karl May mit dem Zeugnis »Wissenschaften II; Sittliches Verhalten I«; das Elternhaus, die Vater-Stadt verläßt er so gut wie ohne jede innere Festigung. Töricht bliebe der bisweilen unternommene Versuch, die 14 bizarre Jahre lang genossene Erziehung zu bagatellisieren: was aus ihr erwächst, aus einer Serie banaler Unfälle, wird zu einem Monstrum von Fall – und konsequent noch in jedem gedunsenen Detail. Zu suchen, wenn auch nicht gleich heimzusuchen: wären die Sünden des Kindes bei und an den Vätern, und nicht nur bis ins dritte und vierte Glied …
Kapitel II
Waldenburg und anderswo
Die ganzen zwanzig Jahre Folgezeit, der zeitlupig zäh dauernde Sturz in den Maelstrom ›des Lebens‹, das den allzu unzulänglich präparierten Armen weidlich schuldig werden läßt, warten noch immer auf eine Spezialarbeit[1], die sie – und mit ihnen ein Bündel bloßer bunter Gerüchte – zuvorderst einmal schlicht faktisch aufzuklären hätte. Und wenn sie auch so kompliziert nicht sind, daß man dafür, wie May es später wollte, nun gleich nur die Fach-Psychiatrie anrufen müßte, so bleiben doch die zu ihrer Erklärung nötigen Wege verwickelt und weitläufig genug; im enger beschränkenden Rahmen dieser Darstellung würden sie einfach zu weit führen. Zwischen der wechselseitig geübten Beschönigung und schäumender Aufbauschung irgendeine milde Mitte zu suchen, wie es diesen und jenen Lesern (besonders jenen) wohlgefällig wäre, ist bloßer Verlust, und nicht nur von Zeit; – ein Datenreferat statt dessen, kurz, und trocken vertrackt, wäre vorzuziehen: facts on file. So unbedingt dramatisch hat sich gar nicht aufzuführen, was Furcht und Mitleid reichlich genug erwecken kann …
Zu Ostern 1856 (23.3.) wird May konfirmiert: »Halte an dem Vorbilde der heilsamen Worte, die du von mir gehört hast …«[2] lautet der Spruch, den man ihm ›auf den Weg‹ gibt; in dieser Gemeinde hat er Heilsames vergleichsweise nicht eben viel gehört. Der Berufswahl setzen sich nach wie vor die Grenzen der materiellen Not; zum offenbar erwünschten Medizinstudium reicht es nicht; so soll er Lehrer werden. Der Pfarrer erwirkt beim Kirchenpatron, dem Grafen von Hinterglauchau, eine jährliche Unterstützung von 15 Talern[3]: ein winziger Zuschuß zu dem, was die Familie erhungern muß. Im Seminar Waldenburg besteht May die Aufnahmeprüfung; zu Michaelis (29.9.) 1856 wird er dort als Proseminarist offiziell aufgenommen; und zu Michaelis 57 dann beginnt die Zeit, in der unter den üblich anderen auch die ersten schlimmen Lehren auf ihn warten. Daß er die Entfernung vom häuslichen Herde und der daneben hängenden väterlichen Zuchtrute als Befreiung sieht, kann auch die steife Anstaltsdisziplin nicht dämpfen; so ist er wohl gleich zu Anfang ein bißchen mehr Mensch, als er’s nach Meinung der hohen Direktion hier sein sollte: etwas zu rasch vollzieht sich das Erwachen der lange geduckten, voller Mucken steckenden kleinen Person: