Charles Dickens

David Copperfield


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und den drei Pfau­en­fe­dern über dem Ka­min­sims. Gleich, als ich ein­ge­tre­ten war, hät­te ich ger­ne ge­wusst, was sich wohl der Pfau ge­dacht ha­ben wür­de, wenn er ge­ahnt hät­te, was aus sei­nem Fe­der­schmuck noch ein­mal wer­den soll­te.

      Das Bild ver­schwimmt lang­sam in Ne­bel, und ich ni­cke und schla­fe. Die Flö­te wird un­hör­bar, und ich höre statt des­sen die Rä­der der Post­kut­sche und bin wie­der auf Rei­sen. Der Wa­gen stößt, ich wa­che mit ei­nem Ruck auf, und die Flö­te ist wie­der da, und der Schul­meis­ter von Sa­lem­haus sitzt mit ver­schlung­nen Bei­nen da und bläst kläg­lich, wäh­rend die alte Frau ver­zückt vor sich hin­schaut. Sie zer­geht wie­der in Ne­bel und er zer­geht und al­les zer­geht, es ist kei­ne Flö­te mehr da, kein Sa­lem­haus, kein Da­vid Cop­per­field, son­dern nichts als tiefer, fes­ter Schlaf.

      Ich träum­te, kam mir vor, dass die alte Frau in ih­rer Ver­zückung im­mer nä­her und nä­her zu ihm ge­kom­men sei, dicht hin­ter sei­nen Stuhl, und den Arm zärt­lich um sei­nen Hals schlän­ge, was dem Flö­te­bla­sen für einen Au­gen­blick ein Ende mach­te. In die­ser Pau­se hör­te ich in ei­nem Zu­stand von Halb­schlaf die alte Frau Mrs. Fib­bit­son fra­gen, ob es nicht köst­lich sei, wor­auf Mrs. Fib­bit­son ant­wor­te­te, »Ei­jei ja« und dem Feu­er zu­nick­te, dem sie wahr­schein­lich die Ent­ste­hung der Mu­sik zu­schrieb. Ich muss ziem­lich lan­ge ge­schla­fen ha­ben. Der Schul­meis­ter von Sa­lem­haus schraub­te schließ­lich sei­ne Flö­te wie­der in drei Stücke aus­ein­an­der, steck­te sie wie­der ein und führ­te mich fort. Der Om­ni­bus stand nicht weit, und wir stie­gen auf das Dach. Ich war fest ein­ge­schla­fen, als wir un­ter­wegs ein­mal an­hiel­ten und man mich in­nen sit­zen hieß, weil kei­ne Pas­sa­gie­re mehr drin wa­ren. End­lich fuhr der Wa­gen un­ter ei­nem grü­nen Laub­dach im Schritt einen stei­len Hü­gel hin­an. Dann hielt er und wir be­fan­den uns am Ziel.

      We­ni­ge Schrit­te brach­ten den Schul­meis­ter und mich an das Sa­lem­haus, das, von ei­ner ho­hen Zie­gel­mau­er um­ge­ben, sehr öde aus­sah. Über der Tür hing ein Brett mit der In­schrift »Sa­lem­haus«, und durch ein Git­ter­fens­ter in der Tür mus­ter­te uns, nach­dem wir ge­klin­gelt hat­ten, ein mür­ri­sches Ge­sicht, das, wie ich nach dem Öff­nen der Türe sah, ei­nem di­cken Mann mit ei­nem Stier­nacken, ei­nem höl­zer­nen Bein, her­vor­ste­hen­den Schlä­fen und gleich­mä­ßig um den gan­zen Kopf ver­schnit­te­nen Haa­ren ge­hör­te.

      »Der neue Jun­ge«, sag­te der Leh­rer.

      Der Mann mit dem Holz­bein mus­ter­te mich von oben bis un­ten, wozu er sehr lan­ge brauch­te, schloss die Türe hin­ter uns und zog den Schlüs­sel ab. Wir gin­gen un­ter ein paar großen Bäu­men auf das Haus zu, als er den Schul­meis­ter zu­rück­rief:

      »Hal­lo.«

      Wir sa­hen uns um, und der Mann stand in der Tür des Pfört­ner­hau­ses und hielt ein paar Stie­fel in der Hand: »He! Der Schuh­fli­cker war da und sag­te, er kön­ne sie nicht mehr fli­cken. Er sag­te, es wäre kein Stück mehr ganz, – er möch­te ger­ne wis­sen, was Sie ei­gent­lich woll­ten.«

      Mit die­sen Wor­ten warf er die Stie­fel Mr. Mell – so hieß der Leh­rer vor die Füße, und die­ser hob sie auf und be­trach­te­te sie mit be­trüb­tem Blick, als wir wei­ter­gin­gen. Ich be­merk­te jetzt zum ers­ten Mal, dass sei­ne Schu­he sich in ei­nem sehr schlech­ten Zu­stand be­fan­den, und dass an ei­ner Stel­le der Strumpf her­vor­lug­te wie eine Knos­pe.

      Sa­lem­haus, ein vier­e­cki­ges Ge­bäu­de aus ro­ten Zie­geln mit ei­nem Flü­gel auf je­der Sei­te, sah öde und leer aus. Über­all war es so to­ten­still, dass ich zu Mr. Mell sag­te, die Schü­ler sei­en wohl aus­ge­gan­gen. Er schi­en sich zu wun­dern, dass ich nicht wuss­te, dass jetzt in den Fe­ri­en alle Schü­ler nach Haus ge­reist wä­ren. Mr. Cre­akle, der Ei­gen­tü­mer, so­wie Mrs. und Miss Cre­akle be­fän­den sich im See­bad, und man habe mich zur Stra­fe für mei­ne Mis­se­tat wäh­rend der Fe­ri­en hier­her­ge­schickt.

      Die Schul­stu­be er­schi­en mir als der un­ge­müt­lichs­te und trau­rigs­te Ort, der mir je­mals vor­ge­kom­men. Ein lan­ges Zim­mer mit drei lan­gen Rei­hen Pul­ten und sechs Rei­hen Bän­ken und rund­her­um Ha­ken zum Auf­hän­gen der Hüte und Schie­fer­ta­feln. Aus­ge­ris­se­ne Blät­ter aus al­ten Schreib- und Lehr­bü­chern la­gen auf dem schmut­zi­gen Bo­den ver­streut. Ei­ni­ge Kä­fer­häus­chen aus dem­sel­ben Ma­te­ri­al la­gen auf den Pul­ten, zwei elen­de, klei­ne, wei­ße Mäu­se mit ro­ten Au­gen, von ih­ren Be­sit­zern zu­rück­ge­las­sen, lie­fen in ih­ren klei­nen Kä­fi­gen hin und her und schnup­per­ten in den Ecken nach Nah­rung her­um. Ein Vo­gel in ei­nem Bau­er hüpf­te trau­rig auf und nie­der, sang und zwit­scher­te aber nicht. Das gan­ze Zim­mer durch­drang ein merk­wür­di­ger, dump­fer Ge­ruch, wie von schimm­li­gem Tuch, fau­len Äp­feln und mod­ri­gen Bü­chern. Wenn das Haus von An­fang an dach­los ge­we­sen wäre, und der Him­mel hät­te das gan­ze Jahr hin­durch Tin­te ge­reg­net, ge­ha­gelt, ge­schneit und ge­stürmt, hät­te die Stu­be nicht ver­spritz­ter sein kön­nen. Mr. Mell hat­te mich al­lein ge­las­sen, wäh­rend er sei­ne un­flick­ba­ren Stie­fel hin­auf­trug, und ich ging un­ter­des­sen lei­se an das an­de­re Ende des Zim­mers. Als ich an den Tisch des Leh­rers kam, fand ich einen Pap­pen­de­ckel mit der schön ge­schrieb­nen In­schrift: »Acht ge­ben. Er beißt.«

      Ich klet­ter­te un­ver­züg­lich auf das Pult hin­auf, denn ich fürch­te­te, es sei un­ten ein großer Hund ver­steckt. So vor­sich­tig ich mich auch um­sah, konn­te ich doch nichts ent­de­cken. Ich blick­te im­mer noch mit ängst­li­chen Au­gen um­her, als Mr. Mell zu­rück­kam und mich frag­te, was ich da oben ma­che.

      »Ich bit­te um Ver­zei­hung, Sir. Ich su­che den Hund.«

      »Hund?« frag­te er. »Wel­chen Hund?«

      »Es ist kein Hund da, Sir?«

      »Was für ein Hund denn?«

      »Vor dem man sich in acht neh­men soll, weil er beißt.«

      »Nein, Cop­per­field«, sag­te der Leh­rer ernst, »das ist kein Hund, das ist ein Kna­be. Ich habe den Be­fehl, Cop­per­field, die­sen Zet­tel auf dei­nem Rücken zu be­fes­ti­gen. Es tut mir leid, dass ich so mit dir an­fan­gen muss, aber ich muss es tun.«

      Da­mit zog er mich vom Pul­te her­un­ter und band mir das zu die­sem Zweck sinn­reich vor­be­rei­te­te Pla­kat wie einen Tor­nis­ter auf den Rücken, und von nun an hat­te ich den Trost, es, wo ich ging, mit mir her­um­tra­gen zu müs­sen.

      Was ich un­ter die­sem Pla­kat zu lei­den hat­te, kann sich nie­mand vor­stel­len. Ob mich je­mand se­hen konn­te oder nicht, im­mer bil­de­te ich mir ein, je­der müss­te es le­sen. Es war mir kei­ne Er­leich­te­rung, wenn ich mich um­dreh­te und nie­mand da war; ich konn­te den Ge­dan­ken nie los wer­den, im­mer je­mand hin­ter mei­nem Rücken ste­hen zu wis­sen. Der grau­sa­me Mensch mit dem Holz­bein ver­mehr­te noch mei­ne Lei­den. Er hat­te zu be­feh­len, und wenn er sah, dass ich mich an einen Baum oder an eine Wand oder an das Haus lehn­te, brüll­te er mir aus sei­nem Häu­schen zu: »Heda, Cop­per­field! Lass nur das Ehren­zei­chen se­hen oder ich zeig dich an.«

      Der Spiel­platz war ein kah­ler, mit Sand be­streu­ter Hof vor den Fens­tern der Kü­che und Ge­sin­de­stu­be, und ich wuss­te, dass die Die­ner­schaft, der Flei­scher und der Bä­cker den Zet­tel la­sen. Mit ei­nem Wort, wer früh, wenn ich auf dem Spiel­platz sein muss­te, im Hau­se kam oder ging, muss­te le­sen, dass man sich vor mir in acht zu neh­men hät­te,