Charles Dickens

David Copperfield


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stel­len, als ob er sich ent­setz­lich vor mir fürch­te­te. Von ei­nem drit­ten, Ge­or­ge Dem­ple, glaub­te ich, er wer­de die In­schrift sin­gen.

      Ich, das klei­ne, ein­ge­schüch­ter­te Ge­schöpf, hat­te so oft die Tür an­ge­se­hen, bis die Trä­ger al­ler die­ser Na­men – wie mir Mr. Mell sag­te, wa­ren fünf­und­vier­zig Schü­ler da – mich auf all­ge­mei­nen Be­schluss in Ver­ruf zu tun schie­nen, wo­bei je­der in sei­ner eig­nen Wei­se aus­rief: »Acht ge­ben! Er beißt.« Eben­so ver­hielt es sich mit den Plät­zen vor dem Pul­te und den Bän­ken. Eben­so mit den Rei­hen ver­lass­ner Bett­stel­len, wenn ich aus mei­nem La­ger her­aus einen Blick auf sie warf. Ich er­in­ne­re mich, dass ich eine Nacht nach der an­de­ren träum­te, ich sei wie­der bei mei­ner Mut­ter, wie frü­her, oder auf Be­such bei Mr. Peg­got­ty oder rei­se als Au­ßen­pas­sa­gier mit der Post­kut­sche oder spei­se wie­der mit mei­nem un­glück­li­chen Freun­de, dem Kell­ner, und über­all wun­der­ten sich die Leu­te, wenn sie be­merk­ten, dass ich nichts an­hat­te als mein klei­nes Nacht­hemd und das Pla­kat auf dem Rücken.

      In der Ein­för­mig­keit mei­nes Le­bens und in be­stän­di­ger Furcht vor dem Schul­be­ginn be­rei­te­te es mir un­er­träg­li­che Lei­den. Ich hat­te je­den Tag lan­ge Lek­tio­nen bei Mr. Mell, da aber Mr. und Miss Murd­sto­ne nicht an­we­send wa­ren, kam ich gut weg. Vor- und nach­her muss­te ich spa­zie­ren­ge­hen, über­wacht von dem Mann mit dem Holz­bein. Wie leb­haft ich mich an die Feuch­tig­keit rings ums Haus er­in­ne­re, an die grü­nen, zer­sprung­nen Stei­ne im Hof, das alte le­cke Was­ser­fass und die ver­wasch­nen Stäm­me der düs­tern Bäu­me, die mehr als an­de­re Ge­wäch­se im Re­gen ge­tröp­felt und we­ni­ger in der Son­ne ge­blüht zu ha­ben schie­nen. Um ein Uhr aßen wir zu Mit­tag, Mr. Mell und ich, an dem obe­ren Ende ei­nes lan­gen kah­len Ess­zim­mers, das voll war von höl­zer­nen Ti­schen und stark nach Fett roch. Dann ar­bei­te­ten wir wie­der bis zum Tee, den Mr. Mell aus ei­ner blau­en Tas­se und ich aus ei­nem Zinn­topf tran­ken. Den gan­zen Tag lang bis abends sie­ben oder acht war Mr. Mell an­ge­strengt an sei­nem be­son­dern Pult im Schul­zim­mer mit Fe­der, Tin­te, Li­ne­al, Bü­chern und Schreib­pa­pier be­schäf­tigt. Er zog die Rech­nun­gen aus für das ver­gan­ge­ne hal­be Jahr. Wenn er sei­ne Sa­chen für die Nacht auf­ge­räumt hat­te, zog er sei­ne Flö­te her­vor und blies, bis ich glaub­te, er müss­te all­mäh­lich sein gan­zes Ich am obe­ren Ende hin­ein­ge­bla­sen und sich durch die Klap­pen ver­flüch­tigt ha­ben.

      Ich stel­le mir mein eig­nes klei­nes Ich vor, wie ich in dem schwach er­hell­ten Zim­mer, den Kopf in die Hand ge­stützt, sit­ze und der kläg­li­chen Mu­sik Mr. Mells zu­hö­re und die Auf­ga­ben für den nächs­ten Tag ler­ne. Ich sehe mich, wie ich die Bü­cher weg­ge­legt habe und im­mer noch den kläg­li­chen Me­lo­di­en Mr. Mells lau­sche, und ich höre dar­in, was mir frü­her das müt­ter­li­che Haus war, höre den Wind we­hen über die Dü­nen von Yar­mouth und füh­le mich be­drückt und ein­sam. Ich sehe, wie ich zu Bet­te gehe in dem un­gast­li­chen Zim­mer und mich auf das Bett set­ze und mich mit Trä­nen nach ei­nem trös­ten­den Wort von Peg­got­ty seh­ne. Ich sehe mich, wie ich früh die Trep­pe her­un­ter­kom­me und durch ein Gang­fens­ter auf dem Da­che ei­nes Häu­schens drau­ßen die große Schul­glo­cke be­trach­te mit ei­ner Wet­ter­fah­ne dar­über, und wie ich mich vor der Zeit fürch­te, wo sie J. Steer­forth und die üb­ri­gen zur Ar­beit ru­fen wird, was an Schreck­lich­keit nur von dem Zeit­punkt über­trof­fen wird, wo der Mann mit dem Holz­bein das ros­ti­ge Tor auf­schlie­ßen und den furcht­ba­ren Mr. Cre­akle ein­las­sen wird. Ich glau­be nicht, dass ich in mei­ner Fan­ta­sie mir ge­fähr­lich vor­kam, aber ich trug doch die War­nung auf dem Rücken!

      Mr. Mell sprach nie­mals viel mit mir, aber er war nie­mals rau ge­gen mich. Ich glau­be, wir leis­te­ten ein­an­der gute Ge­sell­schaft, auch ohne mit­ein­an­der zu spre­chen. Manch­mal re­de­te er mit sich selbst, lach­te vor sich hin, ball­te die Faust, knirsch­te mit den Zäh­nen und rauf­te sich die Haa­re in gar nicht zu schil­dern­der Wei­se. Er hat­te nun ein­mal die­se Ei­gen­tüm­lich­kei­ten. Erst flö­ßten sie mir Furcht ein, aber bald ge­wöhn­te ich mich dar­an.

      So hat­te ich un­ge­fähr einen Mo­nat ge­lebt, als der Mann mit dem höl­zer­nen Bein mit dem Be­sen und dem Was­serei­mer her­um­zu­hum­peln be­gann, wor­aus ich schloss, dass man sich auf den Empfang Mr. Cre­akles und der Schü­ler vor­be­rei­te­te. Ich hat­te mich nicht ge­irrt. Es dau­er­te nicht lan­ge, so kam der Be­sen in die Schul­stu­be und ver­dräng­te Mr. Mell und mich. Ein paar Tage lang muss­ten wir uns im gan­zen Hau­se her­um­drücken und wa­ren be­stän­dig zwei oder drei Mäd­chen, die ich vor­her nie ge­se­hen hat­te, im Wege und fort­wäh­rend so in Staub gehüllt, dass ich im­mer­fort nie­sen muss­te, als ob Sa­lem­haus eine ein­zi­ge große Schnupf­ta­baks­do­se ge­we­sen wäre.

      Ei­nes Ta­ges sag­te mir Mr. Mell, dass Mr. Cre­akle abends an­kom­men wer­de. Nach dem Tee hör­te ich, dass er da war. Vor dem Schla­fen­ge­hen hol­te mich der Mann mit dem höl­zer­nen Bein zu ihm. Mr. Cre­akles Teil des Hau­ses sah viel an­ge­neh­mer aus als der un­se­re, hat­te einen klei­nen Gar­ten, der sich sehr hübsch aus­nahm ver­gli­chen mit dem stau­bi­gen Spiel­platz, der so sehr eine Wüs­te in Mi­nia­tur war, dass sich bloß ein Ka­mel oder ein Dro­me­dar dar­in hät­te wohl füh­len kön­nen. Ich ge­trau­te mich kaum, al­les das an­zu­bli­cken, als ich zit­ternd durch­ging. Ich war so ver­schüch­tert, dass ich kaum Mrs. Cre­akle oder Miss Cre­akle be­merk­te oder über­haupt et­was an­de­res sah als Mr. Cre­akle, einen di­cken Herrn mit ei­ner mäch­ti­gen Uhr­ket­te und Ber­lo­ques dar­an, der in ei­nem Lehn­stuhl saß und Glas und Fla­sche ne­ben sich ste­hen hät­te.

      »So«; sag­te Mr. Cre­akle, »das ist also der jun­ge Herr, dem die Zäh­ne ab­ge­feilt wer­den müs­sen! Dreh ihn um.«

      Der Mann mit dem höl­zer­nen Bein dreh­te mich um und zeig­te das Pla­kat. Dann, als Mr. Cre­akle es ge­le­sen, dreh­te er ihm wie­der mein Ge­sicht zu und stell­te mich ne­ben ihn. Mr. Cre­akles Ge­sicht glüh­te förm­lich, und sei­ne klei­nen Au­gen la­gen tief im Kopf. Er hat­te di­cke Adern auf der Stirn, eine klei­ne Nase, ein großes Kinn, eine Glat­ze und spär­li­ches, feucht aus­se­hen­des Haar, das an­fing, grau zu wer­den, und so von den Schlä­fen nach oben ge­bürs­tet war, dass sich die En­den auf dem Schei­tel be­geg­ne­ten. Was mir am meis­ten auf­fiel, war, dass er mit flüs­tern­der Stim­me sprach. Die An­stren­gung, die ihn das kos­te­te, oder das Be­wusst­sein, nicht lau­ter re­den zu kön­nen, mach­ten sein zor­ni­ges Ge­sicht noch zor­ni­ger, und die di­cken Adern noch di­cker beim Spre­chen, so­dass ich mich nicht wun­de­re, wenn die­ser Zug sei­nes Äu­ßern am le­ben­digs­ten in mei­ner Erin­ne­rung fort­lebt.

      »Was ist von dem Kna­ben zu mel­den?« frag­te er.

      »Es liegt noch nichts ge­gen ihn vor«, er­wi­der­te der Mann mit dem Stelz­fuß. »Es hat sich noch kei­ne Ge­le­gen­heit er­ge­ben.«

      Mr. Cre­akle schi­en ent­täuscht zu sein. Mrs. und Miss Cre­akle hin­ge­gen, die ich jetzt zum ers­ten Mal an­sah, und die bei­de ha­ger und dünn wa­ren, durch­aus nicht.

      »Komm her«, sag­te Mr. Cre­akle und wink­te mir.

      »Komm her«, sag­te der Mann mit dem Stelz­fuß und wie­der­hol­te die Ge­bär­de.

      »Ich habe das Glück, dei­nen Stief­va­ter zu ken­nen«, flüs­ter­te Mr. Cre­akle und nahm mich beim Ohr. »Er ist