Um vierzehn Uhr einundzwanzig parkte Monika auf dem bereits überfüllten Parkplatz vor dem Kindergarten. Sie gehörte meist zu denen, die auf die letzte Sekunde kamen. Die ersten waren die Supermuttis, wie Monika sie in Gedanken nannte. Einige von ihnen arbeiteten nicht, weil sie sich, wie sie bei einem Gespräch angegeben hatten, in den ersten Jahren vollkommen auf ihre Kinder konzentrieren wollten. Monika war der leise Vorwurf in Stimme und Blick nicht entgangen. Ja, sie fühlte sich manchmal schlecht, weil sie bereits ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes wieder arbeiten gegangen war. Doch noch einmal hatte sie nicht in eine solche Depression rutschen wollen, wie nach der Geburt ihrer Tochter. Es war Monika sehr schwergefallen, ihren Job zu pausieren und plötzlich nur Hausfrau und Mutter zu sein. Zwar hätte sie nicht arbeiten gehen müssen, da ihr Mann genug verdiente, doch nur zu Hause zu sein war nichts für sie. Beim zweiten Kind hatte sie sich getraut, mehr an sich zu denken. Sie wollte sich ein Stück Unabhängigkeit bewahren. Soweit dies möglich war.
Monika wartete im Auto, bis der Großteil der Mütter im Kindergarten verschwunden war. Nach Sprüchen oder auch nur nach verachtenden Blicken der Supermuttis war ihr heute nicht zumute. Am liebsten hätte sie sich eine kuschelig-warme Decke geschnappt und sich darunter verkrochen. Doch die Show musste weitergehen. Als Mutter durfte sie ihren Gefühlen nicht mal eben freien Lauf lassen.
Um Punkt halb drei stieg Monika aus dem Auto und betrat den Kindergarten. Aus verschiedenen Räumen drangen Kinderstimmen. Vor Vergnügen kreischend. Lachend. Einige wütend oder schrill weinend. Monika bog um die Ecke, vorbei an der großen Holzmaus mit Sattel, auf der man wie auf einem Pferd reiten konnte, bis sie vor dem Raum der Mäusezähne angekommen war. Die Tür war geöffnet und einige Kinder begrüßten bereits ihre wartenden Mütter.
»Mama!« Constantin rannte aus dem Gruppenraum und fiel Monika, die bei seinem Anblick in die Hocke gegangen war, um den Hals. Er war ebenso rothaarig wie seine Mutter.
»Hallo mein Schatz, wie war dein Tag?« Monika drückte ihrem Vierjährigen einen Kuss auf die Wange. Noch freute er sich über körperliche Bezeugungen ihrer Mutterliebe. Monika war gespannt, wie lange es dauerte, bis er ihr eines Tages vorwarf: »Lass das! Was sollen denn meine Freunde denken?« Dass Kinder schnell älter wurden, sah sie an ihrer mittlerweile achtjährigen Tochter.
»Mein Tag war toll!«, sagte Constantin und lächelte Monika an. In solchen Momenten vergaß sie, dass er ein ziemlicher Dickkopf sein konnte. Typisch Widder!
»Was habt ihr Schönes gemacht?«
»Wir haben Heidelbeeren im Garten gepflückt. Jonas hat mir eine gemopst, aber ich habe ihn nicht gehauen!« Constantin schaute seine Mutter an, als erwartete er einen Begeisterungstaumel.
»Das ist gut, mein Schatz!« Constantins Drang, jedem, der ihm etwas wegnahm, zu hauen oder zu beißen, besserte sich allmählich.
Monika nahm Constantins Jacke vom Haken sowie den kleinen Rucksack mit Conni-Motiv. Ihren Sohn an der kleinen Patschehand gefasst, lief sie nach draußen.
»Tschüss, Maja!«, rief Constantin seiner Kindergartenfreundin zu, die bereits von ihrer Mutter im Kindersitz des Autos angeschnallt wurde. Monika winkte kurz, ehe sie den Fiat Panda aufschloss, um Constantin sowie Rucksack und Jacke im Auto zu verstauen. Die Fahrt nach Hause wurde von einem Conni-Hörspiel begleitet. Seitdem Monika ihrem Sohn vor geraumer Zeit eine Geschichte mit der blonden Kinderbuchfigur vorgelesen hatte, war Constantin absoluter Fan. Monika hätte lieber weiterhin Radio oder eine ihrer CDs von Michelle gehört, doch wie sonst auch gab sie den Wünschen ihres kleinen Sohnes den Vorzug. Heute war sie froh, dass Constantins Geplapper und die Erzählstimme, die aus den Lautsprechern drang, sie ablenkten und das Zittern ihrer Hände allmählich schwächer wurde.
Monika fuhr in einen Kreisel und nahm die erste Ausfahrt. Neider hätten diese Gegend als Bonzenecke betitelt. Und tatsächlich sagten die Häuser hier vor allem eines aus: Unsere Besitzer haben Geld! Viel Geld!
So auch das Haus, in dem Monika lebte. Es war weiß mit dunkelblau gedecktem Dach. Die Haustür wurde von zwei Säulen eingerahmt, die einen Balkon stützten. Der große Garten lag in Richtung der Straße, wurde jedoch von einer Thuja-Hecke und einem hohen Metallzaun mit geschwungenen Bögen eingerahmt, sodass es vorbeigehenden Leute schwer gemacht wurde, einen Blick auf die spielenden Kinder oder das Geschehen der sommerlichen Grillparty zu werfen. Die lange Einfahrt des Einfamilienhauses in der Elisenstraße, in deren Boden Lampen eingelassen waren, war noch leer. Natürlich war Clemens noch nicht zu Hause.
»Machst du heute Waffeln, Mama?«
»Waffeln?« Monika strich sich eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte, hinters Ohr.
»Jaaa! Du hast gesagt, dass du mal wieder Waffeln backst!«
Wann hatte sie das gesagt? Monika konnte sich nicht erinnern, doch wenn Constantin das sagte, musste es wohl stimmen. Er vergaß so etwas nicht.
Monika stieg aus dem Auto und antwortete ihrem Sohn mit »Heute nicht, Schatz.«
»Ich will aber Waffeln!«
Typisch: Da dachte man, die Trotzphase sei überstanden und dann kam der altbekannte Ton, der Monika schon so einige Nerven geraubt hatte.
»Es gibt heute keine Waffeln«, sagte Monika so ruhig wie möglich.
Constantin schüttelte den Kopf. »Ich will Waffeln essen!« Kein Zweifel: Der Wutanfall stand in den Startlöchern. Während Monika ihren Sohn abschnallte, strampelte dieser mit den Füßen und schrie in gleichbleibendem Rhythmus: »Waffeln! Waffeln! Waffeln!«
»Es gibt keine Waffeln, Constantin. Ich kann dir einen Obstsalat machen. Und heute Abend, wenn Papa da ist, gibt es Spätzlepfanne mit Erbsen und Champignons.«
»Nein!«
Ruhig atmen!, sagte sich Monika. »Wir können morgen Waffeln machen. Am Freitag. Bis dahin ist es nicht mehr lange.«
Einen Flunsch ziehend kletterte Constantin aus dem Kindersitz. »Aber dann machst du ganz, ganz viele Waffeln, ja?«
Monika nickte, nahm Jacke und Rucksack von der Rückbank und schloss die Haustür auf. Der Geruch des Aprikosenraumsprays, das alle paar Minuten automatisch seinen Duft aussprühte, zog ihr in die Nase. Das Haus war schön, keine Frage. Doch trotz der vielen persönlichen Fotos an der Wand strahlte es für Monika schon lange nicht mehr die Geborgenheit aus, die ein Haus für sie zum Zuhause machte.
Während Monika auf der großen Arbeitsplatte der bordeauxfarbenen Küche Champignons schnippelte und Wasser für die Spätzle aufsetzte, war Constantin die Treppe hochgegangen und zum Spielen in sein Zimmer verschwunden.
Monika pfiff die Melodie von Vielleicht irgendwann von Juliane Werding. Wann war sie zum unglücklichen Klischee-Hausmütterchen verkommen? Zwar arbeitete sie, doch es brachte ihr nur kurzzeitig Ablenkung von der Tatsache, dass Monika ihr Leben schon lange nicht mehr selbst bestimmen konnte. Wie eine Marionette hatte sie sich nach den Dingen zu richten, die jeden Tag anfielen. Jeden Tag derselbe Ablauf: Aufstehen, sich selbst waschen und anziehen, die Kinder für Schule und Kindergarten fertigmachen, an die Brote denken, die Monika oft bereits am Abend zuvor zubereitete, dann Constantin wegbringen, während ihre Tochter in der Nähe des Hauses vom Schulbus eingesammelt wurde, anschließend die Arbeit. Und dann ging es weiter, ohne Pause. Kochen, Hausaufgaben kontrollieren, mit Constantin spielen oder ihn zu Kindergartenfreunden bringen, den Haushalt machen. Am späten Nachmittag oder frühen Abend Clemens mit einem liebevollen Lächeln empfangen und zu versuchen, nicht ganz so fertig auszusehen. Lange hatte sie ihre Wünsche nach mehr Aufregung, mehr Lust unterdrücken können. Monika löste die Spange, um ihre Haare zu ordnen und erneut hochzustecken. Sie gab die Spätzle aus dem Kühlschrank ins kochende Wasser und verschwand kurz auf der Toilette des geräumigen Badezimmers mit dem glänzenden Marmorboden im Erdgeschoss. Ein sehnsüchtiger Blick traf die weiße Eckbadewanne, auf deren Rand ein Tablett mit Vanille-Duftkerze, Badezusätzen und künstlichen weißen Rosen stand.
Nachher, sagte sich Monika und versuchte, die Stiche in ihrem Kopf zu verdrängen. Während sie den Urin fließen ließ, dachte sie an Frank. Sie war nicht bereit, noch mehr ihrer Nerven an einen Typen wie ihn zu verlieren! Sie wollte die nächste Woche abwarten