konnte.
Um kurz vor vier Uhr wurde die Haustür aufgeschlossen und Monikas Tochter Mariella betrat die Küche.
»Hallo Mami!«, sagte Mariella mit heller Stimme, die in Kontrast zu ihrem völlig schwarzen Outfit stand. Prinzessinnen und Pferde hatten Mariella noch nie interessiert. Stattdessen stand sie total auf Batman und interessierte sich brennend für Fledermäuse.
»Hallo, Schätzchen! Wie war die Schule?« Monika drückte ihrer Tochter einen Kuss auf ihr blondes Haar, in dem sich ein Stich Rot wiederfand.
»Gut«, antwortete Mariella. »Wir haben heute in Sachkunde gelernt, wie viele Tage die Monate haben.«
»Toll!«, gab Monika zur Antwort und goss die dampfenden Spätzle durch das Sieb. Anschließend bereitete sie aus zwei Bananen, einer Mango, einem grünen Apfel, zwei Mandarinen und drei Zwetschgen einen Obstsalat zu. Monika dachte an Mariellas Klassenlehrerin, die es nicht mehr lange bis zum Ruhestand hatte und entsprechend wenig Mühe darauf verwendete, den Kindern ordentlich etwas beizubringen.
Der Nachmittagssnack, den sie im Essbereich des Wohnzimmers einnahmen, verlief wie immer: Constantin, in seinem Kinderstuhl sitzend, hatte viel Redebedarf, während Monika am liebsten die ganze Zeit aus dem Fenster in den Garten gesehen und geschwiegen hätte. Mariella mäkelte rum, dass sie viel lieber Erdbeeren haben wollte, und aß nicht ein Stück Zwetschge von ihrem Teller. Nach dem Essen räumte Monika das Geschirr in die Spülmaschine und setzte sich dann zu ihrer Tochter an den Esszimmertisch, um ihr bei den Hausaufgaben zu helfen. Constantin holte seine Eisenbahn aus dem Zimmer, um im Wohnzimmer damit zu spielen. Mehrmals forderte Monika ihn auf, etwas leiser »Tuut-tuut-tuut!« zu machen, damit sich Mariella besser auf die Aufgaben in ihrem Rechenheft konzentrieren konnte. Und mehrmals antwortete Constantin: »Es muss sich echt anhören! Hast du schon mal einen leisen Zug gehört? Ich nicht!«
Kurz nach sieben ertönte erneut das Geräusch eines sich umdrehenden Schlüssels. Sogleich sprang Constantin vom schwarzen Teppich, der auf dem grau-weißen Laminat lag, auf, und lief zur Tür.
»Papaaa!«, hörte Monika ihren Jüngsten rufen.
Es dauerte nicht lange, dann betrat Clemens das ausgedehnte, in Weiß und Grau gehaltene Wohnzimmer. Monikas Ehemann war einen Meter sechsundneunzig groß, achtundvierzig Jahre alt und besaß breite Schultern, die nicht vom Trainieren, sondern von einem allgemein breiten Körperbau kamen. Sein Bauch hingegen war nicht angeboren, sondern ein Zeichen, dass er fettiges und fleischreiches Essen bevorzugte. Clemens´ Haare waren von einem Blond, das schwer erkennen ließ, dass der Farbton allmählich einem Grau wich. Clemens trug, wie an jedem Tag in der Woche, einen Anzug. Heute in einem unaufdringlichen Hellblau. Er begrüßte Monika mit einem »Hallo!« und gab ihren Lippen einen Kuss. Trocken wie die Zitrone, die Monika um die Adventszeit gekauft und dann vergessen hatte, zum Plätzchenbacken zu benutzen.
»Hallo Papa!«, rief Mariella und umarmte ihren Vater. Obwohl Clemens wenig Zeit mit seinen Kindern verbrachte, vergötterten sie ihn. Monika hatte dieses Phänomen nie verstanden. Sie schenkte ihren Kindern so viel Zeit und Energie wie möglich, und trotzdem war sie oft diejenige, die als »blöd« oder »gemein« betitelt wurde. Clemens setzte sich zu Monika und Mariella an den Esstisch, während Constantin sein Eisenbahnspiel nun zu Füßen seines Vaters weiterführte.
»Wie war dein Tag?«, fragte Monika. Es waren die üblichen Floskeln, die dafür sorgten, dass sie miteinander kommunizierten. Wieder zitterten Monikas Hände leicht. Hörte sie sich an, wie sonst auch oder nahm Clemens etwas in ihrem Ton wahr, das ihn misstrauisch werden ließ? Monika war keine gute Lügnerin und konnte Unehrlichkeit nicht ausstehen. Sie hätte sich am liebsten selbst dafür geohrfeigt, sich auf Frank eingelassen zu haben.
»Hätte besser sein können«, murrte Clemens. »Es läuft ganz und gar nicht gut, seitdem wir den neuen Vorstand haben. Nur sinnlose Änderungen! Lessner hat einiges versaubeutelt, das ist klar. Aber ich darf es nun wieder ausbügeln, indem ich sämtliche Produkte auf ihre Wirtschaftlichkeit überprüfe! Kosten sparen ist ja gut, aber dieser Neue übertreibt es maßlos! Wo man nicht mehr einsparen kann, geht es eben nicht! Und glaub mir, wir sind schon ganz vorne, wenn man sich die Bilanz unserer Mitstreiter ansieht!«
Monika hörte Clemens zu, der von seinem Tag berichtete. Hier und da nickte sie oder setzte an den passenden Stellen ein »Wirklich?« oder »Super!« ein. Nicht selten fühlte sie sich wie eine Laienschauspielerin, die ihren Text ganz passabel beherrschte. Aber für die große Bühne reichte es nicht.
»Wie war es bei dir?«, fragte Clemens. Jeden Tag dieselbe Frage. Und jeden Tag gab Monika dieselbe Antwort: »Gut.« Details ersparte sie Clemens. Seine Arbeit war trocken und kompliziert genug. Und von der Tatsache, dass Monika nun einen Auszubildenden hatte, wollte sie ihrem Mann nicht erzählen. Nicht heute. Sie wusste, würde sie Frank mit einem Wort erwähnen, würde sie sich verhaspeln oder rot werden oder sich sonst irgendwie verraten. Wenig später setzte Monika hinzu: »Hast du Hunger?«
Clemens nickte bejahend. Es war nicht selbstverständlich, dass er direkt nach der Arbeit etwas zu essen haben wollte. Oft aß er in einem Restaurant oder Imbiss zu Mittag. Monika rückte mit ihrem Stuhl nach hinten, um das vorbereitete Abendessen warm zu machen. Sie hatte ihren jetzigen Ehemann mit einundzwanzig Jahren kennengelernt. Damals hatte Ira, Monikas beste Freundin, noch in der Stadt und nicht weit weg in Salzburg gewohnt und die beiden auf ihrem Geburtstag miteinander bekannt gemacht. Nun waren Monika und Clemens bereits seit elf Jahren verheiratet. Und, so sehr es Monika auch bedrückte, dies zuzugeben, das Wahre war die Beziehung schon lange nicht mehr. Sie trafen Absprachen, was die Erziehung ihrer gemeinsamen Kinder betraf. Aber wirkliche Nähe, ob körperlich oder emotional, war mit der Zeit rar geworden. Nicht zuletzt durch Clemens´ Affäre mit der neuen Buchhalterin, die im letzten Frühling Thema gewesen war. Monika war nicht mehr wütend darüber. Aber die Traurigkeit, dass er mit einer anderen Frau in diesem Zeitraum mehr Sex als mit ihr gehabt hatte, war noch immer da. Doch das mit dem Sex war nicht das Schlimmste: Hatte er der anderen Frau womöglich mehr von seinen Gedanken und Sorgen anvertraut als ihr? Manchmal kam es Monika so vor, als würde sie ihren eigenen Mann nicht mehr kennen. Hatten sie sich auseinandergelebt, wie vor ihnen schon so viele Paare? Sie hatten genau zwei Themen, die immer wieder an der Tagesordnung waren: Kinder und Arbeit. Ab und zu kamen solche nebensächlichen Fragen wie Ist morgen Papiermüll dran? oder Kam letzten Sonntag eigentlich wieder die Zeitung? zur Sprache.
»Dafür hast du einen gut!«, hatte Clemens zu Monika gesagt, als sie – wie klischeehaft! – Lippenstiftspuren am Kragen seines weißen Hemdes gefunden hatte. Nun hatte sie ihren Freifahrtsschein eingelöst. Unverhofft. Und mit dem miesen Beigeschmack des schlechten Gewissens, das mehr und mehr Platz in ihrem Kopf einnahm. Stimmte es, dass guter Sex in einer langjährigen Ehe meist Mangelware war? Fiel ein Paar automatisch in die Alltagsfalle, wenn Kinder ins Leben traten? In kinderlosen Zeiten hatten Monika und Clemens zusammen lachen können, zu nächtlichen Stunden spontan Sex an ihrem Stammplatz am See gehabt und vor allem hatte Geld nicht ihr ganzes Leben dominiert. Clemens war keinen Mercedes CLS gefahren, sondern einen Opel Astra. Doch die Atmosphäre der guten Laune, die das alte Auto erfüllt hatte, war im Mercedes noch nie zu spüren gewesen.
Nachdem Monika ihrer Tochter eine Superheldinnen-Geschichte vorgelesen und ihrem Jüngsten das Lied Die Blümelein, sie schlafen vorgesungen hatte, brach nun die Zeit des Tages an, die Monika so sehr herbeigesehnt hatte. Freizeit. Entspannung. Abschalten. Bevor sie jedoch zum Ausklang des Tages in die Wanne stieg, wollte sie mit Clemens sprechen. Es war an der Zeit, etwas zu ändern. Ansonsten würde sie womöglich nicht stabil genug sein, um Frank ein weiteres Mal – zumindest halbwegs - zu widerstehen.
5. Erwartungen
Während Monika sich Clemens´ Arbeitszimmer im Erdgeschoss näherte, versuchte sie sich zu erinnern, wann sie sich das letzte Mal körperlich nah gewesen waren. Die beiläufigen Küsse zählte Monika nicht. Sie waren bloß eine andere Form des Begrüßungshandschlags. Clemens war ein Mann. Ihr Mann. Wann war es schwer geworden, als Frau einen Mann zu verführen?
»Na, was machst du?«, fragte Monika, als sie die Tür zum Arbeitszimmer geöffnet hatte. Mittelpunkt des Raumes war ein breiter Schreibtisch aus massivem Kiefernholz. An den Wänden standen