Группа авторов

Methoden der Theaterwissenschaft


Скачать книгу

dabei jedoch nicht auf formale und strukturelle Aspekte der Theater-Werke, sondern eher auf ein Re-enactment einer historischen Praxis, die performative kulturhistorische Rahmen und Prozesse materialisiert. Dieser Ansatz berücksichtigt, das Kunst, spezifische Theater und Performance, eine menschliche kulturelle Praxis ist, die unsere Denk- und Lebensweisen herausfordert. Wie Georg Bertram es formuliert:

      Durch Kunstwerke kommt es zu einer Herausforderung der Praktiken, die aufgrund dessen bestätigt oder verändert und dadurch erweitert werden. Für ein solches Verständnis ist es entscheidend, Kunst als eine reflexive Praxis zu verstehen: als eine Praxis, die sich auf andere Praktiken bezieht.1

      Auf diese Art interagiert Kunst, in unserem Falle Theater, mit den kulturhistorischen Rahmensetzungen. Theaterpraxen können uns Orientierung in unserem Leben geben, durch ästhetische Erfahrung reflektieren und verändern wir unser Denken und Handeln unter gegebenen kulturhistorischen Bedingungen2. Wir sollten dies jedoch nicht als eine simple pädagogische Formel betrachten – im Sinne von: Theater predigt Moral, also werden wir moralisch erbaut. Hingegen verstehen wir Theaterpraxen, in die wir involviert sind, wenn wir aufführen, teilnehmen, wahrnehmen, in Begriffen einer Performativität, die unsere Identitäten und Ideologien praktisch materialisiert.

      Was sind die Konsequenzen einer solchen Vorstellung von Theater und ästhetischer Erfahrung für das wissenschaftliche Streben nach mehr/anderem Wissen über historische Theaterpraxis? Wir müssen uns mit einer Reflexion der reflexiven Prozesse in der Kunstpraxis befassen, während wir erfahren, dass vergangene und aktuelle Konzepte und Erfahrungen von Theater sich ineinanderfügen und zugleich unsanft kollidieren. Was passiert in unseren Köpfen, wenn wir das Re-enactment historischer Theaterpraxis erleben?

      Eine Reflexion unseres eigenen ästhetischen Erlebens während wir an praktischen Experimenten und Aufführungen teilnehmen, operiert mindestens auf zwei Ebenen. Erstens, dehnen wir unser Denken aus, wir erfahren ein ‚Entlernen‘/‚Verlernen‘ unserer antrainierten Sicherheiten und gewinnen neues oder anderes Wissen. Die Historikerin erlebt hier ihr eigenes Körperwissen im Widerstreit oder in Verhandlung mit vergangenen Praxen und der historisierten Erfahrung. Zugleich entsteht so etwas wie ein Kantianisches ‚ästhetisches Vergnügen‘, wenn man sich selbst dabei erlebt, wie das Denken in Bewegung gebracht wird im Moment der ästhetischen Erfahrung: Ich bin froh, mich selbst dabei zu beobachten, wie sich neues Wissen durch sinnliche Erfahrung formt und anlagert.

      Auf einer zweiten Ebene, erfährt die Historikerin kognitiv und sinnlich die Historizität der wiederbelebten Praxis. Man versucht, Spuren historischer kultureller und epistemischer Praxen in der ästhetischen Erfahrung zu finden. Was war die historische Realität, die durch die historische Theaterpraxis materialisiert, bestätigt und auch erweitert wurde? Die empathisch historisierende Erfahrung erschafft eine Art von Fosterscher ‚Übereinstimmung zwischen Vergangenheit und Gegenwart‘, während sie verschiedene Dokumente, Quellen – hier muss man ‚ästhetische Erfahrungen‘ ergänzen – verhandelt und gegeneinander reibt.

      Die schwierigste Aufgabe einer solchen praxeologischen Theaterhistoriographie ist die Verbalisierung der Forschungsergebnisse, die wieder in einen akademischen Rahmen zurückgeführt werden müssen. Wie könnte man überhaupt darüber reden, schreiben?

      Aber natürlich werde ich den Versuch unternehmen, die praktische und ästhetische Erfahrung der Theaterhistoriographie zu konzeptualisieren. Hilfreich ist hier der Bezug auf einen Begriff von Praxeologie, also der Praxistheorie, wie er heute vor allen Dingen in der Soziologie verwendet wird, obgleich auch hier die Übertragung in die Theaterhistoriographie nicht unproblematisch ist.

      Praxeologie – Praxistheorie

      In den 1980er Jahren hat Andrzej Wirth bei der Konzeptionierung des Gießener Studiengangs „Angewandte Theaterwissenschaft“ ‚Praxeologie‘ als grundlegenden Ansatz eingeführt. In Bezugnahme auf seinen Lehrer, den polnischen Philosophen Tadeusz Kotarbinski, formulierte er ‚Praxeologie‘ als eine Methode, vom Raum der Theorie in den Raum der Praxis einzudringen, um die Theorie zu verifizieren, zu widerlegen oder aufzuheben.1 Diese prominente Stellung der Praxis als kritische Instanz gegenüber der Theorie steht allerdings in der Gefahr, das Wechselverhältnis zwischen beiden zu verkürzen. Der angewandten Theaterwissenschaft gelingt es jedoch sehr erfolgreich, dies zu balancieren.

      Es lohnt sich jedoch, nochmals auf die grundlegenden Parameter der ‚Praxeologie‘ zurückzugehen, die die Soziologie in Bezug auf Bourdieu und Giddens in jüngerer Zeit re-formuliert hat. In der Soziologie wird die praxeologische Perspektive immer auf die Genese von Gesellschaft bezogen. Dies kann für Theater nur in einem übertragenen Sinne gelten – ist aber insbesondere dann valide, wenn man für Theater eine kultursoziologische Grundannahme ansetzt. Hilmar Schäfer beschreibt den praxeologischen Praxisbegriff folgendermaßen:

      Praktiken sind das Tun, Sprechen, Fühlen und Denken, das wir notwendig mit anderen teilen. Dass wir es mit anderen gemeinsam haben, ist Voraussetzung dafür, dass wir die Welt verstehen, uns sinnvoll darin bewegen und handeln können. Praktiken bestehen bereits, bevor der/die Einzelne handelt, und ermöglichen dieses Handeln ebenso wie sie es struktureiern und einschränken. Sie werden nicht nur von uns ausgeführt, sie existieren auch um uns herum und historisch vor uns. Sie zirkulieren unabhängig von einzelnen Subjekten und sind dennoch davon abhängig, von ihnen aus- und aufgeführt zu werden.2

      Deutlich erkennt man die Anleihen an Konzepte wie ‚Performanz‘ oder ‚Performativität‘, wenn als Grundbedingungen sozialer Praxis Relationalität (Interaktion), Zeitlichkeit (Prozess), Körperlichkeit (inkorporiertes Wissen) und Materialität (Relevanz und Gebrauch von Artefakten) konstatiert werden.3 Im Einklang damit steht auch die Annahme, „dass Praktiken niemals essenzielle Quellen haben können“. Praxisformationen müssen „immer wieder aufs Neue von ereignishaften Praktiken materiell erzeugt werden“. In der Konsequenz lassen sich Praxisformationen „nur in actu als Materialisierungen von Praktiken verstehen, die per definitionem Ereignisse sind.“4

      Vergegenwärtigt man sich nun die Situation der historiographischen Theaterpraxis, so eröffnen die genannten Parameter – Relationalität, Zeitlichkeit, Körperlichkeit, Materialität – spezifische Reflexionsebenen. Relationalität wird auf zwei Ebenen relevant – der Jetztzeit der aktuellen Aufführung, bzw. Theaterpraxis, und der Vergangenheit, in der sich eine historische Praxis ereignete. Auf der historischen Ebene kommt der kulturhistorische und ästhetische Kontext ins Spiel, die Frage nach dem historischen Vorkommen, der Distribution und Erfahrbarkeit dieser Praxis. Auf der Jetztebene stellt sich diese Frage ebenso, gleichzeitig kann man die eigene und fremde Involviertheit in die Praxis reflektieren. Wer nimmt Teil und ermöglicht die Praxis, und welche Position nimmt er/sie dabei ein?

      Auch die Frage nach der Körperlichkeit verlangt eine reflexive Vermittlung zwischen jetzt und damals. Die uns heute zur Verfügung stehenden Sänger und Schauspieler operieren auf einer völlig anderen Basis von Körperwissen. Obgleich in historischer Praxis trainiert – sie beherrschen etwa Gesten-Regeln, die aus spezifischen Quellen zum Theater des 18. Jahrhunderts generiert werden – haben sie keinen natürlichen Zugang zu historischen Körperpraktiken. Das Gleiche gilt für die Betrachterin und Theaterhistorikerin. Meinen Sinnen ist das, was ich in der historiographischen Theaterpraxis erlebe, erst einmal fremd. Ich kann mich an die kodifizierten Gesten gewöhnen und dem Geschehen auf der Bühne eine Art von Lusterfahrung abringen – aber das ist durchaus harte Arbeit. Auf der anderen Seite kann ich aber auch diese Fremderfahrung als erfreulichen Gewinn auf der Erkenntnisebene verbuchen; man kann dem Kantianischen ästhetischen Urteil sozusagen bei der Körper-Arbeit zuschauen.5

      Zeitlichkeit und die Frage nach dem Prozess der Praxis und der beständigen Hervorbringung des Sozialen und auch des Ästhetischen wird in der historiographischen Theaterpraxis zu einer Reflexion über die grundsätzliche Historisierung des Ereignisses. Damit ist der einfache Übergang in die historische Aufführungssituation grundsätzlich verstellt, der Abstand zwischen beiden Zeitebenen bleibt offen und erzeugt ein Spannungsverhältnis. Behält man konsequent den Standpunkt der Zeitlichkeit und der Historisierung, so kann man die Theatergeschichte als Narration über historische Theatermodelle problematisieren. Ein ‚Modell‘ des Barocken Theaters etwa differenziert sich