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Methoden der Theaterwissenschaft


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gegeben und je spezifisch betrachtet. Ich werde später nochmals auf das Problem des Modells zurückkommen.

      Die Materialität, also die Relevanz und der Gebrauch von Artefakten, spielt in der Konzeption der historiographischen Theaterpraxis eine herausragende Rolle. In meinem Falle geht es dabei um die Erforschung der Theaterräume des 18. Jahrhunderts. Hier weicht allerdings die kunsthistorische und architektonische Herangehensweise zugunsten einer konsequenten praktischen Perspektive zurück. Man könnte an dieser Stelle durchaus an Konzepte der site specific performance anschließen. Für unseren Umgang mit der Bühne des Schlosstheaters in Drottningholm etwa heißt das, dass wir den Theaterraum grundsätzlich als Instrument verstehen, das eine spezifische Praxis verlangt, aber auch ermöglicht. Die Holzbühne des Schlosstheaters ist sogar ein besonders diffiziles Instrument, dass sein klangliches, räumliches und energetisches Potential nur voll entfaltet, wenn die Praxis des Theaters sich darauf einstimmt. Es mutet dann ein wenig Paradox an, wenn – wie in den letzten Jahren geschehen – ein ambitionierter Regisseur Mozarts da-Ponte-Trilogie in einer Art Kasten/Podest spielen lässt, und somit die Aufführung komplett von der Materialität des Theaters abtrennt.6 Die Frage ist, ob dieser theaterästhetisch durchaus interessante Regieeinfall hier am rechten Ort ist. Andererseits darf die theaterhistoriographische Empfindsamkeit hier nicht dogmatisch werden, denn damit würde jeglicher Theaterraum auf die eine ideale Praxis hin limitiert.

      Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine praxeologische Perspektive in der Theaterhistoriographie aus den folgenden Gründen sinnvoll ist: Zum einen geht es grundsätzlich um den fruchtbaren und auch den kritischen Einbezug von Praxis in die historische Theaterforschung. Zum anderen bietet die Praxeologie einen Zugang zur eigenen Wissens- und Wissenschaftspraxis. Die eigene historische Narration wird durch die Praxis zunächst einmal fragwürdig, und zwar auf eine höchste produktive Weise. Zudem verlangt sie eine ständige Positionierung der eigenen Theorie und Methode in der Rolle der Theaterhistorikerin. Methodisch einem praxeologischen Ansatz folgen, heißt, die historische Theaterpraxis in einem produktiven Spannungsfeld zwischen Körperlichkeit, Materialität und Zeitlichkeit zu verorten, zwischen Gegenwart und Vergangenheit.

      Aus der Werkstatt der praxeologischen Theaterhistoriographie

      Ich werde mich nun auf drei historiographische Aspekte beschränken, die direkt aus der praktischen Theaterarbeit heraus problematisiert werden: 1) Schaffung von eigenen Quellen und Erfahrungen, 2) Aushandlung zwischen Eigenem und Fremdem, 3) Theaterhistorisches Modell vs. Diversität der Szenischen Angebote.

      1) Schaffung eigener Quellen und Erfahrungen

      Eine Theaterhistoriographie, die an Gegenständen arbeitet, welche der Ära der technischen Bild- und Tonreproduktion vorausgehen, ist oft vor das Problem gestellt, dass die Quellen zu bestimmten Theaterwerken, Aufführungsbedingungen oder Prozessen enorm rar sind. Notdürftig destilliert man aus historischen Briefen, Memoiren, Zensurberichten oder anderen in der Regel handschriftlich verfassten Quellen Beschreibungen von Erfahrungen und Abläufen. Gerne befasst man sich mit Krisenmomenten des Theaters, weil Theaterskandale und Theaterrevolutionen deutlich mehr Quellen hervorbringen als ungestörte Theateraufführungen, über die im Nachklang weniger zu hören ist. Das entscheidende Problem allerdings liegt in der Erfahrungslücke – es gibt keine direkte Erfahrung des Theaterereignisses, auf die unsere Erinnerung zurückgreifen könnte.

      Die experimentelle Praxis mit historischen Werken, in historischen Räumen und orientiert an historischen Quellen ist hier eine Möglichkeit, diese Lücke zumindest ansatzweise zu verkleinern. Durch Workshops und Theater-Produktionen erzeugen wir performative Erfahrungen mit historischen Gegenständen, mit unseren Reflexionen, Notaten und Analysen erzeugen wir zusätzliche Quellen, die sich im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Gegenwart positionieren.

      Die Imagination der Historikerin ist die Basis für die Erzeugung des historischen Narrativs.1 Wenn man sich über Wochen und Monate in bestimmte Akten hineinvertieft hat, dann kann es passieren, dass im Kopf eine Dynamik in Gang kommt, welche die historischen Fragmente zu einem lebhaften Ereignis fügt. Aber es ist natürlich etwas Anderes, wenn man tatsächlich im Zuschauerraum sitzt und die ästhetische Erfahrung einer Aufführung hat, die in engem Zusammenhang steht mit den bearbeiteten Quellen. Hier wird Text-Bildwissen tatsächlich in eine körperliche Erfahrung transformiert, die ihrerseits das Denken über eben jenes Text-Bildwissen beeinflusst und erweitert.

      Ein Beispiel hierfür ist ein Workshop im Drottningholmer Schlosstheater, bei dem das Duett „Là ci darem la mano“ aus Mozarts Don Giovanni geprobt wurde. Die zwei jungen Sänger*innen – Laila Cathleen Neuman als Zerlina und João Luís Paixão als Don Giovanni – nahmen dafür verschiedene Positionen im Raum ein, um die Soundqualität der Bühne zu explorieren. Je mehr sie sich dem Bühnenhintergrund näherten, desto ‚flacher‘ wurde die Tonqualität. Auch versendete sich der zu den Seiten gewandte Gesang in den Bühnengassen. Als sie sich schließlich im Rahmen des Proszeniums positionierten, wurde klar, dass dieser Bühnenrahmen wie ein Verstärker funktioniert und den Klang weit in den Zuschauerraum hineinsendet. Beide Sänger*innen probierten dort eine dem Publikum zugwandte Stellung und erreichten so, dass ihre Stimmen weit nach hinten in den Zuschauerraum getragen wurden. Ein voller, brillanter Klang füllte den Raum.

      Abb. 2:

      Workshop in Drottningholm 2016. Laila Cathleen Neuman als Zerlina und João Luís Paixão als Don Giovanni. Foto: Performing Premodernity.

      Das Proszenium spielt auch als energetisches Affektinstrument eine Rolle. Um den sozialen Status, aber auch die emotionale Bindung, die Manipulationsverhältnisse der Charaktere etc. zu befragen, wurde das Duett mit den beiden Sängern*innen wiederum in verschiedenen Positionen ausprobiert. Hier erwies sich die Platzierung im Proszenium erneut als wirkmächtig. Don Giovanni/Paixão und Zerlina/Neuman nahmen eine leicht distanzierte Position zueinander ein, wie man es aus den Regelwerken und Bilddarstellungen des 18. Jahrhunderts kennt: die Gesichter nicht direkt einander zugewandt, sondern mit einer leichten Öffnung hin zum Publikum und im Contrapposto. Das Duett wurde damit sozusagen aneinander vorbei gesendet, und nicht direkt an die andere Bühnenfigur adressiert.

      Man fragt sich, wenn man diese Art Figuren-Konstellation als Bildkonvention der Zeit wiedererkennt und voraussetzt, dass dies eine übliche Grundaufstellung der Darsteller*innen war, wie es zu in vielen Schriften verzeichneten emotionalen Zuschauerreaktion (weinen, schluchzen, gar Ohnmacht) kommen konnte. Zunächst einmal erscheint das Bild, das die Akteure abgeben, eher artifiziell, stark kodiert und keineswegs anrührend. Aber in der direkten ästhetischen Erfahrung einer klanglichen Umfassung der beiden Bühnenfiguren durch den Theaterraum und das Bühneninstrument machte sich während des Workshops plötzlich das körperliche Gefühl und auch die Erkenntnis eines ungeheuerlichen erotischen Energieaustausches geltend. Die energetische und erotische Sendung erreicht beide Sänger*innen, und auch die Zuschauer*innen. Interessant sind die Auswirkungen auf die Charakterisierung der Bühnenfiguren. Insbesondere Zerlina transformiert hier vom unbedarften Landmädchen zur reifen Flirtpartnerin von Don Giovanni, die ihre vokale Kraft im räumlichen Setting wirkmächtig gegen den Verführer sendet.

      Was genau passierte in dieser Situation? Als ich später darüber nachdachte, wurde mir klar, dass die Sänger*innen ihre vokale Energie in den Rahmen des Proszeniums gerichtet hatten, die dann in einer Kreisbewegung von dort zum anderen zurückgeführt wurde. Eine energetische Bindung auf dem räumlichen Umweg sozusagen. Die Spannung zwischen der sichtbaren Distanz der Akteure und der energetischen Umarmung durch den Klang erzeugte tatsächlich emotionale Rührung. Die visuelle Ebene beließ die beiden Darsteller*innen auf Distanz, die energetische Verschränkung und physisch spürbare Verbindung entstand erst mit der Kanalisierung durch das Proszenium. Wie könnte eine Text- oder Bildquelle diesen Prozess auch nur annähernd transportieren? Erst die praktische Erfahrung führt zu einer direkten Erweiterung des historischen Quellenwissens. Bei der Historikerin setzt ein Verstehen ein, das auf einer gänzlich anderen Ebene operiert. Die Texte und Zeugnisse, die aus dieser praktischen Erfahrung entstehen, fügen dem verfügbaren Quellenkorpus relevante Dokumente hinzu.

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