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Methoden der Theaterwissenschaft


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von Dokumenten folgt dabei einer Logik von Sachzwängen, die sich verselbständigt haben, von außen oft kaum noch nachzuvollziehen sind. Gründe dafür liegen auch in den Paradoxien der Reproduktionstechnik, die sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts abzuzeichnen begannen. So hat einerseits, wie von Walter Benjamin analysiert, die gesteigerte technische Reproduzierbarkeit zur Entwertung des Originals beigetragen, dessen Informationswert sich in zahllosen, immer leichter herzustellenden und weitgehend identischen Kopien abgelöst hat von der Materialität, die ein von Hand geschriebenes oder persönlich unterzeichnetes Unikat noch besaß.3 Andererseits gewinnt das historisch zertifizierte Original durch Reproduktion und Digitalisierung vielfach wieder eine Aura,4 die auf die Legitimation des Archivs als solches zurückwirkt. Zugespitzt könnte man sagen, dass Archive mit der Aura des Originals auch sich selbst erhalten, das heißt: die symbolische Ordnung der Urkunde, des Ursprünglichen und der Ableitung von Sinn und Legitimität aus der Beglaubigung eines echten Anfangs (arché), insbesondere bei Handschriften als Dokumenten einer persönlich adressierbaren Urheberschaft.

      Wenn die beschleunigte Kommunikation digitaler Daten die faktisch gegebene Distanz der allermeisten Menschen zu den Dokumenten des Besitzes, des Wissens und der Macht potenziell aufzuheben vermag, so gibt es gleichwohl noch symbolische Schwellen des Zugangs, der an Privilegien wie etwa eine bestimmte Vorbildung und institutionell vermittelte Kompetenzen gebunden bleibt. Vereinfacht gesagt, ist die genaue und hochspezialisierte Kenntnis des Gesuchten die Voraussetzung dafür, überhaupt etwas finden zu können. Diese Beschränkung der Nachfrage durch erschwerte Zugänglichkeit sichert zumindest einem traditionellen Verständnis nach die Exklusivität und damit zugleich den Wert von Archiven. Mit der Schwelle der Digitalisierung von Dokumenten aller Art kommt dieses labile Gleichgewicht zwischen beschränktem Angebot und limitierter Nutzung jedoch stärker unter den Einfluss von Marktmechanismen und einer dementsprechenden Logik der Verwertung. Dies gilt besonders für Dokumente und Materialien, die bereits durch Technologien der Reproduktion entstanden sind, wie Fotos, Filme, Videos und andere audiovisuelle Medien.5 Durch deren exponentiell zunehmende Verbreitung verwandeln sich auch viele traditionelle Archive in Mediatheken, die schon zur bloßen Aufbewahrung und Erhaltung ihrer Sammlungen einen weitaus größeren Aufwand betreiben müssen als bei Dokumenten auf Papier.

      Die neuen Möglichkeiten der technischen Aufzeichnung und Reproduktion auch flüchtiger Prozesse und Ereignisse fordern ihren Preis, der aber nicht einfach auf diejenigen verteilt werden kann, die sie (noch) in Anspruch nehmen, sondern die Archive strukturell gefährdet und in Abhängigkeit von Strategien der Vermarktung bringt. Die Kosten für Digitalisierung wie auch für die Erschließung und adäquate Präsentation der Digitalisate werden bislang durch öffentliche Subventionen oder Forschungsgelder allenfalls punktuell kompensiert, obwohl der Bedarf ständig steigt. Hinzu kommt vor allem im Hinblick auf audiovisuelle Dokumente eine restriktive Gesetzeslage, wonach die Digitalisierung in vielen Fällen nicht einmal zum Zweck der Erhaltung erlaubt ist.6 Andererseits müssen die Archive erst noch die zumeist aufwändige und schwierige Klärung von Urheber- und Verwertungsrechten leisten, um Fördermaßnahmen beantragen zu können, die eine öffentliche Publikation bzw. Zugänglichmachung der Digitalisate bereits voraussetzen.

      Die hier skizzierten Entwicklungen tragen insgesamt dazu bei, dass der Prozess der Digitalisierung der von Archiven aufbewahrten Dokumente kaum in Gang kommt, während große im Internet präsente Konzerne wie Google oder Youtube mit ihren Suchmaschinen immer mehr Inhalte des kulturellen Gedächtnisses nur in zufälligen Ausschnitten von schlechter Qualität und ohne hinlängliche Kennzeichnung oder gar Kontextualisierung anbieten, gleichzeitig aber mit begleitender Produktwerbung und durch eine umfassende Datenspeicherung jeden einzelnen Suchvorgang bereits kommerziell verwerten. Für die weitere Entwicklung der theaterwissenschaftlichen Forschung ist dies alles von gravierender Bedeutung, insofern die Zugänglichkeit ihrer gerade im Hinblick auf Theater, Tanz und Performance immer häufiger bereits technisch erzeugten Quellen weitgehend forschungsfremden Marktmechanismen unterworfen ist. Diese anhaltende Tendenz, die von den betroffenen Akteur*innen oder Institutionen bisher in ihrer Tragweite noch kaum wahrgenommen und jedenfalls noch zu wenig adressiert wird,7 verschärft die oben schon erwähnten Probleme der Erschließung fachspezifischer Quellen und ihrer inhaltlichen Zugänglichkeit bzw. Auffindbarkeit. Umso wichtiger ist es, dass die dringend notwendigen Schritte der Erschließung von Quellen und Inhalten der Forschung auch methodisch reflektiert werden, um eine dementsprechend adäquatere Organisation entwickeln zu können. Grundlegend dafür ist die elementare Funktion des Archivs als ein sprachliches und kategoriales Ordnungssystem, die hier ebenfalls noch zu berücksichtigen ist.

      In seiner Archäologie des Wissens hat Michel Foucault das Archiv nicht mehr primär als Institution und als Sicherungsort für Dokumente und Wissensspeicher interpretiert, vielmehr als „Ordnung des Diskurses“, als ein „System der Formation und Transformation von Aussagen“.8 Diese Ausweitung des Archiv-Begriffs auf eine epistemologische Ebene gewinnt nun an Bedeutung angesichts der Tatsache, dass gerade die nicht nur schriftbasierten Speichermedien einem rapiden Verfalls- bzw. Alterungsprozess ausgesetzt sind. Digitale Medieninhalte bedürfen schon heute der ständigen Umschreibung in jeweils neue digitale Codes. So bedeutet der von Aleida Assmann mehrfach beschriebene beschleunigte „Strukturwandel des kulturellen Gedächtnisses“9 vor allem dessen Transformation in rasch wechselnde, durch technische Entwicklungen (und deren Markterfolg) vorgegebene Codierungsformate, wie auch Hans Ulrich Reck konstatiert: „Digitale Archive sind nicht mehr Orte des Sammelns und Anhäufens, sondern der Rekodierung, Durchkreuzung, Streichung, des semantischen, metatheoretischen Umbaus“10.

      Mit der Ablösung von einigermaßen dauerhaften Schriftbeständen durch audiovisuelle Medien und Datenströme haben Probleme der Speicherung und Pflege von Daten-Beständen eine neue Bedeutung erlangt. Neben der Suche nach tatsächlich zur Langzeitspeicherung geeigneten Medien geht es auch um die Frage nach dem Verhältnis von Archivierung und Vergessen, Aufbewahrung und Löschung. Dahinter steht eine grundsätzliche Umwertung des Archivs und seiner möglichen Funktionen, ein „metatheoretischer Umbau“, der insgesamt die Frage nach der Organisation eines kulturellen Gedächtnisses betrifft. Demnach sind es nicht mehr die einzelnen Objekte und Inhalte, die den Wert eines Archivs ausmachen, eher seine Fähigkeit zur unablässigen Selbsttransformation. Diese soll aber nicht etwa auf der Ebene neuer individueller Konzepte (‚top down‘) erfolgen, sondern in einer plural geteilten und vielfältigen Aktivität der ständigen Neuorientierung. Insofern geht auch die Frage nach Zugang (access), als zentrales Thema neuerer Archivtheorien, weit über die übliche Nutzung der Bestände, Sammlungen und Objekte von Archiven hinaus, zielt zugleich auf deren Organisationsstruktur.

      Bei der schon seit längerer Zeit anhaltenden und kontrovers geführten Diskussion über die gesellschaftliche Relevanz von Archiven und Archivproblemen wird die Frage des Zugangs zur programmatischen und politischen Forderung: „This needs a new generation of access policies, tools and practices, less collection driven, but directed towards archives as social spaces and records as social entities.“11 So geht es für die Umwertung und Neuorganisation der Archive immer wieder um die Frage nach dem Zugriff, nach der „Partizipation am [Archiv] und dem Zugang zum Archiv, zu seiner Konstitution und zu seiner Interpretation.“12 Die Sammlungen selbst sind demnach weniger entscheidend als das, was aus ihnen in Prozessen der sozialen Kommunikation gemacht wird. Inklusion, Selbstermächtigung und eine Agenda der sozialen Verantwortung werden zu Faktoren eines neuen, dem Selbstverständnis der traditionellen Archive oft entgegengesetzten Programms ihrer Umstrukturierung. Auch bisher schon hängt die Bedeutung und Funktion des Archivs als einer eher repressiven oder im Gegenteil eher demokratischen Institution vor allem von seiner Bereitschaft und Fähigkeit ab, Zugänge zu schaffen.13 Dieser Aspekt verschärft sich aber auf extreme Weise im Zeitalter des Internets:

      Hat das Archiv traditionell seine Daten vom unmittelbaren Zugriff räumlich eher getrennt gehalten, gibt es diese Archivsperre im Prinzip (und zumal für Hacker) online nicht mehr: Kein Abschluss, sondern ständiges Ein- und Ausgehen. So wird das techno-mediale Gedächtnis entmonumentalisiert.14

      Nicht von ungefähr greift Wolfgang Ernst mit dieser Diagnose zum aktuellen Prozess der Umbrüche und strukturellen Herausforderungen der Archive zurück auf Foucaults Gebrauch der Begriffe Monument und Dokument zur Bestimmung einer notwendig methodologischen Umorientierung der Geschichtswissenschaften. Durch