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Methoden der Theaterwissenschaft


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der Vergangenheit zu isolieren und als zeitlose Denkmäler kultisch zu würdigen. Aber auch der Status des Dokuments hat sich im Zuge dieser Entwicklungen weitgehend verändert: Die Einzigartigkeit der intellektuellen und insbesondere künstlerischen Schöpfungen, von herkömmlichen Literatur-Archiven noch im Sinne des traditionellen Werkbegriffs als ein zentrales, sinnstiftendes Element ihrer Organisation verstanden, wird abgelöst von einer Orientierung an Prozessen. So hat bereits Foucault die „Infragestellung des Dokuments“ unter Verweis auf die traditionellen Methoden der Archäologie bestimmt: Hatte diese für lange Zeit die Aufgabe, Monumente in Dokumente zu verwandeln, das heißt, diese auf ganz bestimmte Aussagen und Bedeutungen hin interpretierbar zu machen, wäre für die Gegenwart umgekehrt eine Transformation von Dokumenten (zurück) in Monumente zu beobachten, die nun jedoch vor allem immanent zu beschreiben seien, durch die „Bestimmung von Einheiten, Mengen, Serien, Beziehungen in dem dokumentarischen Gewebe selbst“.15 In diesem Sinne wäre auch die von Ernst geforderte „Entmonumentalisierung“ des Gedächtnisses zu verstehen als eine Infragestellung des Dokuments, an dessen Stelle eine Vielzahl von Prozessen und Eigendynamiken tritt. Diese folgt bewusst keiner linearen Logik mehr, wie sie alle großen Erzählungen einer einheitlichen Geschichte noch zu konstruieren versuchten, sondern löst gerade die vermeintlich stets singulären Monumente auf in Serien, Beziehungen und Praktiken.

      Das von Foucault begründete Projekt einer strukturalistischen Neubestimmung von Geschichte als primär „methodologisches Feld“16, das eher von Diskontinuitäten, Brüchen und Transformationen bestimmt ist als von homogenen Entwicklungslinien, findet mithin seine Fortsetzung in einer medientheoretischen Infragestellung des traditionellen, von Monumenten und Dokumenten noch gleichermaßen geprägten Archivbegriffs. Dem entspricht zumal die von Foucault angeregte Auffassung der Funktion von Archiven als Diskursordnungen. Auf diese Weise auch methodologisch transparent, würden sie zu Orten eines inklusiven, universal zugänglichen kulturellen Gedächtnisses, das nicht mehr aus isolierten Dokumenten einen übergreifenden Sinn von Geschichte ableitet, sondern, wie Eric Ketelaar betont hat, eine Vielheit von Geschichten zulässt, die aus tatsächlichen Erfahrungen und der Möglichkeit ihrer vielfältigen Deutung resultiert: „where people’s experiences can be transformed into meaning.“17 Die Deutungsmonopole privilegierter Interpreten wären abzulösen durch eine kreative Neugestaltung von kulturellem Wissen auf online-Plattformen, welche die Archive virtuell zugänglich machen und bewusst einer großen Zahl von Nutzern öffnen für eine flexible Kontextualisierung und unablässige Neuinterpretation von Informationen, die als creative commons verstanden werden.18

      In den letzten Jahren hat sich gerade im Hinblick auf die Forderung nach einer kollektiven Aneignung von Erfahrungswissen das produktive Potenzial der Künste gezeigt. Künstlerische Praktiken der (Selbst-)Archivierung, Archivkonzeption und -nutzung haben neue Dimensionen der Auseinandersetzung mit Archiven bzw. deren Beständen eröffnet und dabei auch die gesellschaftliche Rolle des Archivs als Ort der Verhandlung von Gedächtnis und Geschichte deutlich gemacht.19 Auch im Bereich von Tanz und Performance wird an unkonventionellen Formen der Archivierung gearbeitet, die jedoch in der vor allem medientheoretisch orientierten Debatte noch zu wenig wahrgenommen werden. Wie schon eingangs bemerkt ist die in den szenischen Künsten bis heute manifestierte kulturelle und gesellschaftliche Praxis in besonderem Maße zeitlich strukturiert, an flüchtige Momente der Aufführung und der kollektiven Rezeption gebunden. Die damit verbundenen spezifischen Potenziale sind durch Techniken der Notation und auch der audiovisuellen Dokumentation nur sehr partiell zu bewahren, bedürfen zugleich der wissenschaftlichen Forschung und der ständigen künstlerischen Aktualisierung. Eine besondere Rolle spielt dabei eben die Verknüpfung und Interpretation von Erfahrungen, die an körperliche Eindrücke und Sinneswahrnehmungen gebunden sind und über die faktischen Ereignisse einer Aufführung weit hinausgehen. So finden etwa Formen der Selbstarchivierung und der Übernahme archivarischer Methoden, wie sie seit den 1960er Jahren vor allem in der Bildenden Kunst entwickelt wurden, zunehmend auch in der aktuellen Praxis der darstellenden, performativen und schauspielerischen Künste Anwendung, wie sich besonders an den mehr oder weniger detailgetreuen Re-enactments ‚einmaliger‘ Ereignisse zeigt.20

      Andererseits ist immer häufiger zu beobachten, dass auch schon das Archivieren von Probenprozessen die Struktur künstlerischer Arbeit beeinflussen kann, wenn die dabei gemachten Erfahrungen reflektiert und in neue technische Konzepte überführt werden. Paradigmatisch dafür war das von dem Choreographen William Forsythe auf der Basis seiner Improvisation Technologies mitentwickelte Visualisierungsprogramm Synchronous Objects (ab 2010), das nicht zuletzt dazu diente, die Tänzer*innen stärker eigenverantwortlich in choreographische Prozesse einzubinden.21 Wenn nicht nur das individuelle (Selbst)Archivieren, sondern viel mehr noch die kollektive Nutzung und Weiterentwicklung des neu generierten Wissens zum konstitutiven Bestandteil künstlerischer Arbeit wird, stellt sich die Frage, inwieweit solche Tendenzen auf die Organisation der Archive zurückwirken. Auch von dieser Seite her können sie sich, wie Beatrice von Bismarck es mit Blick auf Archive der Bildenden Künste formuliert hat, als „Speicher des Möglichen und Zukünftigen“ erweisen.22

      Anwendungsfelder: Archiv/Praxis

      Wie nun könnte eine theater- und tanzwissenschaftliche Methodik aussehen, die sich bewusst ins Verhältnis setzt zu den besonderen Wissensformen und -dynamiken, die mit dem Begriff und der Metapher des Archivs benannt werden? Archive eröffnen mit der Vielfalt der in ihnen gesammelten Quellen immer wieder den Rückbezug auf Anfänge, Voraussetzungen, Entscheidungen, und damit auch das Feld einer nach möglichen Ereignissen fragenden, mitunter spekulativen Historiographie.1 Sie enthalten gleichsam Rohstoffe von Geschichtsschreibung, nicht deren Resultate. Dokumente werden in historischen Archiven ja vor allem „um der Möglichkeit, eine Geschichtsquelle zu sein“ bewahrt,2 und eben nicht als schon restlos gedeutete Monumente. Daher wäre Foucaults Archäologie des Wissens weiterzudenken auch im Sinne einer methodisch reflektierten Infragestellung vermeintlich gesicherter, jedenfalls immer wieder nacherzählter Hypothesen. Für die Theatergeschichte ist es, wie von Andreas Kotte bemerkt, beispielsweise keine unwichtige Frage, wer wann und warum die Behauptung von griechischen Ursprüngen des europäischen Theaters propagiert hat.3 Aus der Perspektive des Archivs stellt sich die Frage nach den immer wieder beschworenen „griechischen Anfängen“ aber auch umgekehrt: Was bedeutet es für das Verständnis von Archiven, dass als eines der frühesten erhaltenen Archive der griechischen Kultur ausgerechnet die Didaskalien gelten können, die Listen der Gewinner von Theaterwettbewerben (Dichter, Schauspieler, Choregen)? Warum wurden diese von Aristoteles und seinen Schülern wohl zu Lehrzwecken erstellten Siegerlisten nachträglich auch in Stein gemeißelt? In welchem Verhältnis steht diese buchstäbliche Monumentalisierung der pädagogischen Dokumente zu der über ein Jahrhundert früheren großen Zeit der Theateragone und zu deren herausgehobener Bedeutung für die demokratische Öffentlichkeit der Stadtgesellschaft?

      Theo Girshausen hat auf diese Fragen in seiner Studie zu den „Ursprungszeiten des Theaters“, unter dem konkreteren Titel Das Theater der Antike, eine Reihe von Antworten gegeben, die im Hinblick auf mögliche Wechselwirkungen zwischen der Struktur von Archiven und den Methoden der Theaterwissenschaft erhellend sind. So deutet er die Herstellung der Monumente, durchaus im Sinne Foucaults, als eine eigene Form der Geschichtsschreibung, basierend allein auf Jahreszahlen und Namen. Der Sinn ihrer Zusammenstellung liege einerseits in einem politischen Motiv, den zur Zeit des Lykurg ausgeprägten Bemühungen, die Traditionen des klassischen Athen wieder aufleben zu lassen und die kulturelle Einheit Athens in einer Zeit des außenpolitischen Bedeutungsverlusts zu stärken. Dazu käme als ‚wissenschaftliches‘ Motiv eine auch sonst für die griechische Geschichtsschreibung zu beobachtende Beglaubigung der mythischen Vorgeschichte(n) der Stadt, in diesem Fall durch den linearen Zusammenhang von Aufführungs- und Festdaten.4 Die Art und Weise, in der diese Siegerlisten auch von Aristoteles selbst für seine Poetik genutzt wurden, in der er wiederum eine bestimmte Erzählung vom Ursprung des Theaters gibt, dient Girshausen als Beleg für die Grundannahme seiner Untersuchung, dass alles Wissen über antikes Theater schon Teil einer Wirkungs- und Vermittlungsgeschichte ist, die eine seit der Renaissance zentrale und normativ gedeutete Funktion für die Selbstbegründung europäischer Kultur produziert hat.5 In der Antike habe es zwar keine dem heutigen Verständnis von Quellenkritik vergleichbaren Methoden