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Methoden der Theaterwissenschaft


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ist entstanden als eine Kritik an der Selbstgewissheit, mit der Angehörige einer angeblich alt-eingesessenen Bevölkerungsmehrheit Menschen mit Migrationshintergrund bestimmte Einstellungen, Lebenshaltungen und Gefühle unterstellen. Von daher wäre es unangebracht, wenn die Aufführungsanalyse sich nun – in semiotischer Tradition – darum bemühen würde, den von den Akteuren stimmlich, mimisch und gestisch gebotenen Zeichen einzelne Bedeutungen zuzuschreiben. Die erste Herausforderung besteht also darin, ein schlichtes Ausdeuten individueller Anzeichen für bestimmte Gefühlslagen zu vermeiden. Zum anderen hat postmigrantisches Theater eine markant politische Stoßrichtung, die in einer rein phänomenologischen Perspektive leicht verfehlt werden kann, zumindest wenn sich diese Perspektive darin erschöpft, dass man das eigene ‚leibliche Spüren‘ in der Inszenierung genau registriert und beschreibt. Denn mit welchem Recht ließe sich dieses Spüren in der Analyse über die Erfahrungen anderer Aufführungsteilnehmer*innen stellen? Die zweite Herausforderung liegt deshalb in der Notwendigkeit, die eigene Position und das eigene Empfinden in der Aufführung nicht zu universalisieren.

      Eine Antwort auf beide Herausforderungen kann es sein, sich auf materielle Relationen zu konzentrieren und entsprechend Affizierungen zwischen Akteuren, Objekten, Stimmen, Sprachen und deren räumlichen Anordnungen herauszuarbeiten. Es mag auf den ersten Blick kontraintuitiv wirken, auf den Subjektivitäts-Vorwurf gerade mit einer Fokussierung des Affektiven zu reagieren. Aber als relationales Konzept ist Affektivität tatsächlich geeignet, die in der Aufführung gemachten Beobachtungen nicht gleich entlang einer Subjekt-Objekt-Dichotomie zu organisieren. Affektivität lässt sich nur aus einer Perspektive beschreiben, die transindividuelle Prozesse in den Blick nimmt und dabei neben menschlichen Akteuren, ihren Körpern und Stimmen, auch Dinge, Objekte, Bewegungen und materielle Arrangements berücksichtigt.1 Um diese Perspektive einzunehmen, kann es helfen, nicht konkrete Interaktionen zwischen Individuen zu beschreiben, sondern sich auf die materielle Transformation einzelner Elemente zu konzentrieren: Wie wird zum Beispiel der Text, der der Inszenierung zugrunde liegt, in verschiedene materielle Register übersetzt? In welchen Relationen steht das in sich hochdifferenzierte sprachliche Material zu anderen Materialien der Aufführung, und welche Bewegungen und affektiven Arrangements ergeben sich daraus? Eine solche Fragerichtung der Aufführungsanalyse soll im Folgenden zunächst auf der Grundlage einer knappen Begriffsbestimmung und dann an einem Inszenierungsbeispiel angedeutet werden.

      3. Affekt versus Emotion

      Die affektive Dimension von Aufführungen zu beleuchten, bedeutet nicht, das emotionale Erleben einzelner Zuschauer*innen zu rekonstruieren oder überhaupt individuelle Gefühle zu beschreiben. Die hier vorgeschlagene Perspektive geht vielmehr von einer Unterscheidung zwischen Affekt und Emotion aus.1 Affektivität ist demnach das dynamische Geschehen, das verschiedene Akteure auf vielfältige Weise miteinander in Beziehung setzt. Affekte finden also eher zwischen Akteuren statt als in ihnen (wobei unter Akteuren immer auch nicht-menschliche Handlungsträger oder Adressaten von Handlungen verstanden werden können). Gerade durch diesen relationalen Charakter sind Affekte von Emotionen als individuellen psychischen Zuständen zu unterscheiden. Anders als eine Emotion, ein Gefühl oder eine Stimmung ist der Affekt eine weitgehend unbestimmte Größe. Affekte bemessen sich zunächst in ihrer Intensität, sind hingegen noch nicht in ihrer Gerichtetheit, Wertung oder Artikulation bestimmbar – bevor sie in kulturell bzw. diskursiv etablierte Bahnen gelenkt und auf spezifische Weise ausagiert werden können. So entziehen sie sich oft auch einer präziseren sprachlichen Bezeichnung. Dagegen sind Emotionen soweit kulturell codiert, dass sie sprachlich repräsentiert werden können. Emotionen rekurrieren auf Affekte, um diese mit einem kulturell geprägten Repertoire von Artikulationsformen in Beziehung zu setzen. Insofern sind Emotionen nicht auf physiologische Empfindungen reduzierbar, sondern führen Empfindungen mit komplexen Konzepten zusammen, die diese Empfindungen artikulieren und dabei auch beeinflussen und kanalisieren. In diesen Konzepten manifestieren sich kulturell verankerte Klassifikationen, Interpretationen und Wissensbestände.2

      Die besonderen Möglichkeiten einer affektorientierten Aufführungsanalyse werden deutlich, wenn man davon ausgeht, dass Affekte kein individuelles, inneres Geschehen sind, sondern sich in externen Relationen und Konstellationen manifestieren. Tatsächlich nutzen Regisseur*innen etwa die proxemische Dimension der Aufführung, d.h. die variable Positionierung der Akteure im Raum, um affektive Verhältnisse zwischen Figuren zu verdeutlichen (Nähe und Distanz, Anziehung und Abstoßung beispielsweise). Auch räumlich-visuelle und/oder klangliche Atmosphären sind ein wichtiges Mittel, um vielfach diffuse, unklare und uneindeutige affektive Dynamiken darzustellen. Anstatt zu psychologisieren oder über Gefühlszustände zu spekulieren, sollte die Aufführungsanalyse deshalb ihre Chancen nutzen, die in einer genauen Beschreibung von Situationen und Handlungsformen liegen: Wie bzw. in welchem Modus wird eine bestimmte Handlung, etwa ein einfacher Gang über die Bühne, ausgeführt? Welche Situation findet ein Akteur vor, wenn er die Bühne betritt? Wie adressieren die Akteure von der Bühne aus das Publikum? Kann in der Hinwendung zum Publikum ein affektiver Gestus beschrieben werden? Der Begriff des Gestus kann eine Orientierung für affektorientierte Analysen dieser Art geben. Er bezeichnet Haltungen von Akteuren, die sich sowohl kommunikativ als auch körperlich zeigen. Eine an Brecht orientierte Theatertheorie geht davon aus, dass solche Haltungen nie nur von einzelnen Akteuren eingenommen werden, sondern sich zwischen Akteuren entfalten und von sozialen Kontexten abhängen. Aussagen zum Gestus können insofern bei einzelnen Akteuren ansetzen, müssen sich von dort aus aber auf komplexe Situationen und soziale Verhältnisse erstrecken.3 Am Ende solcher Analysen, die – wie jede Aufführungsanalyse – immer weiter verfeinert werden können, steht kein Katalog von Emotionen, die einzelnen Akteuren zugeschrieben werden könnten, sondern die differenzierte Beschreibung einer situativen Konstellation, die den*die Analysierende*n stets mit einschließt.

      Eine Aufführungsanalyse, die sich auf die affektive Dimension fokussiert, muss also materielle Relationen des Geschehens im Theaterraum herausarbeiten. Die Affekte sind aus dieser Perspektive die beschriebenen Relationen, es sind hingegen keine subjektiven Gefühle, die man individuellen Akteuren zurechnen könnte. Das soll zum Schluss exemplarisch an der Inszenierung Die Hamletmaschine vom Exil Ensemble4 des Berliner Gorki Theaters verdeutlicht werden (Regie: Sebastian Nübling, Premiere am 24.2.2018).

      4. Eine relationale Perspektive

      Wie viele Inszenierungen postmigrantischen Theaters wirkt die Hamletmaschine des Gorki Theaters von Beginn an sehr sprachbetont: Monologisches, dialogisches und chorisches Sprechen steht im Vordergrund, weshalb es naheliegt, in der Analyse von der textuellen Dimension der Aufführung auszugehen. Hamletmaschine ist ein Stück aus dem Jahr 1977 von Heiner Müller und der Form nach eine fragmentarische Textfläche, die nicht in ihrer Kürze (von etwa neun Druckseiten), wohl aber in ihrer postdramatischen, die dramatische Figuration konsequent überschreitenden Anlage auf die späteren Stücke von Elfriede Jelinek vorausweist. Der Text beginnt mit den markanten Sätzen: „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa.“1 Dieser Auftakt lässt heute an die Situation der Geflüchteten an den Grenzen Europas denken, ansonsten aber erscheint Müllers Stück nicht prädestiniert als Textgrundlage für eine postmigrantische Inszenierung. Es ist ein metatheatraler Text, der klassische europäische Theatertraditionen reflektiert, darunter vor allem das Shakespeare-Theater mit Hamlet und weiteren kanonischen Figuren sowie die antike griechische Tragödie mit den an sie anschließenden Diskursen über die Vergeblichkeit theatralen Handelns. Die Grundidee der Inszenierung des Exil Ensembles besteht darin, diesen vierzig Jahre alten Text über eine zerstörte, gewaltsame und zukunftslose Welt und die Rolle des Künstlers darin zu collagieren mit neuen Texten des syrischen Theatermachers Ayham Majid Agha, der, selbst Mitglied des Exil-Ensembles, auf der Bühne auch als Akteur zu sehen ist. Seine Texte handeln von Erfahrungen im vom Bürgerkrieg geschüttelten Syrien. Mit der Insertion der Texte von Agha erhält die textuelle Dimension der Aufführung zugleich eine multilinguale Struktur, denn die neu eingefügten Textfragmente sind auf Arabisch oder Englisch belassen, während die Müller-Texte primär auf Deutsch gesprochen werden.

      Um sich den affektiven Relationen der Aufführung analytisch zu nähern, gilt es nun, zwei Verhältnisse zu fokussieren, in die der neu konstituierte Theatertext in dieser Inszenierung eintritt, nämlich