Christine Woydt

SAINT GERMAIN. Die Meisterschaft des Seins


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       2. Neutralität

      Das Leben spielt sich in Gegensätzen ab: plus und minus, innen und außen, nah und fern, arm und reich, gut und böse, schön und hässlich. Auf deinem Weg in die Meisterschaft verschwimmt das von der Dualität geprägte Denken, bis es vollständig verschwindet. Statt schematisch zu bewerten und zu verurteilen, triffst du im gegenwärtigen Moment einfach deine ganz persönliche Wahl.

      In der von der Dualität geprägten Welt gestalten sich Beziehungen als Täter- und Opfer-Szenarien. Auch heute noch kämpfen in vielen Gegenden der Welt die Menschen ums Überleben. Der Überlebenskampf produziert Täter und Opfer, der Täter gewinnt und das Opfer verliert. In der westlichen Zivilisation wird meistens nicht mehr mit körperlichem Einsatz gekämpft, aber die Menschen suchen mit allen Tricks ihren Vorteil. Die Leistungs- und Ellbogengesellschaft basiert nach wie vor auf Täter- und Opfer-Szenarien.

      Der Kampf ums Überleben und der Konkurrenzkampf bringt alle Beteiligten an die Grenze der Erschöpfung. In der heutigen Zeit nennt man es Burn-out. Der Kampf erschöpft und vertreibt die Freude aus dem Leben. Der Gewinner versucht krampfhaft, seinen Vorteil festzuhalten, während der Verlierer aus Angst vor neuen Übergriffen nicht zur Ruhe kommt.

      In der gegenwärtigen Realität agieren die Menschen daher oft abgespalten von ihrem eigentlichen Selbst und nehmen ihre Gefühle gar nicht mehr wahr oder verleugnen sie.

      Die Erfahrungen von Täter und Opfer erschaffen Leid in Form von Schuld und Angst. Der Täter fühlt sich schuldig und strebt nach einem Ausgleich. Sowohl die Schuldgefühle als auch das Streben nach Absolution können vollkommen unbewusst ablaufen. Der Täter wird dann ständig von einem unterschwelligen Gefühl, nicht zu genügen und immer mehr leisten zu müssen, angetrieben. Das Opfer hat Angst und neigt dazu, die Umstände, die die Angst hervorgebracht haben, immer und immer wieder, meistens auch unbewusst, zu wiederholen, um die Angst eines Tages in den Griff zu bekommen. Ein Geschehen, das Leid erzeugt hat, wird also immer und immer wieder generiert und mit unterschiedlichen Protagonisten durchgespielt. Die Seele strebt unermüdlich danach, vergangenes Leid zu heilen, indem sie es wiederholt, um Wiedergutmachung zu erlangen. Ein Handlungsmuster wird endlos perpetuiert… und perpetuiert… und perpetuiert… Was du als Seelenblockade oder als Karma bezeichnest, basiert eigentlich nur auf einer ständigen Wiederholung ein und desselben Handlungsmusters. Aus dieser Wiederholung kannst du aussteigen.

      Spätestens wenn Menschen aufwachen und sich daran erinnern, wer sie wirklich sind, werden ihnen die verdrängten Gefühle von Angst und Schuld in vielfältiger Ausformung bewusst. Daher kommt das Aufwachen auch oft wie eine Krise daher. Der Mensch, der bisher in seinem Leben eher auf der Täterseite, auf der Seite der Macht stand, wird sich seiner Verantwortung für das Leid anderer Menschen bewusst. Er fühlt, dass er nichts mehr rückgängig machen kann, obwohl er jetzt seine Schuld erkennt. Der Mensch, der in seinem Leben bisher eher versagt hat und sich unterordnen musste, spürt auf einmal die Angst, die er lange verdrängt hat. Trotz seiner Angst vor neuen Verletzungen kann er aber an seiner ausweglosen Situation nichts ändern. Viele Menschen leben Täterund Opfer-Aspekte parallel in verschiedenen Bereichen ihres Lebens aus. Einer, der im Beruf ganz oben auf der Karriereleiter steht, wird vielleicht zu Hause herumkommandiert. Eine, die zu Hause das Heft in der Hand hat, muss vor dem Chef buckeln. Auf dem Weg in die Meisterschaft müssen die Täter- und Opfer-Aspekte integriert und überwunden werden.

      Der Meister agiert jenseits von Täter- und Opfer-Szenarien. In der Vergangenheit hast du womöglich oft mit dir selbst gehadert, weil du gar nicht in der Lage warst, auf sinnlose Machtspiele anderer Menschen einzusteigen. In der Schule oder sogar schon im Kindergarten hast du gemerkt, dass du dich gar nicht so selbstgefällig und herausfordernd verhalten konntest wie die anderen. Selbst wenn du dich bemüht hast, schlagfertig und frech aufzutreten, ist es dir nicht gelungen. Selbst wenn es noch so weh tut, darfst du es dir erlauben, dich an Ereignisse zu erinnern, als du dich nicht behauptet, sondern auch noch die andere Backe hingehalten hast. Mit Sicherheit warst du nicht in extreme Opfer- und Täter-Aktionen verstrickt. Dennoch darfst du dir schmerzhafte Erlebnisse bewusst machen, denn auf deinem Weg in die Meisterschaft integrierst du Frustrationen und Enttäuschungen aus der Vergangenheit. Auf dem Weg in die Meisterschaft ziehst du Bilanz über dein bisheriges Leben. Es kann gut sein, dass du feststellst, dass du noch nie Lust hattest, dich zu sehr unterzuordnen und zu verbiegen. Du hattest aber auch keine Lust, andere dauernd in ihre Schranken zu weisen, sie auszunutzen und deinen Vorteil auf Kosten von anderen zu steigern. Du darfst es annehmen, dass du dich in deinem Leben von Anfang an jenseits der Täter- und Opfer-Rollen bewegt hast. Du warst weder Täter noch Opfer, obwohl du Versuchungen widerstehen und beweisen musstest, dass du es wirklich ernst damit meinst, auf Täter- und Opfer-Spiele zu verzichten.

      Tatsächlich wird der Meister von seiner Umwelt immer wieder geprüft, ob er wirklich rücksichtsvolles Verhalten und bedingungslose Liebe leben und Zorn, Streit und Ausbeutung widerstehen kann. Auch du magst in deinem bisherigen Leben schon durch solche Prüfungen gegangen sein. Wenn das Leben dich geprüft hat, darfst du es dir bewusst machen. Von Zeit zu Zeit darfst du dir selbst auf die Schulter klopfen, wenn es dir gelungen ist, dem Sog der Täter- und Opfer-Spiele auszuweichen und in deiner Neutralität standhaft zu bleiben. Du solltest dich nicht über Gebühr verurteilen, wenn du in alte Muster des Zusammenlebens zurückfällst und deine Meisterschaft verleugnest, denn mit deiner Entscheidung zur Neutralität tust du einen großen Schritt. Indem du dich von Täterund Opfer-Spielen verabschiedest, steigst du aus den klassischen Umgangsformen auf der Erde aus. Stattdessen entscheidest du dich für einen neuen Umgang mit den anderen Menschen, der Win–win–Situationen erschafft. Du entscheidest dich für bedingungslose Achtsamkeit gegenüber deiner Umwelt.

      Ich möchte dich noch einmal daran erinnern, dass du wahrscheinlich auf deinem Seelenweg schon alle nur denkbaren Täterund Opfer-Aspekte gelebt hast. Du denkst gerne daran, dass du eine Königin oder ein König gewesen bist. Du erinnerst dich womöglich gerne an ein früheres Leben als Herrscher über ein großes Reich und malst es dir aus. Du bist dir möglicherweise bewusst, dass du schon einmal Priester, Heilerin, Papst oder ein erleuchteter Meister warst. Die Goldenen, die Aufgestiegenen Meister aller Epochen und Kulturen der Erde, lachen gerne über deine Vorstellungen von den früheren Leben. Denn die Leben auf deinem Seelenweg, die am meisten zu deinem inneren Aufstieg beigetragen haben und die Schwingung deiner Seelenessenz und sogar deines Körpers ausmachen, sind die ganz normalen, unbedeutenden Leben als Fußvolk der Geschichte. Viele Leben in der Normalität des Erdendaseins ließen deine Seele am effektivsten lernen. In den alltäglichen Erdenerfahrungen hast du dich weiterentwickelt, deinen inneren Diamanten poliert und dich selbst in die Schwingung gebracht, in der du jetzt bist. Dein jetziges Leben weist sicher auch Aspekte der Normalität auf. Man könnte womöglich sagen, du bist nichts Besonderes. Gerade das macht deine Meisterschaft aus. Es hat noch niemand davon gesprochen, dass der Meister der König ist. Im Gegenteil: Der König bittet den Meister zu sich und fragt ihn um Rat.

      In diesem Leben lässt du also alle Täter- und Opfer-Szenarien hinter dir. Darin besteht die Meisterschaft des Seins. Du eröffnest dir den Status der Neutralität. Ich möchte dir an einem Beispiel aus der Geschichte verdeutlichen, was Neutralität bedeutet. Henry Dunant, der Begründer des Roten Kreuzes, hat viel Gutes in die Welt gebracht, indem er das Prinzip der Neutralität in Kriegszeiten etabliert hat. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann und eines Tages geriet er auf einer Geschäftsreise zwischen die Fronten und landete unversehens auf einem Schlachtfeld. Er fand sich in einem Krieg wieder, an dem er und seine Nation, die Schweiz, nicht beteiligt waren. Er lag nicht in einem Schützengraben, aber er wurde mit den Folgen des Krieges konfrontiert. Er öffnete sein Herz und schaute sich um. Er sah viele verwundete, schreiende und leidende Soldaten auf beiden Seiten der Front. Er musste den Menschen helfen, obwohl er kein Arzt oder Sanitäter war. Er tat, was er konnte, um Verwundete zu versorgen oder sie einfach nur bei ihren letzten Atemzügen zu begleiten. Als er dann nach Hause kam, hatte er eine Idee und gründete das Rote Kreuz, eine neutrale Organisation, die in den Kriegen seiner Zeit einen unschätzbaren Dienst leistete. Bis heute hat sich diese Organisation der Aufgabe verschrieben, auf der Basis der Neutralität der Welt Rettung, Heilung und Erlösung zu bringen.

      Henry