und Journalisten. Wäre das Parlament damals der wirkliche Ausdruck der Stimmung des Bürgertums gewesen, so wäre eine starke bismarcksche Oppositionspartei im Reichstag eingezogen. Aber davon war keine Spur. Zwar haben die Nationalliberalen eines hannoverschen Kreises den alten Fürsten Bismarck in den Reichstag gewählt. Er nahm das Mandat an, übte es aber nicht aus. Ebenso erhielt Bismarcks Sohn, Fürst Herbert Bismarck, ein Reichstagsmandat3. Eine organisierte Bismarck-Partei entstand nicht.
Der glänzendste Vertreter der bismarckschen Gedanken wurde Maximilian Harden, der Herausgeber der »Zukunft«. Er verband die rücksichtslose Kritik an Wilhelm II., seinem Hof und seinen Ratgebern mit dem weltpolitischen Machtwillen des Großbürgertums. So war Harden, ganz im Sinne Bismarcks, zugleich der Todfeind des Kaisers und der Sozialdemokraten. Harden hat sich aus naheliegenden Gründen nicht formell zu einer deutschen Republik bekannt. Aber die ständige ungeheuer erfolgreiche Diskreditierung des Kaisers und seines Freundeskreises mußte allmählich republikanische Stimmungen erzeugen. Man kann sich fragen, wer der Vorläufer der heutigen deutschen Republik in der wilhelminischen Zeit gewesen ist. Den Anspruch darauf hätte in erster Linie Maximilian Harden, in viel geringerem Maße Erzberger, und gar nicht Karl Liebknecht.
Ein wichtiger Träger der bürgerlichen Opposition unter Wilhelm II. war ferner die großstädtische Kaufmannschaft, vor allem in Berlin. Die Mißstimmung über die »Junker« herrschaft in Staat und Heer traf sich mit dem Ärger und Spott über die kulturelle Rückständigkeit des herrschenden Systems. Wilhelms II. lächerlicher Krieg gegen die moderne Kunst, gegen das naturalistische Drama und gegen die Sezession, trieb das Berliner Bürgertum um so entschiedener zu Hauptmann und Liebermann. Dem modernen Bürgertum war die Berliner „Siegesallee“ genauso unerträglich wie der die Stadt kommandierende Polizeipräsident. Die am Hofe Wilhelms II. herrschende protestantische Orthodoxie machte einige Versuche, um im Bunde mit dem Zentrum den Einfluß der Kirche in der Schule zu stärken und die sogenannte »unzüchtige« Literatur und Kunst zu treffen. Der moderne Flügel des Bürgertums leistete solchen Vorstößen entrüsteten Widerstand und ging dabei, wie im Kampfe gegen die »Lex Heinze«, mit den Sozialdemokraten zusammen.
Der großstädtische bürgerliche Oppositionsgeist fand seinen besonderen Ausdruck in Organen wie dem »Berliner Tageblatt« und dem »Simplizissimus«. Diese Kreise strebten eine Reform des Deutschen Reiches etwa im Sinne, englischer Verfassungszustände an. Das Bündnis zwischen dem linken Bürgertum und der Sozialdemokratie beschränkte sich nicht auf das kulturelle Gebiet, wo die junge Schriftstellergeneration im Geiste der »Weber« die soziale Frage behandelte, sondern man glaubte auch politisch zur Niederkämpfung des halbabsolutistischen, aristokratischen Systems ein großes Stück Weges mit der Sozialdemokratie zusammengehen zu können.
Die großstädtische, stark kulturell gefärbte, bürgerliche Opposition kam ebenfalls im Parlament kaum zum Ausdruck. Denn die freisinnigen Reichstagsabgeordneten vertraten meistens mittel- und kleinstädtische Kreise und Stimmungen 4. Die freisinnigen Abgeordneten der wilhelminischen Zeit kamen in der Regel aus Niederschlesien, Württemberg, Oldenburg, Danzig, Nordhausen usw., während Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, München fast nur durch Sozialdemokraten vertreten wurden. Trotzdem übte die große linksliberale Presse einen Druck auf die Freisinnige Partei aus, der mindestens Wahlbündnisse zwischen Sozialdemokraten und Linksliberalen erleichterte. Die Freunde einer solchen Linkskoalition sahen ihr Vorbild in Baden, wo die Landtagswahlen ein Zusammengehen der Liberalen aller Richtungen mit den Sozialdemokraten brachten, wodurch Zentrum und Konservative in die Minderheit gedrängt wurden.
Für sich allein genommen, war die Kraft der linksliberalen Opposition gering, zumal da die Industrie mit der Regierung ging. Die politische Bedeutung der Linksliberalen lag nur in der Möglichkeit des Zusammenwirkens mit der Sozialdemokratie. Wenn das Millionenheer der Sozialdemokraten in einer kritischen Situation auch noch die »öffentliche Meinung« des Bürgertums zur Seite hatte, war die Regierung zwar noch nicht besiegt, aber sie brauchte, um sich halten zu können, das Zentrum.
Je stärker unter Wilhelm II. die Sozialdemokratie wuchs, um so mehr steigerte sich die Wichtigkeit des Zentrums als des Züngleins an der Waage. Das galt nicht nur für das Stimmenverhältnis im Reichstag, wo bis 1907 eine stabile Regierungsmehrheit ohne das Zentrum nicht möglich war, sondern noch viel mehr von den Kräfteverhältnissen draußen im Lande. Wenn die Millionenmassen des Zentrums und der Sozialdemokratie, gestützt von den Sympathien des oppositionellen Bürgertums, gemeinsam in den Kampf gegen die Regierung traten, entstand eine revolutionäre Situation. Die Bismarckschen Bedenken, die Existenz des Deutschen Reichs auf das Zentrum aufzubauen, bestanden für Wilhelm II. nicht. So wurde das Zentrum ungefähr von 1895 bis 1906 die Hauptstütze der kaiserlichen Regierung5. Die Zentrumsführer standen in diesen Jahren in enger Fühlung mit dem Reichskanzler. Hohenlohe und Bülow besprachen mit der Zen trumsführung die wichtigsten Gesetzesvorlagen. Man erzählte den Abgeordneten auch einiges von der Außenpolitik.
Trotzdem wäre es ganz falsch, in diesem Verhältnis der führenden Reichstagsfraktion zur Regierung einen Schritt zur Parlamentarisierung Deutschlands zu sehen. Erstens durfte der Reichstag niemals an die Kommandogewalt des Kaisers rühren. Zweitens blieb die Außenpolitik Deutschlands, trotz der gelegentlichen Information der Abgeordneten, völlig in der Hand des Kaisers und des Reichskanzlers. Es ist bezeichnend, daß der Reichstag 1914 von den gesamten diplomatischen Verhandlungen zwischen dem Mord in Sarajewo und den Kriegserklärungen keinerlei Kenntnis erhielt6. Selbst die führenden Abgeordneten wußten nicht mehr als das, was in den Zeitungen stand. Unter solchen Verhältnissen war selbst von einer teilweisen Parlamentarisierung Deutschlands keine Rede.
Der Einfluß des Zentrums im Reichstag war viel größer als das Gewicht der Zentrumswähler im Lande. Das Zentrum hatte damals die katholische Minderheit der Landwirtschaft und die christlich organisierte Minderheit der Industriearbeiter hinter sich. Das Bürgertum war nur spärlich im Zentrum vertreten. Die politische Forderung der Parlamentarisierung Deutschlands bedeutete in Wirklichkeit nicht so sehr die Verschiebung der Macht vom Kaiser zum Reichstag, sondern von der preußischen Aristokratie zum deutschen Bürgertum. Wenn aber das Zentrum in den Jahren von 1895 bis 1906 und nachher von 1909 bis 1914 zusammen mit den Konservativen im Reichstag die Regierungsmehrheit bildete, wurde durch diese im Wesen antibürgerliche Kombination die Parlamentarisierung nur gehindert.
Die führende Gruppe des Zentrums unter Wilhelm II. hat eine Parlamentarisierung Deutschlands gar nicht gewollt. Der Friedensschluß zwischen dem Deutschen Reich und der Katholischen Kirche, der unter Bismarck zustande gekommen war, trug jetzt seine Früchte. Der Kreis hoher katholischer Staatsbeamter, der unter Wilhelm II. das Zentrum führte, war gegenüber den bestehenden Zuständen durchaus konservativ gestimmt. Dieselbe Staatsauffassung hatte zum Teil die hohe katholische Geistlichkeit. In Männern wie den Abgeordneten Spahn und von Hertling und Kardinal Kopp traf sich die nationalkonservative Grundüberzeugung mit der Auffassung, daß das bestehende Deutsche Reich die bestmögliche Situation für den deutschen Katholizismus biete. Wie weit war man da von der Stimmung der Zentrumsführung in der Kulturkampfzeit entfernt!
Die konservative Zentrumsgruppe konnte sich unter Wilhelm II. in normalen Zeiten auf die agrarischen Interessen der Zentrumsanhänger stützen. Aber schon der katholische Bauer Süddeutschlands war auch jetzt, bei aller vaterländischen Gesinnung, durchaus nicht an die Existenz des Hohenzollern-Kaisertums gebunden. Dasselbe galt noch stärker von den christlichen Arbeitern. Unter der Regierung Wilhelms II. war die Sozialdemokratie auch in den katholischen Gegenden in siegreichem Vordringen. Vor Kriegsausbruch war in Städten wie München, Köln, Düsseldorf, Mainz bereits die große Mehrheit der Arbeiter sozialdemokratisch. Stärkeren Widerstand gegen die Sozialdemokratie leisteten der christliche Bergarbeiterverband im Ruhrgebiet sowie die christlichen Arbeiterorganisationen im Bezirk von Mönchengladbach. Seitdem das Zentrum die Mitverantwortung für den agrarkonservativen Kurs der Reichspolitik zu tragen hatte, wurde seine Position unter den Arbeitern immer mehr erschüttert. Die oberschlesischen Bergarbeiter liefen in denselben Jahren meistens zur radikal-polnischen Partei über.
Der scharfe Konkurrenzkampf mit den Sozialdemokraten und den freien Gewerkschaften nötigte die christlichen Organisationen, das Trennende gegenüber den Sozialdemokraten stark zu betonen. Aber der gemeinsame Gegensatz zum Unternehmertum und zur preußischen Staatsgewalt führte