von Reformen für die Arbeiter verkannt, und ein Bündnis mit Teilen des Bürgertums, um zunächst den herrschenden militärischen Feudalismus zu schlagen, entsprach vollkommen der orthodoxen marxistischen Lehre. Die Radikalen hätten also vieles von den praktischen Losungen der Revisionisten übernehmen können.
Aber eine unüberbrückbare Kluft tat sich zwischen beiden Gruppen in der Perspektive auf: Die Revisionisten lehnten die Katastrophenlehre der Radikalen ab. Sie wollten an das unmittelbare Bevorstehen eines Entscheidungskampfes zwischen Kapital und Arbeit nicht glauben. Auf der anderen Seite waren die Radikalen so stark von dem Nahen großer Entscheidungen überzeugt, daß sie die Tageserfolge und taktischen Manöver der Revisionisten als Lächerlichkeit ansahen. So kam es, daß auf den sozialdemokratischen Parteitagen die Kämpfe zwischen Radikalen und Revisionisten ausgefochten wurden, während der Parteivorstand die bequeme Rolle des Schiedsrichters hatte. Die zunftmäßig eingestellte Masse der Mitglieder, und ebenso der Gewerkschaftsapparat, stand hinter dem Parteivorstand.
Die beiden aktiven Gruppen waren unter den geistig selbständigen und theoretisch interessierten Kreisen der Partei stark vertreten. Unter den Radikalen wie den Revisionisten war die Zahl der Intellektuellen erheblich. In den breiten Arbeitermassen war der Anhang der Radikalen ganz gering, die Revisionisten erlangten durch besondere Verhältnisse in den süddeutschen Staaten Einfluß. In Bayern, Württemberg, Baden und Hessen war ein Militäradel preußischer Art, der zugleich die Verwaltung beherrschte, nicht vorhanden. Es standen sich hier ein bäuerlicher Konservatismus und ein bürgerlicher Liberalismus, außer den Arbeitern, gegenüber. Die herrschende Bürokratie war viel mehr mit dem Bürgertum verwachsen als mit dem meist klerikalen Bauerntum. Das galt sogar für die regierenden Dynastien. Besonders das badische großherzogliche Haus hatte altliberale Traditionen, und ebensowenig bestand ein Gegensatz zwischen Bürgertum und Hof in München, Stuttgart und Darmstadt.
Ein bürgerlich gestimmtes Regierungssystem kann sich, wie alle Erfahrungen beweisen, viel leichter mit der Arbeiterschaft verständigen als ein militärisch-aristokratisches. So tief der Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auch empfunden wird, so wirkt er nie so provokatorisch wie die Kluft zwischen adligem Herrentum und der Volksmasse. Es kommt dabei gar nicht auf den Charakter des einzelnen an: Der einzelne Gutsbesitzer und Offizier kann an Wohlwollen für die arme Bevölkerung einen Fabrikanten leicht übertreffen. Trotzdem ist eine feudale Herrschaft für den Europäer des 20. Jahrhunderts einfach unerträglich, während das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit noch vielfach als naturgemäß empfunden wird.
Aus dieser allgemeinen Situation erklärt sich das mehr gemäßigte Auftreten der süddeutschen Sozialdemokraten. Die Zustimmung zu den Etats der Einzelländer wurde erteilt, und das viel erörterte sozialdemokratische »Hofgängertum« zu den süddeutschen Landesherren begann. Am wichtigsten wurde die Entwicklung in Baden11. Hier wurde die traditionelle liberale Landtagsmehrheit durch das Zentrum bedroht. Da verbündeten sich die Liberalen mit den Sozialdemokraten, um das Zentrum in der Minderheit zu halten. Die großherzogliche Regierung arbeitete mit den Liberalen und Sozialdemokraten ohne wesentliche Hemmung zusammen. Die Sozialdemokraten erlangten einzelne Reformen im Rahmen der Landesgesetzgebung. Sie mußten dann selbstverständlich für den Etat stimmen, an dem sie mitgearbeitet hatten, und sie konnten auch den Großherzog nicht boykottieren. So wurde Baden eine Hochburg des sozialdemokratischen Revisionismus, und der badische »Großblock« der Linken, in dem Nationalliberale, Freisinnige und Sozialdemokraten zusammenwirkten, wurde ein Vorbild für die Opposition gegen Wilhelm II. im ganzen Reich.
Das badische Experiment war die bewußte Durchbrechung des Bismarckschen Systems in einem wichtigen Bundesstaat. Bismarck hatte einen beispiellos sicheren Instinkt für alle Feinde seiner Schöpfung. So erkannte er die Gefahr, die für sein System in dem badischen Liberalismus lag12, obwohl zu Bismarcks Zeit noch kein Mensch an den badischen »Großblock« dachte. Die badische Entwicklung unter Wilhelm II. war zwar durchaus kein Schritt zum Sozialismus in Deutschland, aber es war ein Schlag gegen die herrschende preußische Aristokratie. Der sozialdemokratische Parteivorstand freilich mißbilligte die badische Taktik unter dem Beifall der Parteitagsmehrheiten, einschließlich der Radikalen, die beim Kampfe gegen die badischen »Disziplinbrecher« in erster Reihe standen.
Für das Kaisertum und das herrschende System in Deutschland war es ohne große Bedeutung, ob die Sozialdemokratie etwas aktiver oder passiver war. Die bloße Existenz der sozialdemokratischen Millionenorganisation war die Gefahr. Zwar in Friedenszeiten war die preußische Staatsgewalt immer noch den Sozialdemokraten bei weitem überlegen. Das zeigte sich wieder bei den Straßendemonstrationen, die von der Partei, unter dem Eindruck der russischen Revolution, zur Erzwingung der preußischen Wahlreform organisiert wurden. Die preußische Polizei hielt die Demonstranten überall in Schach. Das Militär brauchte nirgends einzugreifen, und das preußische Wahlrecht blieb das alte. Aber was sollte eines Tages werden, wenn die stolzen preußischen Garderegimenter irgendwo zwischen Metz und Verdun zerschossen wurden und wenn man dann die Arbeitermassen als Landwehrleute und Ersatzreservisten zu den Fahnen rufen mußte? In der ersten ernsten Krise, bei der die kaiserliche Regierung versagte, mußte die Macht der Gegenregierung, dem sozialdemokratischen Parteivorstand, zufallen. Und dann würden sich das linke Zentrum und die liberale Opposition von selbst den Sozialdemokraten anschließen. Bismardk hat nach 1890 immer wieder diese Entwicklung prophezeit13.
Die Regierung hätte zwei Möglichkeiten gehabt, um die Lage zu meistern. Entweder eine brutale Unterdrückung der Sozialdemokraten im Stile Bismarcks. Aber dazu hatte nach 1890 niemand den Mut. Oder eine Politik des Kompromisses, die zunächst dem Bürgertum den Anteil an der Macht erweiterte, und dann von der neuen Grundlage aus eine Verständigung mit den Arbeitern suchte. Wilhelm II. und seine Reichskanzler Caprivi, Hohenlohe und Bülow schlugen keinen der beiden Wege ein, sondern ließen einfach die Dinge laufen. Da stellte der historische Zufall in den Jahren 1906 bis 1908 noch einmal die Schicksalsfrage an das alte System Deutschlands.
Es kam im Jahre 1906 im Reichstag wegen einiger Personalfragen der Kolonialverwaltung zu einem Konflikt zwischen dem Fürsten Bülow und dem Zentrum. Damals stand an der Spitze der Kolonialverwaltung der frühere Berliner Bankdirektor Dernburg. Die Berufung eines liberalen Finanzmannes auf eine hohe Reichsstelle war als Zugeständnis an das Bürgertum empfunden worden. Darum genoß Dernburg bei seinem Streit mit dem Zentrum die Sympathien der Nationalliberalen und der Fortschrittler im Reichstag und aller bürgerlichen liberalen Kreise im Lande. Bei der ganzen Angelegenheit hatte das Zentrum nicht die Absicht, einen prinzipiellen Kampf mit der Regierung zu beginnen. An der Kritik der Kolonialverwaltung war auch Erzberger beteiligt. Aber den Hauptstoß führte der Abgeordnete Roeren, der durchaus der konservativen Führergruppe des Zentrums zuzurechnen war.
Als das Zentrum mit seinen Personalwünschen nicht durchdrang, lehnte es einen Teil der Geldforderung der Regierung für die Schutztruppe in Südwestafrika ab. Da die Sozialdemokraten sich dem Zentrum anschlossen, fand die Forderung der Regierung im Reichstag keine Mehrheit. In Südwestafrika fanden damals Kämpfe mit aufständischen Eingeborenen statt. Die Regierung erklärte, daß die Truppenstärke, die das Zentrum für Südwestafrika bewilligen wollte, zur Unterdrückung des Aufstandes nicht ausreiche. Wie kam es zu der Zuspitzung des Konflikts zwischen Bülow und dem sonst so befreundeten Zentrum?
Mit ganz unbedeutenden Zugeständnissen hätte Bülow das Zentrum befriedigen können. Aber der hohen Reichsbürokratie war selbst die geringe Bindung an das Parlament, wie sie durch die Stellung des Zentrums im Reichstag sich ergab, nicht erwünscht. So benutzte Bülow die Gelegenheit, um in einer »nationalen« Frage den Kampf mit Zentrum und Sozialdemokraten aufzunehmen. Der Reichstag wurde aufgelöst. Die konservativen Gruppen, die Nationalliberalen und die Fortschrittler vereinigten sich als »Block«, um bei den Wahlen eine Mehrheit ohne das Zentrum zustande zu bringen. Bei den Wahlen 1907 behauptete sich das Zentrum. Die Sozialdemokraten dagegen verloren die Hälfte ihrer Mandate. Die Sozialdemokraten hielten zwar ihre Stimmenzahl von 1903, aber die Gegner zogen aus den politisch Indifferenten solche Verstärkungen, daß die Sozialdemokraten zirka vierzig Mandate einbüßten. Im neuen Reichstag hatten Konservative und Liberale zusammen eine sichere Mehrheit.
Wilhelm II. und Bülow waren durch eine Verkettung günstiger Umstände zur Kartellpolitik Bismarcks von 1887 zurückgekehrt. Bülows Front war sogar noch stärker. Bismarck hatte