afrikanische Kolonien, Bagdadbahn usw. abzuschließen. England hätte auch ein Marineabkommen mit Deutschland geschlossen, damit beide Staaten den Neubau ihrer Kriegsflotten einschränkten. Aber all das konnte in der entscheidenden Frage die Ansicht Englands nicht ändern.
Die englischen Staatsmänner wollten es auf keinen Fall zulassen, daß Deutschland in einem Kontinentalkrieg über Frankreich und Rußland Sieger blieb. Denn dann wäre Deutschland der Herr des europäischen Festlandes geworden und so mächtig, daß England in eine überaus gefährdete Lage gekommen wäre. Eine solche Entwicklung wollten die englischen Staatsmänner der beiden großen Parteien verhindern, und darum waren sie fest entschlossen, beim Ausbruch eines Kontinentalkrieges mit Frankreich und Rußland zusammenzugehen18. Man sieht, daß es bei diesen Erwägungen Englands gar nicht auf die Stärke der deutschen Flotte ankam. Die Gefahr für England bestand darin, daß Deutschland eines Tages die Küsten von Petersburg bis Brest beherrschen könnte, aber nicht darin, daß Deutschland ein paar Panzerschiffe mehr hatte. Vom englischen Standpunkt aus war das logisch gedacht, und von »Heuchelei« und »Treulosigkeit« ist dabei keine Spur. Es ist nicht Englands Schuld, daß Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg die englische Politik nicht verstanden. Aber ebenso irrtümlich ist die Ansicht, daß der Weltkrieg nicht gekommen wäre, wenn Deutschland seinen Flottenbau eingeschränkt hätte. Freilich hat die Weigerung der deutschen Regierung, das Flottenabkommen mit England zu schließen, stimmungsmäßig stark auf die englische Bevölkerung gewirkt, und so wurde dem Londoner Auswärtigen Amt seine antideutsche Taktik erleichtert. Was folgte für eine einsichtige deutsche Politik aus dieser Grundauffassung Englands? Wenn Deutschland den Frieden erhalten wollte, mußte es jede Verletzung oder Schädigung Frankreichs und Rußlands vermeiden. Seitdem die unglückselige Marokkoangelegenheit aus der Welt geschafft war, gab es wenigstens keinen akuten Konfliktsstoff zwischen Deutschland und Frankreich. Aber zur selben Zeit ließ Deutschland sich in der Balkanpolitik in einen schweren Konflikt mit Rußland hineinmanövrieren. Die Bildung der Entente Frankreich-Rußland-England hatte die deutsche Politik in eine hoffnungslose Abhängigkeit von Österreich-Ungarn gedrängt. Bülow und Holstein hatten sich die Theorie zurechtgemacht, daß Deutschland untergehen müsse, wenn sein einziger ernsthafter Verbündeter Österreich-Ungarn einen Krieg verliere. Dieser Theorie schloß sich Wilhelm II. mit einigen Schwankungen und Bethmann-Hollweg aus vollem Herzen an. Man berief sich dabei auf Bismarck, aber man verstand ihn vollkommen falsch.
Zunächst hätte Bismarck sich nie in eine Lage hineinmanövrieren lassen, in der Deutschland von der Gnade der Wiener Staatsmänner abhängig war. Ferner hatte Bismarck das Bündnis mit Österreich niemals so ausgelegt, daß die deutsche Armee für jedes Balkanabenteuer Österreich zur Verfügung stehen müsse. Auch Bismarck hielt die Existenz Österreich-Ungarns für eine Notwendigkeit für das Deutsche Reich. Aber daraus folgte noch lange nicht, daß Deutschland unbedingt sich an einem russisch-österreichischen Krieg beteiligen mußte. Bismarck hat immer wieder auf das entschiedenste betont, daß Deutschland neutral bleiben würde, wenn Österreich einen solchen Krieg provozierte. In der Tat war Deutschland immer noch mächtig genug, um dann beim Friedenskongreß die Existenz Österreichs zu verteidigen. Wilhelm II. und seine Ratgeber legten dagegen den Dreibundvertrag so aus, daß die Wiener Politiker einfach die deutsche Armee unter ihre Aktiva einkalkulieren konnten.
Das zeigte sich verhängnisvoll in der bosnischen Annexionskrise. Der sehr kluge und energische Leiter der österreichischen Außenpolitik, Aehrenthal, nahm die jungtürkische Revolution zum Anlaß, um die Annexion der beiden türkischen Provinzen Bosnien und Herzegowina auszusprechen, die Österreich seit dem Berliner Kongreß besetzt hielt. Aehrenthal war formal gegenüber Rußland im Recht. Denn Rußland hatte schon in der Zeit des Berliner Kongresses in geheimen Abmachungen die beiden Provinzen Österreich überlassen und auf einen Einspruch gegen eine Annexion von Bosnien-Herzegowina verzichtet. Inzwischen war aber Serbien aus der Vormundschaft Österreichs in die Klientel Rußlands übergegangen. Das serbische Volk verlangte die nationale Einigung mit seinen Stammesbrüdern in Bosnien, und Rußland unterstützte im Rahmen seiner Balkanpolitik die serbischen Ansprüche. So erwuchs aus der Annexion Bosniens ein schwerer Konflikt zwischen Österreich und Rußland.
Aehrenthal spielte kühl und geschickt. Er wußte, daß er auf Deutschland unbedingt rechnen konnte und daß Rußland damals militärisch nicht kriegsfähig war. Wien machte keine Zugeständnisse, und Deutschland ließ sich verleiten, in Petersburg eine Erklärung abzugeben, worin es sich restlos den Standpunkt Österreichs zu eigen machte und die Verantwortung für ein Scheitern der Verhandlungen Rußland zuschob19. Man hat sich darüber gestritten, ob die in höflichster Form gehaltene Mitteilung Deutschlands in Petersburg ein »Ultimatum« gewesen sei oder nicht. Das ist ganz gleichgültig. Wesentlich war, daß Rußland nunmehr bestimmt wußte, es würde – im Falle eines Krieges wegen Bosniens – Deutschland an der Seite Österreichs zum Feinde haben. Schon damals hätte Rußland bei einem Kriege unbedingt auf die Hilfe Frankreichs und Englands rechnen können. Aber die russische Regierung fühlte sich militärisch noch rückständig und gab nach. Deutschland und Österreich hatten diplomatisch gesiegt. Die Entente war vor den Mittelmächten zurückgewichen. Aber um welchen Preis!
Die Haltung Wilhelms II. und seiner Minister in der bosnischen Krise war ein unverzeihlicher Fehler. Von jetzt ab war die russische Regierung überzeugt, daß sie in den Balkanfragen Deutschland immer auf seiten Österreichs finden würde. Rußland war entschlossen, ein zweites Mal nicht nachzugeben, seine Rüstung zu verstärken und bei dem nächsten Balkankonflikt in den Krieg zu gehen. Bethmann-Hollweg aber wiegte sich in der weiteren Illusion, daß Rußland immer nachgeben werde, wenn Deutschland energisch auftrete, und daß so der Friede zu erhalten sei. Das Verhängnis war nicht mehr aufzuhalten.
Es kam der Tag von Sarajewo, die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand durch serbische Verschwörer. Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg waren überzeugt, daß jetzt wieder die Existenz Österreichs auf dem Spiele stehe. Könne Österreich sich in Serbien keine Genugtuung verschaffen, so würden sich die slawischen Provinzen von der Habsburger Monarchie loslösen. Das Interesse Deutschlands erfordere die Rettung Österreich-Ungarns als einer bündnisfähigen Großmacht. So gab Deutschland der Wiener Regierung bei ihrem Vorgehen gegen Serbien volle Rückendeckung. Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg rechneten schlimmstenfalls mit einem lokalen Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Serbien. Man glaubte nicht, daß Rußland sich der berechtigten Aktion Österreichs entgegenwerfen werde. Noch weniger glaubte man, daß England bei einem solchen Anlaß an der Seite Rußlands Krieg führen könnte. So ist die deutsche Regierung unfähig, ahnungslos und hilflos in den Weltkrieg hineingestolpert.
Es kann gar keine Rede davon sein, daß Wilhelm II. oder Bethmann-Hollweg bewußt auf den Weltkrieg hingearbeitet haben. Hätte Wilhelm II. einen Krieg gewollt, um die Herrschaft in Europa zu gewinnen, so hätte er während des russisch-japanischen Krieges oder während der ersten russischen Revolution Frankreich angegriffen. Damals war Rußland militärisch ohnmächtig, und Deutschland hätte wahrscheinlich über das isolierte Frankreich gesiegt. Die friedfertige Haltung der deutschen Regierung um 1905 genügt eigentlich, um die Kriegsschuldfrage eindeutig zu beantworten.
Wilhelm II. war, von allen anderen Argumenten abgesehen, viel zu nervös und innerlich zu unsicher, um sich die grauenhafte Last eines von ihm militärisch und politisch zu leitenden Weltkrieges zu wünschen. Ebensowenig war der stets von Sorgen und Verantwortungen gequälte Bethmann-Hollweg der Mann, einen Krieg heraufzubeschwören. Der im Juli 1914 amtierende Staatssekretär des Auswärtigen von Jagow hatte vom ersten Tage des Krieges an den Wunsch, ihn so schnell wie möglich wieder zu beenden 20. Auch eine kriegslustige Militärpartei ist 1914 am Hofe Wilhelms II. nicht nachzuweisen. Der Generalstabschef von Moltke war körperlich schwer krank und fühlte sich der Armeeführung nicht gewachsen. Wie sollte er zum Kriege getrieben haben? Der Kriegsminister von Falkenhayn war ein Militär, der in den Grenzen seines Ressorts blieb, ohne den Ehrgeiz, sich in politische Fragen einzumengen. Der Staatssekretär der Marine, von Tirpitz, war in den entscheidenden Juliwochen 1914 von Berlin abwesend und hat die Art der Kriegseröffnung scharf mißbilligt. Endlich waren die beim Kaiser einflußreichen Chefs des Militär-, Zivil- und Marinekabinetts von Lyncker, von Valentini und von Müller sämtlich als »Flaumacher« verrufen21. Sie sind deshalb im Laufe des Krieges von der Obersten Heeresleitung, von den Anhängern des