Arthur Rosenberg

Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik


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deutsche Armee Kluck war schwer gefährdet. Denn sie hatte vor sich die Engländer und im Rücken die neue französische Armee, die aus Paris hervorgekommen war. Kluck und Kuhl faßten einen kühnen Entschluß: Sie rechneten mit der übergroßen Vorsicht der damals sich noch unsicher fühlenden englischen Führung. Sie ließen die Engländer einfach stehen, machten kehrt und schlugen in mehrtägigen Kämpfen die aus Paris herausgekommenen Franzosen zurück. Dadurch war eine breite Lücke zwischen der Armee Kluck und den übrigen deutschen Heeren entstanden, die in frontalen Kämpfen von der Marne bis Verdun die französische Offensive auffingen.

      Inzwischen saß der kranke General von Moltke in Luxemburg ahnungs- und hilflos, und Wilhelm II. verließ sich auf seinen Generalstabschef. Moltke ahnte, daß ein Verhängnis über das deutsche Westheer heraufzog. Er fühlte aber nicht die Kraft, selbst an die Front zu gehen und den Oberbefehl wieder in die Hand zu nehmen. So schickte er einen jüngeren Generalstabsoffizier, den Oberstleutnant Hentsch an die Front mit unbeschränkten Vollmachten. Hentsch besichtigte die Lage bei der Armee Kluck. Er erkannte die gefährliche Lücke, in die sich feindliche Truppen hineinschieben konnten, und befahl den Abbruch der Schlacht. Das deutsche Heer ging hinter die Aisne zurück. Die Westoffensive war gescheitert. Der Rückzugsbefehl des Oberstleutnants Hentsch war durchaus nicht notwendig. Denn alle an der Schlacht beteiligten deutschen Armeen hatten gute taktische Erfolge, und eine an Ort und Stelle befindliche geschickte oberste Führung hätte auch die Gefahr beseitigen können, die von der Lücke in der Front und von den Engländern drohte.

      Ein deutscher Sieg an der Marne hätte einen weiteren französischen Rückzug nach Süden gebracht. Aber das deutsche Heer wäre nach wie vor aus Paris im Rücken bedroht gewesen, und die französische Armee hätte weitergekämpft. Was Deutschland im Westen brauchte, war kein gewöhnlicher taktischer Sieg und kein Raumgewinn, sondern ein ungeheueres Sedan, eine Ausschaltung des feindlichen Heeres, um die Truppen für den Osten freizubekommen. Die Hoffnung darauf war mit dem Scheitern des Schlieffenschen Plans begraben. Durch die Fehler der Führung behielt das deutsche Heer an der Marne nicht einmal den so wohlverdienten taktischen Sieg. In der Marneschlacht war das deutsche Heer seinen Gegnern mindestens gewachsen, aber die Entscheidung kam durch die geistige Überlegenheit der französischen Obersten Heeresleitung. Als General von Moltke die Größe der Niederlage übersah, brach er völlig zusammen und mußte vom Oberkommando enthoben werden.

      Die Bismarcksche Verfassung fand darin ihre Rechtfertigung, daß das deutsche Volk, um sich in der Welt behaupten zu können, den König von Preußen und sein Heer brauchte. Die moralische Existenzberechtigung des alten Systems ging in den Luxemburger Tagen des Septembers 1914 endgültig verloren. Der König von Preußen hatte nicht nur durch die Fehler seiner Außenpolitik dazu beigetragen, daß das deutsche Volk in einen hoffnungslosen Krieg geriet. Er hatte auch dem deutschen Heere, das so opferwillig ins Feld zog, die denkbar unfähigste Führung gegeben. Einen »Dolchstoß« gab es im September 1914 wahrlich nicht. Die deutschen Granaten, die an der Marne verschossen wurden, hatte der gesamte Reichstag bewilligt, einschließlich der späteren Unabhängigen, einschließlich Liebknechts. Niemals hatte ein Volk seinen Regenten so gutwillig den Blankowechsel vollsten Vertrauens ausgestellt wie das deutsche Volk seinem Kaiser am 4. August. Die Folge davon war das Hauptquartier in Luxemburg und die Niederlage an der Marne. Als die Oberste Heeresleitung in Luxemburg zusammenbrach, verstummten für einige Zeit auch die Heeresberichte. Während des Krieges hat das deutsche Volk niemals die Wahrheit über die Marneschlacht erfahren. Selbst die führenden Reichstagsabgeordneten konnten sich erst spät, unvollständig und auf Umwegen, über die Septemberereignisse an der Westfront orientieren.

      General von Moltke mußte durch einen neuen Generalstabschef ersetzt werden. Reichstag, Presse und Volk hatten keinen Einfluß darauf, wem das Schicksal des deutschen Heeres und damit des deutschen Volkes jetzt anvertraut wurde. Wilhelm II. wählte nach seinem freien Ermessen den bisherigen Kriegsminister von Falkenhayn. General von Falkenhayn war wenigstens physisch seiner Aufgabe gewachsen. Er hätte sich auch als Führer einer einzelnen Armee bewährt, wie er 1916 nach seinem Rücktritt vom Posten des Generalstabschefs in Rumänien gezeigt hat. Aber er war zur Führung des Gesamtheeres ebensowenig befähigt wie Moltke. Dabei hatte das deutsche Heer 1914 eine Reihe von erstklassigen Generälen. Es standen zur Verfügung, um nur einige Namen zu nennen: Ludendorff, Loßberg, Seeckt, Hoffmann und Groener. Aber sie kamen nicht an die Spitze, weil Wilhelm II. sie nicht ernannte. Zwei Jahre lang ist das deutsche Heer unzulänglich geführt worden, und als dann endlich im Sommer 1916 ein hervorragender General, Ludendorff, das wirkliche Oberkommando übernahm, war die Gelegenheit, eine militärische Entscheidung zu erringen, schon verpaßt. In der Freude, endlich einen wirklichen Führer zu haben, gab das deutsche Volk dem General Ludendorff dann auch die oberste politische Gewalt, und so wurde das Letzte verdorben, was noch zu retten gewesen wäre.

      Im Winter 1914/15 und im Frühjahr 1915 schwebte Deutschland ununterbrochen in der Gefahr einer vollständigen militärischen Niederlage. Die Hauptmasse der deutschen Streitkräfte war an die Westfront gebunden, ohne dort eine Entscheidung erreicht zu haben. Zur gleichen Zeit setzte das russische Millionenheer seine Offensive fort, um mit seiner Übermacht die österreichischen und die deutschen Osttruppen niederzurennen. Gelang dies den Russen, so war der Krieg für die Entente gewonnen. Die deutsche Kriegführung im Osten unter der Leitung Hindenburgs und Ludendorffs errang eine Reihe bedeutender Erfolge. Die Pläne des Generals Ludendorff, die zur Schlacht bei Tannenberg, zur Schlacht an den Masurischen Seen, zum Vorstoß auf Warschau im Oktober 1914, zu den Schlachten bei Lodz im November und Dezember 1914 und zur »Winterschlacht in Masuren« führten, waren militärische Meisterstücke. Je weniger es gelang, an den anderen Fronten Entscheidendes zu erreichen, um so stärker wuchs das Vertrauen in der Armee und im Volke zur Führung im Osten. Auf dem Schlachtfeld von Tannenberg wurden die Grundlagen zu der Diktatur geschaffen, die dann General Ludendorff von 1916 bis 1918 ausgeübt hat. Ebenso hat der hervorragende österreichische Generalstabschef von Conrad aus den österreichischen Armeen alles Menschenmögliche herausgeholt.

      Trotzdem war keine Erleichterung geschaffen, weil die Kraft der russischen Offensive durch die örtlichen Niederlagen nicht zu brechen war. Noch im April 1915 bestand ernsthaft die Möglichkeit, daß die Russen über die Karpaten gegen Wien und Budapest vordrangen, Österreich niederwarfen und dann auch Deutschland den Todesstoß versetzten. Der ganze Ostkrieg seit Oktober 1914 war völlig planwidrig: Die Pläne des deutschen Generalstabs beruhten darauf, daß sechs bis acht Wochen nach Kriegsbeginn die deutsche Hauptarmee in Frankreich frei werden und gegen Rußland antreten würde. Davon war gar keine Rede mehr. Das deutsche Heer führte bis April 1915 einen Zweifrontenkrieg gegen große Übermacht, wobei eigentlich täglich eine Katastrophe möglich war. In der Heimat wußte man aber von der wirklichen Kriegslage so wenig, daß in denselben Monaten das deutsche Volk den Streit begann, wie viel oder wie wenig man beim Frieden annektieren solle.

      Erst der Mai 1915 brachte eine Entlastung. Die deutsche Oberste Heeresleitung riskierte es, im Westen eine Anzahl Armeekorps fortzuziehen, um gegen die Russen eine Entscheidung zu suchen. In der Schützengrabenfront von Flandern bis zum Elsaß hielt das verkleinerte deutsche Westheer das ganze Jahr 1915 hindurch den Angriffen der Franzosen und Engländer stand und bot so die Grundlage für die Operationen im Osten. General von Conrad hatte den Plan, die russische Front im Gebiet von Krakau zu durchbrechen, so in den Rücken der großen russischen Karpatenarmee zu kommen und sie zum Rückzug zu zwingen. Falkenhayn nahm den Plan Conrads an und stellte zu seiner Durchführung mehrere deutsche Armeekorps zur Verfügung. Die Schlacht bei Gorlice im Mai 1915 hatte den Zusammenbruch der russischen Karpatenfront zur Folge und leitete die lange Reihe von Kämpfen ein, bei denen im Sommer 1915 die Russen aus Polen und Galizien vertrieben wurden. Die Kraft der russischen Offensive war für dieses Jahr gebrochen. Die Russen hatten ungeheure Verluste erlitten. Aber das russische Heer blieb kampffähig. Eine Entscheidung hatte die deutsche Armee im Osten nicht erkämpft.

      General Ludendorff erkannte die Mängel der Falkenhaynschen Führung. Er schlug eine Operation vor, die eine Art von Übertragung des Schlieffenschen Plans nach dem Osten bedeutete, nämlich eine großzügige Umfassung des russischen Heeres von Norden her, über Kurland und Wilna, um so eine Vernichtungsschlacht zu liefern. Falkenhayn verweigerte dem Plan Ludendorffs seine Zustimmung. So blieben die ganzen Anstrengungen des deutschen Heeres im Jahre 1915 umsonst. Deutschland hatte Schlachten gewonnen und Land erobert,