Arthur Rosenberg

Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik


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Inzwischen ging England zur allgemeinen Wehrpflicht über und stellte ebenfalls ein Millionenheer an der Westfront auf. So war die militärische Lage für Deutschland im Jahre 1916 noch schlechter als 1915. Deutschland sollte im wesentlichen aus eigener Kraft gegen drei feindliche Millionenheere kämpfen.

      Niemals hatte der Berliner Generalstab vor 1914 eine solche verzweifelte Lage in seinen Plänen für möglich gehalten. Eigentlich war jeder Monat, in dem die deutschen Fronten weiter standen, militärisch ein Wunder. Aber in der Heimat ging der Streit um die Annexionen weiter. 1915 hatte sich Italien der Entente angeschlossen und band damit einen großen Teil des österreichischen Heeres. Die Mittelmächte waren durch Bulgarien und die Türkei verstärkt, die dafür eine Anzahl englischer und französischer Truppenteile auf sich zogen. Eine deutschösterreichisch-bulgarische Expedition besetzte Serbien, und nach dem Fall von Antwerpen war fast ganz Belgien in deutscher Hand. An den Grundfragen des Krieges änderte all dies nichts. Für das Frühjahr 1916 plante Falkenhayn überhaupt keine kriegsentscheidende Operation, obwohl bei der verzweifelten militärischen Lage Deutschlands mindestens der Versuch dazu, sei es im Osten oder in Italien, hätte gemacht werden müssen. Denn die Zeit arbeitete für die Entente und gegen Deutschland. Statt dessen begann Falkenhayn den Angriff auf Verdun, ohne operativen Plan, in der Einbildung, er könne damit das französische Heer zermürben. In Wirklichkeit haben die grauenhaften Kämpfe vor Verdun das deutsche Heer zumindest ebenso zerrüttet wie das französische.

      Zur See stand von Anfang an die Überlegenheit der Entente ganz fest. Denn die Schlachtflotte der Entente war dreimal so stark wie die deutsche, und die Seeherrschaft hängt von den Großkampfschiffen ab und nicht von den U-Booten. Die englische Panzerflotte brauchte gar keine Schlacht zu liefern, durch ihre bloße Existenz sicherte sie der Entente die Herrschaft über die Meere und blockierte Deutschland mit den furchtbarsten Folgen für die deutsche Volkswirtschaft. Die Versuche, durch den U-Boot-Krieg die feindliche Schiffahrt zu schädigen, führten sofort zu ernsten Konflikten zwischen Deutschland und den Neutralen, besonders den Vereinigten Staaten. So war die Frage des U-Boot-Krieges von Anfang an viel mehr ein politisches als ein militärisches Problem.

      Je länger der Krieg dauerte, um so deutlicher zeigten sich im Innern Deutschlands wieder die politischen und die Klassengegensätze. Das politische Hauptresultat des 4. August war ein äußerlicher Friedensschluß zwischen dem Hohenzollern-Kaisertum und der in Deutschland regierenden militärischen Aristokratie auf der einen Seite und der sozialdemokratischen Arbeiterschaft auf der anderen Seite gewesen. Was der Friedensschluß praktisch bedeuten würde, darüber waren sich beide Teile noch völlig im unklaren. Einen festen Plan, wie man organisch die Arbeiter und selbstverständlich auch das Bürgertum in den Rahmen der Bismarckschen Verfassung einfügen sollte, hatte damals niemand. Bethmann-Hollweg versprach, im besonderen Hinblick auf die Sozialdemokratie, eine »Neuorientierung« Deutschlands nach dem Kriege. Aber darunter konnte sich jeder denken, was er wollte.

      So viel war der regierenden preußischen Schicht klar, daß die Arbeiterschaft nach dem Kriege, vielleicht schon im Kriege, verstärkte politische Forderungen stellen würde3. Wenn die Millionen proletarischer Kriegsteilnehmer aus den Schützengräben zurückkehrten, dann ließen sie sich nicht mehr mit den alten Polizeimethoden einschüchtern. Das war sicher, ganz gleich wie der Krieg ausging. Noch im Jahre 1914 tauchte die preußische Wahlrechtsfrage wieder auf. Aber der konservative preußische Grundbesitz war auch jetzt nicht bereit, etwas von seinen Privilegien zu opfern. In der preußischen Wahlrechtsfrage wurden allerlei Akten geschrieben, Projekte entworfen und Sitzungen abgehalten4. Die alte Mehrheit des preußischen Landtags hatte kein Interesse daran, sich selbst zum eigenen Schaden zu »reformieren«, und die regierende Bürokratie hatte erst recht keine Eile. So kam die Wakhlreform erst im Jahre 1917 stärker in Fluß. Auf jeden Fall fühlte sich der preußische Adel durch eine neue Zeit, deren Entwicklungsmöglichkeiten er nicht übersah, bedroht, und er sann auf Abwehr. Dabei traf er sich mit den Bestrebungen der Industrie.

      Auch die Industriellen rechneten unter der Neuorientierung zumindest mit einer Stärkung der Gewerkschaften und mit einer Erschwerung ihrer eigenen Position in den Wirtschaftskämpfen der Zukunft. Wenn das alte Preußen ins Wanken geriet, so war die starke Staatsgewalt gefährdet, die bisher dem Unternehmer Beistand gegen die Arbeiter geleistet hatte. So bekämpfte die preußische nationalliberale Landtagsfraktion, in der die Einflüsse der rheinisch-westfälischen Industrie überwogen, die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen. In den Jahren vor Kriegsausbruch hatten sich die industriellen Kreise immer mehr von der agrar-konservativen Politik getrennt. Beim Sturze Bülows, bei den Reichstagswahlen 1912 und in der Zabern-Angelegenheit standen die Nationalliberalen gegen die Konservativen. Seit Kriegsbeginn setzte eine rückläufige Bewegung ein. Zwar erkannten einzelne nationalliberale Führer, wie Stresemann und von Richthofen, daß die neue Zeit eine Entwicklung Deutschlands zur Parlamentarisierung und damit die politische Stärkung des Bürgertums bringen müsse. Das hätte eine Fortsetzung der nationalliberalen Politik von 1912 bedeutet, eine Festigung des liberalen Bürgerblocks der Nationalliberalen und der Fortschrittler.

      In der Tat waren von 1906 bis 1914 die beiden liberalen Strömungen, die industrielle und die kaufmännische, fast ständig zusammengegangen. Hätte sich im Kriege diese bürgerlich-liberale Einheitsfront gestärkt, so hätte dies die bedeutendsten Folgen haben können. Das Bürgertum hätte seine Rechte auf Kosten der konservativen Aristokratie erweitert und dabei ein Zusammenwirken mit den Sozialdemokraten möglich gemacht. In Wirklichkeit ging die Entwicklung umgekehrt: Die Haltung der Nationalliberalen im Kriege wurde nicht von den Männern bestimmt, die den Weg vorwärts zur Parlamentarisierung suchten, sondern von solchen Industriellen, die im Bunde mit der militärischen Aristokratie ein Bollwerk gegen die Arbeiterforderungen aufrichten wollten. So sah das Bismarcksche Reich in seinem Untergang noch einmal das Wiederaufleben der alten Kartellidee Bismarcks. Die Vaterlandspartei von 1917 war weiter nichts als das Kartell von 1887, angepaßt den Verhältnissen des Weltkrieges.

      Während sich so unter dem Schleier des Burgfriedens die aristokratisch-industrielle Abwehrfront gegen die Arbeiter bildete, dachte auch die Arbeiterschaft über die neue politische Lage nach. Die Situation nach dem 4. August war für die Sozialdemokratie überaus eigenartig und schwierig. Der sozialdemokratische Arbeiter bekannte sich opferwillig zur Landesverteidigung. Aber er konnte nicht begreifen, daß seine alten Feinde, der preußische »Militarismus« und die Schwerindustrie, nun plötzlich nicht mehr bekämpft werden sollten. Der Arbeiter stellte fest, daß zwar jetzt seine Abgeordneten für die Regierung stimmten und daß die Soldaten jetzt auch den »Vorwärts« lesen durften. Aber das militärisch-polizeiliche Herrentum war eigentlich in Preußen dasselbe wie vor dem 4. August, und in der Fabrik war das Übergewicht des Unternehmers durch den Burgfrieden auch nicht verändert. Das konnte auch gar nicht anders sein, da der 4. August weder eine politische noch eine soziale Revolution gewesen war. Im Gegenteil, der Arbeiter hörte zwar von der kommenden »Neuorientierung«, aber er hatte den Eindruck, daß die Machtstellung des Proletariats als Klasse sich seit dem 4. August verschlechtert hatte. Im Frieden hatten die sozialdemokratischen Zeitungen und sozialdemokratischen Versammlungsredner offen ausgesprochen, was die Masse drückte. Jetzt stand man unter dem Druck des militärischen Belagerungszustandes und der Militärzensur. Presse, Vereins- und Versammlungsleben waren gleichmäßig gelähmt. Weiter hatte man den Eindruck, daß die Unternehmer im Dienste der Kriegsindustrie viel Geld verdienten, während die Arbeiter ihr altes Kampfmittel, den Streik, verloren hatten. Denn der Burgfrieden und die militärischen Erfordernisse ließen keinen Streik zu.

      So erfüllte schon im ersten Kriegswinter eine tiefe Unzufriedenheit die Massen. Die Stimmung der werktätigen Massen wäre nur zu heben gewesen, wenn man ihnen nachgewiesen hätte, daß sie jetzt in Deutschland mitregierten, daß sie als Subjekt und nicht als Objekt des Staatslebens den Krieg mitführten. In den Ländern der bürgerlichen Demokratie konnte das regierende Bürgertum in den Massen diese Stimmung erwecken. In England und Frankreich saßen Arbeiterführer in der Regierung und in den Verwaltungsbehörden. Da konnten auch die Massen der ärmeren Bevölkerung zu dem Glauben kommen, daß der Staatsapparat unter ihrer Kontrolle stehe und daß sie politisch keine »Herren« hätten. Das schuf sofort eine ganz andere Einstellung zum Staat und zum Krieg. In Deutschland unter der Bismarckschen Verfassung ließ sich eine solche Massenstimmung nicht erzeugen.

      In der Begeisterung