die 1914 Deutschland regierten, sind von der moralischen Kriegsschuld freizusprechen, aber um so schärfer muß die politische Unfähigkeit Wilhelms II. und Bethmann-Hollwegs betont werden. Es war ein unerhörter Fehler und im Widerspruch zu allen Traditionen Bismarcks, daß Deutschland den Österreichern bei der Aktion gegen Serbien den Rücken deckte. Als Serbien das Ultimatum Österreichs ablehnte, erklärte Österreich-Ungarn an Serbien den Krieg. Darauf mobilisierte Rußland, trotz der Warnung Deutschlands, seine Armee. Politisch hätte Deutschland alles Interesse gehabt, die Verantwortung für den Angriff Rußland zu überlassen. Statt dessen wurde die Frage in Berlin rein militärtechnisch behandelt.
Der deutsche Generalstab sah dem Zweifronten-Krieg mit schweren Sorgen entgegen. Das französische Heer war an Zahl und an technischen Hilfsmitteln dem deutschen ungefähr gewachsen. Das russische Heer war an Zahl dem deutschen bei weitem überlegen und durch die Tätigkeit des Kriegsministers Suchomlinow mit allem Nötigen versehen. Dagegen war die Armee Österreich-Ungarns an Zahl der ausgebildeten Mannschaften und an moderner Artillerie so schwach, daß sie nur einen Bruchteil des russischen Heeres binden konnte. Von Italien war keine Hilfe zu erwarten. So mußte Deutschland mit einem Zweifronten-Krieg gegen große Übermacht rechnen.
Der deutsche Generalstab glaubte den Krieg nur mit Hilfe des Planes gewinnen zu können, den der frühere Generalstabschef Graf Schlieffen ausgearbeitet hatte. Der Plan sah vor, daß die gesamte Macht Deutschlands bis auf einige Divisionen im Westen eingesetzt wurde, um in wenigen Wochen Frankreich niederzurennen. Danach sollte die deutsche Hauptarmee gegen Rußland antreten. Der Schlieffensche Plan zeigt am besten, wie außerordentlich ernst der Generalstab die Lage Deutschlands beurteilte. Denn der Plan setzte zu seinem Gelingen voraus, daß Deutschland den gleichstarken und gleichwertigen französischen Gegner innerhalb weniger Wochen vernichtete. Ob und wie das möglich sein sollte, konnte mit gutem Gewissen niemand sagen. Ein Generalstab, dem eine solche verzweifelte Aufgabe zur Lösung zufällt, treibt nicht zum Kriege.
Um den Schlieffenschen Plan, der nach Ansicht des Generalstabs allein eine Rettungsaussicht bot, anzuwenden, war aber sofortiger Kriegsbeginn im Westen und im Osten nötig, sobald die russische Mobilmachung die Unvermeidlichkeit des Krieges gezeigt hatte. Rein militärtechnisch war das unbedingt richtig. Aber die politische Leitung hätte trotzdem die Verantwortung auf sich nehmen müssen, den Gegner angreifen zu lassen. Bethmann-Hollweg und Wilhelm II. hatten den Mut zu dieser politischen Verantwortung nicht, und so erklärten sie an Rußland und Frankreich den Krieg. Ohne Zweifel wäre auch ohne die deutsche Kriegserklärung der Krieg durch den russischen Angriff auf Österreich eingeleitet worden. Aber die politische Situation Deutschlands wurde durch die Kriegserklärung von Anfang an verdorben. Als Deutschland dann noch in Ausführung des Schlieffenschen Plans die Neutralität Belgiens verletzte, hatte die englische Regierung den bequemsten Vorwand zur Beteiligung am Kriege an der Seite Rußlands und Frankreichs. So war das deutsche Kaisertum in den Krieg geraten, an dessen unglücklichem Ende nach Bismarcks Urteil die sozialistische Republik stand22.
III. KAPITEL
Weltkrieg und Burgfrieden
Am 4. August 1914 bewilligte der Reichstag einstimmig, auch mit den Stimmen sämtlicher Sozialdemokraten, die Kriegskredite. Dann ging das Parlament auseinander und überließ der Regierung Wilhelms II. und Bethmann-Hollwegs, ohne auch nur den Versuch einer Kontrolle zu machen, die Kriegführung. Gleichzeitig verzichteten die Parteien, wenigstens in der Öffentlichkeit, auf jeden Kampf gegeneinander und auf jede Opposition gegen die Regierung. Den Zeitgenossen war vielfach das Bekenntnis der Sozialdemokraten zur Landesverteidigung überraschend, während man den sogenannten Burgfrieden als selbstverständlich hinnahm. Wer heute vom historischen Standpunkt aus den 4. August überdenkt, kommt zu einem umgekehrten Resultat: Der Entschluß der Sozialdemokraten, an der Verteidigung Deutschlands mitzuwirken, entsprach der marxistischen, sozialistischen Tradition. Dagegen war der Burgfrieden durchaus nicht so selbstverständlich, wie er damals dem deutschen Volke vorkam.
Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion umfaßte 110 Abgeordnete, die Fraktion entschied sich gegen 14 Stimmen für die Bewilligung der Kriegskredite. Die 14 Vertreter der Minderheit haben sämtlich in der öffentlichen Reichstagssitzung die Fraktionsdisziplin gehalten und für die Kredite gestimmt. Auch Karl Liebknecht hat am 4. August der kaiserlichen Regierung fünf Milliarden zur Führung des Krieges bewilligt. Hätte die Minderheit die Bewilligung der Kredite am 4. August als Verbrechen am Sozialismus betrachtet, so hätte sie die Fraktionsdisziplin gebrochen, ganz besonders ein so eigenwilliger und tapferer Charakter wie Karl Liebknecht. Sozialdemokratische Abgeordnete haben erst später im Reichstag die Kriegskredite verweigert, als sie die Überzeugung hatten, daß die deutsche Regierung keinen Verteidigungskrieg zur Sicherung der Existenz des Volkes, sondern einen Eroberungskrieg führe.
Die Haltung der sozialdemokratischen Abgeordneten am 4. August war in erster Linie durch die Stimmung der sozialistischen Arbeitermassen beeinflußt, die nicht dulden wollten, daß die Truppen des Zaren über Deutschland herfielen. Aber darüber hinaus befand sich die sozialdemokratische Fraktion bei dem Bekenntnis zur Landesverteidigung durchaus im Einklang mit der marxistischen Lehre1. Marx und Engels waren zwar der Ansicht, daß die sozialistische Gesellschaft in einer späteren Zukunft den Krieg beseitigen werde. Aber in der Periode des Kapitalismus hielten sie den Krieg für ein Mittel der Politik, mit dem der Staatsmann – auch der Staatsmann des Proletariats – einfach rechnen muß. Ebenso gibt der Marxismus jeder Nation das Recht auf unabhängige Existenz und damit das Recht der Selbstverteidigung. Darüber hinaus beurteilt der Marxismus jeden Krieg nach den Interessen des internationalen Proletariats, und so sollen die sozialistischen Arbeiter aller Länder zu jedem Krieg eine einheitliche Auffassung vertreten.
Ein klassisches Beispiel für die marxistische Stellung zum Kriege bietet die Haltung von Marx und Engels zum Kriege 1870/71. Beim Kriegsausbruch waren die beiden Häupter des internationalen Sozialismus der Meinung, daß die Niederlage des reaktionären Bonapartismus und die Einigung Deutschlands auch den proletarischen Interessen diene. Nach Sedan änderte sich die Lage: Marx und Engels empfahlen den französischen Arbeitern, mit allen Kräften die neue Republik zu verteidigen, und den deutschen Arbeitern, sich für einen maßvollen Frieden einzusetzen, vor allem gegen eine Annexion Elsaß-Lothringens zu protestieren. Denn die Annexion geschehe gegen den Willen der Elsässer und Lothringer, und sie treibe zwangsläufig Frankreich in die Arme des Zarismus.
In den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sah Engels den Krieg Frankreichs und Rußlands gegen Deutschland kommen, und er hatte über ihn folgendes Urteil; Deutschland sei nicht nur das Land der Hohenzollern, sondern auch der Sitz der stärksten und am besten organisierten sozialistischen Arbeiterschaft der Welt. Deshalb sei ein Angriff auf Deutschland zugleich ein Angriff auf die Existenz der sozialistischen deutschen Arbeiterklasse. Darum erfordere das Interesse der sozialistischen Internationale den Abwehrsieg Deutschlands. Freilich habe die deutsche Arbeiterschaft die Pflicht, dafür zu sorgen, daß der Krieg zur Revolutionierung Rußlands führe und daß Frankreich durch ein siegreiches Deutschland nicht vergewaltigt werde. Der Krieg würde auch innerpolitisch die Macht der deutschen Arbeiter außerordentlich steigern und bei gutem Ausgang den Sieg des Sozialismus in Deutschland vorbereiten. Friedrich Engels wünschte also für den europäischen Krieg, daß die Arbeiterschaft der großen Länder, jede an ihrem Platz, für die gemeinsame Aufgabe wirke: die deutschen Arbeiter für den deutschen Sieg, aber mit ihren eigenen Kriegszielen, nicht mit den Kriegszielen des deutschen Großkapitals, die russischen Arbeiter für die russische Revolution, und die französischen Arbeiter für einen möglichst schnellen Frieden mit Deutschland ohne gegenseitige Vergewaltigung.
Von den Gedanken der Altmeister des Sozialismus war in der deutschen Arbeiterschaft so viel lebendig, daß in einem Kriege Deutschlands mit dem russischen Zaren und seinen Verbündeten die deutschen Arbeiter das Recht und die Pflicht der Landesverteidigung hätten. Diese Tradition von Marx und Engels wirkte in der Abstimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion am 4. August entscheidend nach. Aber der Burgfrieden mit der kaiserlichen Regierung folgte aus der Lehre von Marx und Engels nicht. Selbst die bürgerlichen Parteien Deutschlands hätten sich mit guten Gründen gegen den Burgfrieden wehren können.
Wenn ein großes Volk im Kriege um seine Existenz