Arthur Rosenberg

Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik


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möglich unter der Losung »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«, sondern nur unter höchster freier Selbsttätigkeit der Massen. Das berühmteste Beispiel eines solchen Volkskrieges ist die Verteidigung des revolutionären Frankreichs 1793/94 gegen das monarchistische Europa. Ebensowenig hätten die Bolschewiki 1917/20 ohne die ungeheuere Willenssteigerung der russischen Arbeiter und Bauern siegen können. Auch auf die englische Revolution von 1688 folgte der lange, schwere Krieg mit Ludwig XIV., in dem England nur siegen konnte, weil das Unterhaus alle Kräfte in der Nation lebendig machte. Die Geschichte lehrt, daß ein Volkskrieg nicht unter aristokratischem Kommando mit Zensur und Belagerungszustand zu führen ist, sondern nur durch die selbständige Aktivität der Massen.

      Ferner: Ist es erforderlich, daß in einem großen Kriege die Parteigegensätze schweigen und daß jede Kritik an der zufällig vorhandenen Regierung verstummt? Auch diese Frage ist nach der geschichtlichen Erfahrung zu verneinen. Das englische Unterhaus dachte von 1689 bis 1697 gar nicht daran, mit den konservativen »Jakobiten« Burgfrieden zu schließen, sondern es schickte sie auf den Galgen. Die Bergpartei hat 1792 bis 1794 mitten im Kriege die feudale wie die Bourgeois-Aristokratie Frankreichs niedergeworfen. Die Landesverteidigung hat wahrlich darunter nicht gelitten. Aus der rücksichtslosen Verschärfung des Klassenkampfes schöpften die Bolschewiki die Kraft, die Entente abzuwehren. Mustafa Kemal hat während des Befreiungskrieges der modernen Türkei die Alttürken mit Feuer und Schwert ausgerottet. Um die Engländer und Franzosen aus dem Lande werfen zu können, mußte Kemal zunächst den Sultan in Konstantinopel stürzen.

      In einem großen Volkskrieg wird stets die entschlossenste Partei oder Klasse, die Richtung, die am tiefsten in den Massen verwurzelt ist, die Macht an sich reißen und aus der Überwindung der innerpolitischen Gegner die Kraft zum Siege über den äußeren Feind schöpfen. Die Entwicklung in England und Frankreich während des Weltkrieges lehrt das gleiche. In beiden Ländern war die bürgerliche Demokratie fest gegründet, Arbeiter und Bauern stellten sich unter die Führung des Bürgertums, das so die Gesamtkraft der Nation mobilisierte. In beiden Ländern hat man während des Krieges rücksichtslos die politische und militärische Führung kritisiert. Ungeeignete Minister und Feldmarschälle wurden durch die öffentliche Kritik beseitigt. In England wie in Frankreich war die Arbeiterschaft politisch zu schwach, um die Macht zu übernehmen. Aber als die Schwierigkeiten sich im Laufe des Krieges häuften, kam in England Lloyd George zur Macht und in Frankreich Clemenceau. Beide verkörperten den äußersten linken Flügel des Bürgertums mit der stärksten Verbindung zu den ärmeren Volksmassen. Lloyd George hatte vor dem Kriege die Macht des aristokratischen Oberhauses gebrochen und im Bunde mit den englischen Arbeitern das berühmte Budget aufgestellt, das die Reichen aufs schärfste besteuerte. Clemenceau blickte auf vierzig Kampfjahre in den Reihen der radikalen Bewegung von Gambetta bis zur Dreyfus-Affäre zurück. So gewannen die beiden Männer die Autorität, mit der sie ihre Völker im Kriege führten. Die deutschen Lloyd George und Clemenceau waren Michaelis und Hertling. Bei beispielloser Aufopferung und Ausdauer mußte doch das deutsche Volk im Weltkriege für die Mängel seiner geschichtlichen Entwicklung büßen.

      Am 4. August hätten die Parteien im Reichstag sich sagen können, daß die Koalition Englands, Frankreichs, Rußlands und Japans gegen Deutschland den völligen Bankrott der Außenpolitik Wilhelms II. und Bethmann-Hollwegs darstellte. Mit der Kriegserklärung hört die Politik nicht auf, sondern das Schicksal Deutschlands hing mindestens ebenso wie von den Waffen von der politischen Geschicklichkeit seiner Regierung ab. Wenn es im Augenblick nicht zweckmäßig war, Bethmann-Hollweg oder gar den Kaiser abzusetzen, hätte man nicht mindestens die öffentliche Kritik an der Regierung sichern müssen? Hätte man nicht die Pressefreiheit und die Meinungsfreiheit der politischen Parteien verteidigen müssen? Hätte nicht zumindest der Reichstag über den 4. August hinaus zusammenbleiben müssen, um bei den Krisen des Krieges, die jeden Augenblick eintreten konnten, auf dem Posten zu sein? Mußten die Parteien sich nicht darüber Gedanken machen, was Deutschland in diesem Kriege bezweckte? Denn mit allgemeinen Schlagworten wie »Verteidigung« und »Sicherung« läßt sich keine Politik machen. Aber die Parteien, von den Konservativen bis zu den Sozial-demokraten, haben solche Fragen am 4. August nicht gestellt. Sie bewilligten die Kredite und ließen sich bis auf weiteres nach Hause schicken. Die Regierung behielt unangefochten die diktatorische Gewalt, alle militärischen, politischen und wirtschaftlichen Fragen zu entscheiden. Mit Hilfe von Zensur und Belagerungszustand konnte die Regierung jede politische Meinungsäußerung im Volke unterdrücken. Das war der deutsche Burgfrieden von 1914. Wie wurde er möglich?

      Es entsprach den Gedankengängen der militärischen Aristokratie Preußens, daß im Kriege der König unbedingt freie Hand haben mußte. So deckte sich der Burgfrieden zunächst mit der konservativen Anschauung. Die konservativ gestimmte Führung des Zentrums hatte ebenfalls keine Neigung, die verfassungsmäßigen Rechte des Kaisers anzutasten. Eher war Widerstand von dem liberalen Bürgertum und von den Sozialdemokraten zu erwarten. Aber beiden Gruppen fehlte der politische Machtwille, der nötig gewesen wäre, um beim Kriegsausbruch dem Reichstag neue Rechte zu erobern. In derselben Richtung wirkte die beispiellose Autorität des deutschen Generalstabs. Das Ansehen des Kaisers war seit der »Daily-Telegraph«-Affäre stark gesunken, und dem Reichskanzler Bethmann-Hollweg sowie der deutschen Diplomatie traute niemand große Fähigkeiten zu. Aber der Berliner Generalstab galt als der schweigende Hüter der Tradition von 1870. Der Generalstab hatte sich auch unter Wilhelm II. von allen Tagesstreitigkeiten und Tagesdiskussionen ferngehalten. So wirkte er als geheimnisvolle militärische Autorität ohnegleichen. Am 4. August stand man mitten in der Mobilmachung, die mit einer unheimlichen Präzision im ganzen Lande vor sich ging. Keine Partei wollte es damals wagen, dem Generalstab in die Räder zu fallen. Der Reichstag bewilligte das nötige Geld und demonstrierte die Einigkeit des Volkes. So war es auch 1870 gewesen. Dann schwiegen die Politiker, und Moltke hatte das Wort.

      Es ist historische Pflicht, auf den fehlenden politischen Willen im Reichstag von 1914 hinzuweisen. Aber ebenso muß man zugeben, daß die Abgeordneten damals unter dem Druck einer gewaltigen historischen Tradition standen, von der sie sich nicht befreien konnten. Friedrich Engels freilich hatte der deutschen Sozialdemokratie eine stärkere Selbständigkeit zugetraut. Nach seinem Rat hätte die Partei beim Kriegsausbruch verlangen müssen, daß der Krieg mit revolutionären Mitteln geführt werde. Dazu rechnete Engels in erster Linie die allgemeine Volksbewaffnung: nicht nur die Einberufung aller ausgebildeten Männer, sondern auch die sofortige Einziehung, Bewaffnung und notdürftige Ausbildung aller übrigen Leute im wehrpflichtigen Alter. So hätte jeder Arbeiter sofort sein Gewehr in der Hand gehabt, und die Gewalt der herrschenden Aristokratie wäre von selbst auch ohne Volksaufstand verschwunden. Gestützt auf die bewaffneten Massen hätte die Sozialdemokratie nach Meinung von Engels die Kontrolle über die Innen- und Außenpolitik der Regierung erzwingen können. Eine Probe darauf, ob das Rezept von Engels durchführbar war, wurde nicht gemacht; denn der sozialdemokratische Parteivorstand von 1914 machte keinen Versuch, der kaiserlichen Regierung seinen Willen aufzuzwingen und die Kriegführung in die Hand zu nehmen. Das liberale Bürgertum blieb ebenso passiv. Selbstverständlich hätte sich der absolute Burgfrieden im Sinne des 4. August nur bei einer ganz kurzen Dauer des Krieges aufrechterhalten lassen. Als der deutsche Generalstab dem Volke den erhofften schnellen Sieg nicht brachte, mußten die politischen Kämpfe der Parteien und Klassen von neuem entbrennen.

      Das deutsche Heer von 1914 vereinigte in sich alle Eigenschaften, aus denen sich die Leistungen des deutschen Volkes auf dem Gebiet der Industrie, Technik und Organisation erklären. Die Schattenseite des Heeres war die Überspannung der militärischen Disziplin, wie sie sich aus der Herrschaft der preußischen Aristokratie ergab. Das höhere Offizierskorps umfaßte eine bedeutende Zahl von Männern, die vollkommen die umfangreiche und verwickelte militärische Wissenschaft der Gegenwart beherrschten und allen Anforderungen der Truppenführung gewachsen waren. Die entscheidende Frage war, ob auch überall die richtigen Männer auf dem richtigen Posten standen und ob die Erfahrung und Leistungsfähigkeit, die in der Armee steckten, auch wirklich ausgenutzt wurden. Die Besetzung der höchsten militärischen Kommandostellen ist niemals eine rein militärische Fachangelegenheit, sondern sie hängt von den politischen Machtverhältnissen des Staates ab. Es ist niemals möglich, auf Grund der Friedensleistungen mit unbedingter Sicherheit zu beurteilen, wie ein General sich im Kriege bewähren wird. Hier sind Irrtümer auch bei der besten und sorgfältigsten Auslese unvermeidlich. Es