-Affäre bereue. Das Volk sei zwar vorübergehend durch Bülow getäuscht und seinem Kaiser entfremdet worden. Aber nun kehre es zum Kaiser zurück. Die Wirkung, die der Volkssturm von 1908 auf Wilhelm II. ausgeübt hatte, war damit ausgelöscht. Der Kaiser kehrte ohne Hemmung zu seinem alten persönlichen System zurück. Bülows Nachfolger wurde ein typischer Bürokrat, Bethmann-Hollweg, von dem nicht zu befürchten war, daß er jemals selbständige Gedanken haben oder die Autorität des Kaisers gefährden würde. Daß ein Bethmann-Hollweg im Juli 1914 deutscher Reichskanzler sein konnte, ist die schwerste Anklage, die sich gegen das alte System richten läßt.
Fürst Bülow erhielt durch seinen Abgang ein Ansehen, das ihm nicht zukam. Er galt nun weiten Kreisen als Vertreter einer modernen deutschen Staatsauffassung, der dem autokratischen Willen Wilhelms II. im Bunde mit dem reaktionären Agrariertum erlegen war. In Wirklichkeit war Bülow in den Kampf mit dem Zentrum aus taktischen Opportunitätsgründen, ohne jeden weiteren politischen Plan, hineingeraten. Ebenso hat Bülow die »Daily-Telegraph«-Angelegenheit selbst mitverschuldet, und nur weil er sich die Kraft nicht zutraute, im November 1908 dem Volkssturm entgegenzutreten, hat er auf den Kaiser gedrückt. Aber die Autorität, mit der Bülow sein Amt verließ, führte noch 1917 dazu, daß eine einflußreiche Strömung ihn als Reichskanzler zur Rettung Deutschlands wünschte.
Die Zerstörung des Bülow-Blocks hat im liberalen Bürgertum eine tiefe Verbitterung erregt. Man sah keine Möglichkeit mehr, die unhaltbaren politischen Verhältnisse Deutschlands zu reformieren. Im Besitze dieser Erkenntnis stieg das Bürgertum zwar nicht auf die Barrikade – das taten ja damals die Sozialdemokraten auch nicht –, aber es wuchs die Neigung der Liberalen, sich mit den Sozialdemokraten gegen das herrschende halbabsolutistische System und gegen die preußischen »Junker« zu verbünden.
Bei den Reichstagswahlen von 1912 schlossen die Sozialdemokraten und die Fortschrittler ein formelles Wahlbündnis. Die Nationalliberalen gingen wieder mit den Fortschrittlern zusammen. Die Sozialdemokraten errangen viereinviertel Millionen Stimmen und 110 Mandate. Was die Liberalen an die Sozialdemokraten verloren, glichen sie größtenteils durch Gewinne auf Kosten der Konservativen und des Zentrums wieder aus. Die veränderte Lage zeigte sich bei der Präsidentenwahl im neuen Reichstag. Das war damals keine bloße parlamentarische Formalität. Denn das Reichstagspräsidium mußte mit dem Kaiser persönlich verkehren. Bei dem Verhältnis, das damals zwischen Wilhelm II. und den Sozialdemokraten bestand, war die Wahl eines Sozialdemokraten in das Reichstagspräsidium eine persönliche Beleidigung des Kaisers.
Dennoch wurde bei der Wahl des 1. Präsidenten der Zentrumsführer Spahn nur mit knapper Mehrheit gewählt. Sein Gegenkandidat Bebel erhielt nicht nur alle fortschrittlichen, sondern auch 20 nationalliberale Stimmen. Und bei der Wahl zum 1. Vizepräsidenten kam der Sozialdemokrat Scheidemann, wieder mit Hilfe eines Teils der Nationalliberalen, durch17. Scheidemann mußte zwar ein paar Wochen später sein Amt niederlegen, weil er sich weigerte, zu Hofe zu gehen. Hätten ihn die Nationalliberalen noch weiter gestützt, so wäre das ein offenes Bekenntnis zur Republik gewesen. So weit war die Entwicklung noch nicht. Aber welche Wandlung hatte sich seit 1890 vollzogen! Wie mußte das deutsche Bürgertum gestimmt sein, wenn sich loyale, patriotische, von der Industrie gewählte Nationalliberale nicht anders helfen konnten, als daß sie für Bebel und Scheidemann eintraten! Aber Wilhelm II., Bethmann-Hollweg und der herrschende preußische Adel wollten von dem, was in Deutschland vor sich ging, nichts sehen und hören. Da kam im Winter 1913/14 eine neue Krise: Eine an sich unbedeutende Angelegenheit wuchs sich zu einem erbitterten Konflikt zwischen der herrschenden Gruppe und dem ganzen übrigen deutschen Volke aus.
In der kleinen elsässischen Garnisonstadt Zabern war es zu Reibungen zwischen der Bevölkerung und einigen jungen Offizieren gekommen. Es folgten Straßenkundgebungen gegen das Militär. Der Oberst des in Zabern liegenden Regiments, von Reuter, war der Meinung, daß die Zivilbehörde seine Untergebenen nicht schütze. Deshalb ließ er einige Dutzend Demonstranten durch Soldaten festnehmen und eine Nacht im Kasernenkeller festhalten. Das war ohne Zweifel ein schwerer Übergriff des Obersten, weil das Militär auf keinen Fall befugt war, Zivilpersonen in Haft zu halten. Der Oberst konnte indessen zu seiner Entschuldigung anführen, daß er in einem Notstand und in gutem Glauben gehandelt habe.
Unter anderen politischen Verhältnissen wären die Zaberner Vorfälle nur als bedauerliches Lokalereignis betrachtet worden. Aber in der politischen Hochspannung von 1913 erregten die Meldungen aus Zabern das deutsche Volk aufs tiefste. Die Massen fühlten sich schutz- und rechtlos gegenüber der Willkür der militärischen Aristokratie. Die Zaberner Gegend ist zufällig der einzige Bezirk Elsaß-Lothringens mit protestantischer Mehrheit. Dort hatte sich die reichstreue Gesinnung in Elsaß-Lothringen zuerst durchgesetzt. Lange Jahre war der Zaberner Wahlkreis, allein im Elsaß, durch einen konservativen Abgeordneten vertreten. Trotzdem hatte die Zaberner Bevölkerung sich eine solche Behandlung gefallen lassen müssen.
Im Reichstag wurde das Militär vom Kriegsminister von Falkenhayn schroff und scharf, vom Reichskanzler von Bethmann-Hollweg in seiner üblichen hilflosen Art verteidigt. Das Haus geriet in eine Erregung gegen das Offizierskorps, die in der ganzen Geschichte des deutschen Reichstags noch nicht dagewesen war. Der Verurteilung der Zaberner Vorfälle durch Sozialdemokraten und Liberale schloß sich das Zentrum an. Die wirksamste Rede gegen das herrschende Militärsystem hielt damals der badische Zentrumsabgeordnete Fehrenbach. Die Konservativen waren völlig isoliert. Mit 293 gegen 54 Stimmen bei 4 Enthaltungen stellte der Reichstag am 4. Dezember 1913 fest, daß er die Haltung der Regierung in der Zabern-Affäre mißbillige.
Die wichtigste politische Lehre aus der Zabern-Angelegenheit war, daß auch die vorsichtige Zentrumsführung mitgerissen wurde, wenn eine große oppositionelle Massenbewegung einsetzte. In wirklich ernsten Situationen hatten die preußischen Konservativen und das herrschende preußische System am Zentrum keine Stütze. Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg faßten, ebenso wie das Offizierskorps, den Zabern-Streit als Prestigefrage des herrschenden Systems auf. Das Militär behielt auf der ganzen Linie recht. Oberst von Reuter wurde am 10. Januar 1914 vom Kriegsgericht Straßburg freigesprochen. Die große Mehrheit des Volkes und des Parlaments mußte sich damit abfinden. Ein halbes Jahr später brach der Weltkrieg aus.
Der Krieg überraschte das deutsche Volk in einer innenpolitisch unhaltbaren und untragbaren Situation. Von 1908 bis 1914 hatte sich der Gegensatz zwischen der regierenden Aristokratie und den Massen des Volkes immer mehr zugespitzt. Ereignisse wie die »Daily-Telegraph«-Affäre, die Wahlen von 1912 und der Zabern-Streit bedeuteten zwar noch keine Revolution, aber es waren die typischen Vorgänge einer vorrevolutionären Epoche. Wäre 1914 der Krieg nicht ausgebrochen, so hätten sich die Konflikte zwischen der kaiserlichen Regierung und der großen Mehrheit des deutschen Volkes immer mehr gesteigert, bis zu einer direkt revolutionären Lage. So hat der Kriegsausbruch zunächst die innerpolitische Kluft überbrückt, aber nicht beseitigt. Je länger der Krieg dauerte und je schwieriger er wurde, um so stärker durchbrachen die vorhandenen Gegensätze die Hülle des »Burgfriedens«, bis dann Krieg und Revolution eins wurden.
Bismarck war der Ansicht, daß das Hohenzollern-Kaisertum trotz aller Schwierigkeiten seine innerpolitischen Gegner niederhalten könne, wenn nur der Frieden erhalten blieb. Wilhelm II. war ebenfalls bemüht, den Frieden zu bewahren. Hatte er um 1890 den russisch-französischen Krieg als unvermeidlich angesehen, so neigte er später immer mehr zur Überzeugung, daß es gelingen werde, den Frieden zu erhalten. Aber um den Frieden zu verteidigen, dazu genügt nicht die friedliche Gesinnung, sondern dazu ist vor allem eine entsprechende geschickte Politik erforderlich. Wilhelm II., seine Reichskanzler von Caprivi bis Bethmann-Hollweg und seine nähere Umgebung haben niemals den Krieg gewollt. Aber sie haben durch ungeheure Fehler Deutschland in die Situation hineinmanövriert, die zum Juli 1914 führte.
Innen- und Außenpolitik eines Staates sind voneinander nie zu trennen. Denn beide sind gleichmäßig der Ausdruck der im Staate herrschenden gesellschaftlichen Kräfte. Das innerpolitische Kräfteverhältnis Deutschlands legte die entscheidende Macht in die Hand des Kaisers, auch wenn er zur Diplomatie so wenig befähigt war wie Wilhelm II. Das Planlose und Sprunghafte seines Wesens erregte überall Mißtrauen. Die ausländischen Mächte zweifelten daran, daß es überhaupt möglich sei, mit Deutschland unter Wilhelm II. stabile Politik zu treiben. So wurde das Vertrauen zur deutschen Politik im Ausland, das Wilhelm