jede Verständigung mit dem zaristischen Rußland unmöglich. Wenn dagegen ein von der sozialistischen Arbeiterschaft geleitetes Deutschland die Revolution nach dem Osten trug, und im Verlaufe der Revolution lösten sich die Westprovinzen von Rußland los, so konnte deswegen ein neues »rotes« Rußland den deutschen Arbeitern keinen Vorwurf machen. Der Weltkrieg brachte nun aber die phantastische Situation, daß Bethmann-Hollweg und Wilhelm II. anscheinend das rote Barrikaden-Programm von Engels gegenüber dem Zarismus durchführten.
Das reale Interesse Deutschlands hätte von 1914 bis 1916 erfordert, daß man so schnell wie möglich einen Status-quo-Frieden mit Rußland und Frankreich herbeiführte. Die Auseinandersetzung mit England war um so schwieriger. Denn das englische Bürgertum hatte den Krieg zum Anlaß genommen, um den deutschen Konkurrenten in den überseeischen Ländern restlos auszuschalten. Diesem Zweck sollte nicht nur die Besetzung der deutschen Kolonien dienen, sondern auch die Beschlagnahme des deutschen Eigentums im Ausland, die Liquidation der deutschen auswärtigen Firmen und die Zerschneidung aller deutschen kaufmännischen Verbindungen. Die Vernichtung des deutschen Wirtschaftskonkurrenten war das Ziel, in dem sich England mit den großen Dominions des Britischen Reiches traf. Es sei nur an die Rolle erinnert, die der australische Ministerpräsident Hughes bei der Inszenierung des Wirtschaftskrieges gegen Deutschland spielte. Um dieses wirtschaftliche Ziel zu erreichen, mußte England die politische und militärische Macht Deutschlands brechen. So wird Englands Hauptziel im Kriege die Vernichtung des deutschen »Militarismus«, das heißt die Auflösung des deutschen Heeres und der deutschen Flotte. Demgegenüber waren einzelne territoriale Veränderungen in Europa für die englischen Staatsmänner ziemlich gleichgültig.
Zu einem Verzicht auf sein großes hauptsächliches Kriegsziel wäre England nur zu bringen gewesen, wenn es sich einem starken, geschlossenen europäischen Kontinent gegenübergesehen hätte. Eine solche europäische kontinentale Verständigung war aber nur zu erzielen, wenn Deutschland jetzt unter dem Donner der Kanonen die Fehler wieder gutmachte, die von der kaiserlichen Politik seit 1890 begangen worden waren. Man mußte, wenn auch unter Opfern, die Verständigung mit Frankreich und Rußland erzielen, um dann England zu zwingen, daß es für die kontinental-europäischen Völker den freien Wettbewerb in den überseeischen Gebieten zuließ. Die Möglichkeit für Deutschland, sich weltwirtschaftlich wie die anderen Völker zu betätigen, lag ebenso im Interesse des deutschen Bürgertums wie der deutschen Arbeiter. Die breiten Schichten des deutschen Volkes empfanden, daß England der Hauptgegner im Kriege sei.
Die Regierung hätte nicht die Kindereien und Geschmacklosigkeiten des »Gott strafe England« mitmachen sollen, aber sie hätte der allgemeinen Volksstimmung den politischen Ausdruck verschaffen müssen und den Massen klarmachen können, daß ein Erfolg gegen England nur dann möglich war, wenn Deutschland gegen Frankreich und Rußland Mäßigung zeigte. Ebenso hätte es von Anfang an klar sein müssen, daß Deutschland auch nach einem Sonderfrieden mit Rußland und Frankreich das Britische Reich und seine ungeheuere Seemacht nicht »niederzwingen« konnte, sondern daß nur ein Kompromiß zu erzielen war. Oder wenn die Regierung die entgegengesetzte Auffassung hatte, daß Deutschland zu schwach sei, um England auch nur zu einem Kompromiß zu zwingen, und daß man um jeden Preis zunächst eine Verständigung mit England brauchte, so hätte demgemäß die deutsche Außenpolitik geleitet werden müssen. Dann hätte die Regierung das Volk über diese Notwendigkeit aufklären und ihre ganze Politik auf diese Linie bringen müssen.
Aber Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg haben weder den einen noch den andern Weg eingeschlagen, denn sie hatten überhaupt keine Politik. Die grauenhafte Ziel- und Sinnlosigkeit der deutschen Außenpolitik von 1890 bis 1914 setzte sich im Kriege fort. Denn wenn die deutsche Regierung von Zeit zu Zeit erklärte, sie wolle »keine Eroberungen«, oder sie wolle durch den Frieden »Deutschlands Zukunft sichern«, so nutzten solche allgemeinen Reden für die deutsche Außenpolitik gar nichts. Im vertrauten Kreise hat Bethmann-Hollweg manchmal die Notwendigkeit eines Sonderfriedens mit Frankreich und Rußland betont14. Aber seine Handlungen und öffentlichen Erklärungen haben zumindest den Frieden mit Rußland unmöglich gemacht.
Die politische Hilflosigkeit der Reichsregierung hätte vielleicht durch Vorschläge oder eine Initiative aus dem Volke heraus überwunden werden können. Aber dazu fehlte die wichtigste Voraussetzung: Dem Volke war die wirkliche Kriegslage unbekannt. Das lag nicht an den deutschen Heeresberichten. Über die seltsamen Heeresberichte der Periode Moltke-Stein ist schon das Nötige gesagt worden. Aber unter den folgenden Heeresleitungen, Falkenhayn und Ludendorff, von Ende September 1914 bis zum Ende des Krieges sind die Tagesberichte durchaus sorgfältig und zuverlässig gewesen. Sie enthielten das, was Berichte dieser Art bieten können, nämlich Angaben, wo die Front lief und was an wichtigsten Ereignissen geschehen war. Aber das eigentlich Entscheidende über die Kriegslage kann man in die Tagesberichte nicht hineinschreiben: Die eigene Truppenstärke im Verhältnis zum Feinde, die beiderseitigen Reserven und die strategische Gesamtlage. Über diese wirkliche Kriegssituation hat das deutsche Volk, einschließlich der Parlamentarier15, nichts erfahren. Die Kriegslage war bekannt: am Hof, bei der Obersten Heeresleitung und allenfalls beim Reichskanzler. Damit hörte der Kreis der Wissenden auf.
Die Irreführung der deutschen Öffentlichkeit wurde durch den Umstand verstärkt, daß die deutschen Truppen überall in Feindesland standen und wichtige Gebiete besetzt hielten. Das Objekt der Kriegführung ist das feindliche Heer und nicht der feindliche Boden. Sieger ist, wer das feindliche Heer vernichtend schlägt. Wo die Schlacht stattfindet, ist militärisch gleichgültig. Es gab zum Beispiel einen Plan des alten Moltke für einen deutsch-französischen Krieg, wonach er die Franzosen nach Deutschland hereinlassen und bei Frankfurt am Main entscheidend schlagen wollte16. Der Zufall der militärischen Operationen hatte 1914 und 1915 das deutsche Heer nach Belgien und Polen geführt. Bei einem Umschwung der sehr zweifelhaften Kriegslage konnten die deutschen Truppen genötigt werden, diese Länder wieder zu räumen. Die Reichsregierung tat aber nichts, um das deutsche Volk auf den ganz unsicheren Charakter der sogenannten Eroberungen hinzuweisen. Weite Schichten des Volkes redeten sich ein, daß Deutschland nunmehr über die besetzten Gebiete verfügen könne.
Diese Tauschung der Öffentlichkeit über die Kriegslage entsprang einer patriarchalischen Auf fassung des Verhältnisses von Regierung und Volk. In England herrschte während des Krieges rücksichtslose Offenheit über die Lage. Parlament, Presse und Volk erörterten die günstigen und die ungünstigen Momente völlig offen auf Grund klarer Informationen. Es wäre ebenso lächerlich gewesen, wenn das regierende englische Bürgertum vor sich selbst Geheimnisse gehabt hätte, wie wenn ein Kaufmann sich scheuen würde, Bilanz über seine Geschäftslage zu machen. Die deutsche Regierung dagegen hielt es für nötig, durch Schönfärbung die Stimmung ihrer Untertanen aufrechtzuerhalten. Sie fürchtete, daß beim Durchsickern der ungünstigen Tatsachen die staatliche Autorität leiden würde. Die deutsche Regierung benahm sich wie ein sorgenvoller Familienvater, der seiner Frau und den Kindern nicht erzählen will, wie unsicher seine geschäftliche Zukunft ist. Noch seltsamer als das Schönfärben der militärischen Lage ist es, daß das deutsche Volk auch über seine Gesundheitslage im Kriege nichts erfahren durfte17. Daß die Hungerblockade viele tausende Todesopfer in der Zivilbevölkerung kostete, wurde verschwiegen. Statt dessen wurde offiziös versichert, daß die knappe Kriegsnahrung gesundheitlich auch ihre Vorteile hätte. Eine volkstümliche, die Massenpsychologie verstehende Regierung hätte statt dessen die Totenzahlen der Hungerblockade an jeder Straßenecke anschlagen lassen, wenn sie die Erbitterung gegen den Feind und die verzweifelte Kampfesstimmung steigern wollte. Wie hat man in England die Zeppelinangriffe auf englische Städte ausgenutzt, um die Kriegsstimmung aufzupeitschen!
Die Unkenntnis des deutschen Volkes von der wirklichen Kriegslage spiegelte sich in der Art und Weise wider, wie die einzelnen Schichten den Krieg beurteilten und wie sie ihn beendet wissen wollten. Die deutsche Industrie hoffte, daß ein guter Kriegsausgang ihre Rohstoffbasis verbreitern würde. Die Schwerindustrie insbesondere verfolgte den deutschen Vormarsch durch Belgien und Nordfrankreich mit ihren Hoffnungen. Die Kohle- und Eisengebiete von Luxemburg, von Belgien und von Longwy-Briey sollten unter deutsche Kontrolle kommen. So verlangte die Industrie in Eingaben und Anregungen an die Regierung die Annexion von Longwy-Briey und die Annexion, oder doch mindestens die wirtschaftliche Herrschaft Deutschlands über Belgien. Die deutschen Industriellen verfolgten also im Kriege dieselbe