für allen sozialen Groll, der in den Volksmassen steckte. Es ist schon oben betont worden, wie dieser Gegensatz sich im Fronterlebnis abschwächte, aber wie er um so stärker dort hervorbrach, wo nicht direkt gegen den Feind gekämpft wurde. Im Laufe des Krieges fand sich im Gegensatz zu den Offizieren in immer stärkerem Grade der Bauernsoldat mit den Leuten zusammen, die im Zivilberuf Arbeiter und Handwerker waren. 1918 hat der bäuerliche Soldat die Revolution zwar nicht gemacht, aber doch geschehen lassen, vielfach sogar gern geschehen lassen. Der bayrische Bauernsoldat, 1914 der Stolz der Armee, war 1918 unter den ersten, die sich unter die rote Fahne stellten.
In den Jahren 1915 bis Sommer 1918 empfanden die Massen des Volkes trotz der stets wachsenden Nöte und trotz aller Verbitterung die Verteidigung des Vaterlandes noch als unbedingte Pflicht. Aber sie wünschten, daß der Krieg so schnell wie möglich beendet werde.
Die wirtschaftliche Lage der städtischen Kaufmannschaft war im Kriege, je nach der Stellung des einzelnen, ganz verschieden. Aber sie fühlte weniger den Gegensatz zu den Arbeitern als den zu der Landwirtschaft. Sie wünschte, gemäß ihren Traditionen aus der Vorkriegszeit, die Neuorientierung Deutschlands. So begrüßten es die Fortschrittler, daß Bethmann-Hollweg diese Losung herausgab. Sie drängten auf die preußische Wahlreform. Es lag ihnen aber ganz fern, von sich aus die Initiative zur Störung des Burgfriedens zu ergreifen und der Regierung Schwierigkeiten zu machen. Erst die Schwenkung des Zentrums im Jahre 1917 hat auch die Haltung der Fortschrittspartei verändert.
Wie stand die kaiserliche Regierung zu der immer tiefer gehenden politischen und sozialen Zerklüftung des deutschen Volkes in den Jahren 1915/16? Wilhelm II. selbst zog sich mit Kriegsausbruch aus der politischen Aktivität zurück. Der Kaiser litt immer schwerer unter der Riesenverantwortung, die im Kriege bei der geltenden deutschen Verfassung auf ihm lastete. Von dem stolzen Selbstbewußtsein, das er bis 1914 gegenüber allen Fragen und Personen gezeigt hatte, blieb nidits übrig. Er hielt es für seine Pflicht, in militärischen Fragen dem Rat des Generalstabschefs und in politischen den Vorschlägen des Reichskanzlers zu folgen. So führten erst Moltke und dann Falkenhayn, ohne nennenswerte kaiserliche Eingriffe, das Armeekommando, und Bethmann-Hollweg gewann eine politische Stellung, wie sie kein Kanzler Wilhelms II. seit 1890 besessen hatte.
Die ersten beiden Generalstabschefs im Kriege hatten so viele militärische Sorgen, daß sie sich um die Politik nicht kümmerten. Bethmann-Hollweg wiederum griff niemals in die militärische Kriegführung ein. So ist es in den ersten beiden Kriegsjahren zu ernstlichen Konflikten zwischen der militärischen und Zivilleitung nicht gekommen. Zwar lag die oberste Exekutivgewalt im Reich auf Grund des Belagerungszustandes bei den stellvertretenden Generalkommandos. In jeder deutschen Landschaft hatte der zuständige Kommandierende General die oberste Verfügungsgewalt. Für die Bevölkerung hatte dies den Anschein einer Militärdiktatur. Aber wenn auch Bethmann-Hollweg nicht mit jeder Einzelverfügung eines jeden Kommandierenden Generals einverstanden gewesen sein wird, alle wesentlichen politischen Entscheidungen hatte der Reichskanzler dennoch in der Hand. Das zeigte sich besonders klar im Jahre 1916 beim Streit um den unbeschränkten U-Boot-Krieg10. Die Marine, an der Spitze der Staatssekretär von Tirpitz, war für die unbeschränkte Einsetzung der U-Boote. Der Generalstabschef von Falkenhayn schloß sich mit militärischen Gründen der Forderung der Marine an. Bethmann-Hollweg war entgegengesetzter Meinung, aus Rücksicht auf Amerika. Wilhelm II entschied zugunsten des Reichskanzlers, und Tirpitz nahm seinen Abschied. Die Erschütterung der Stellung Bethmann-Hollwegs kam erst im Gefolge der einschneidenden Veränderungen, als die Oberste Heeresleitung Hindenburgs und Ludendorffs ihr Amt antrat.
Innerpolitisch war Bethmann-Hollweg davon überzeugt, daß er den Krieg ohne und gegen die organisierte Arbeiterschaft nicht führen könne. So suchte er im Reichstag die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten aufrechtzuerhalten. Die sozialdemokratischen Führer hatten beim Reichskanzler jetzt eine ähnliche Vertrauensstellung wie die Zentrumsführung im Frieden. Wie vor 1914 die Zustimmung von Spahn notwendig war, damit die Reichsmaschine ohne äußere Reibung funktionierte, so suchte Bethmann-Hollweg jetzt die Fühlung mit Scheidemann11. Zwar hat die Sozialdemokratie von Bethmann-Hollweg nichts weiter als wohlwollende Worte und Versprechungen für die Zukunft erhalten. Aber schon dies genügte, um das Mißtrauen der militärischen Aristokratie und der Industrie zu erwecken, die sich um so unsicherer fühlten, je länger der Krieg dauerte. Bald nach Kriegsausbruch zeigte sich eine gewisse Mißstimmung der Konservativen und Nationalliberalen gegen Bethmann-Hollweg. Als dazu der Streit um die Kriegsziele kam, verwandelte sich das Mißtrauen in erbitterte Feindschaft.
Alle Klassengegensätze, wie sie an sich im modernen Europa vorhanden sind und wie sie in Deutschland die besondere Verfassungsund Kriegslage verschärfte, brachen in dem Streit um die Kriegsziele hervor. So ist die Frage der Kriegsziele die zentrale Frage der deutschen Innen- und Verfassungspolitik im Kriege geworden. Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg hatten den Krieg nicht gewollt und nicht vorbereitet. Deshalb gingen sie ohne ein klares politisches Ziel in den Krieg hinein, und sie haben im Verlauf der langen Kriegsjahre sich auch kein klares Kriegsziel gebildet. Das Urteil über den Krieg und seinen Zweck hing davon ab, wie sich Deutschland zu den drei feindlichen Großmächten in Europa künftig stellen würde.
Über das Ziel eines kommenden deutsch-französischen Krieges hatte sich Bismarck in den achtziger Jahren dahin geäußert, daß eine weitere Schwächung Frankreichs nicht im Interesse Deutschlands liege. Er, Bismarck, würde den Franzosen nach der ersten gewonnenen Schlacht den Frieden anbieten, und zwar einen Frieden, wie ihn Preußen mit Österreich 1866 geschlossen hat, das heißt einen Frieden ohne Schädigung Frankreichs und ohne Verlangen nach Landabtretung (s.o.S.32). Hätte Bethmann-Hollweg im Geist Bismarcks gehandelt, so hätte er um den 1. September 1914 den Franzosen einen solchen Frieden angeboten. Ob Frankreich darauf eingegangen wäre, ist heute mit Sicherheit nicht festzustellen. Immerhin hätte vor der Marneschlacht ein solcher großzügiger deutscher Vorschlag gewisse Aussichten gehabt. Denn die Stimmung in Frankreich war damals, infolge der Niederlagen und des Vormarsches der Deutschen auf Paris, sehr gedrückt, und die Hilfe des kleinen englischen Landheeres fiel in jenen Tagen nur wenig ins Gewicht. Die Aussichten auf einen deutsch-französischen Sonderfrieden sanken, als die Marneschlacht die Wendung in der Kriegslage brachte und als das englische Millionenheer in Frankreich aufmarschierte, wodurch Frankreich auch in seinen Kriegszielen in größere Abhängigkeit von England geriet.
Friedrich Engels empfahl ebenfalls den deutschen Sozialdemokraten, darauf zu dringen, daß Deutschland nach den ersten militärischen Siegen den Franzosen den Frieden anbiete. Bei dieser Gelegenheit solle Deutschland, um sich endgültig mit Frankreich zu verständigen, den Franzosen eine Lösung der elsaß-lothringischen Frage vorschlagen, entweder durch Volksabstimmung in Elsaß-Lothringen, oder durch Rückgabe von Metz und seiner französisch sprechenden Umgebung an Frankreich12. Es ist wichtig, daß Engels diese Konzession nach einem deutschen Sieg vorschlägt, als ein ohne Zwang gemachtes Zugeständnis im Interesse der internationalen Stellung Deutschlands. Was das deutsche Kriegsziel gegenüber Frankreich betrifft, sind in der Grundidee Bismarck und Engels, also die beiden stärksten politischen Köpfe Deutschlands seit 1870, einig. Das gibt ihrer Auffassung eine nicht unwesentliche Autorität.
Um so stärker weichen voneinander, wenigstens scheinbar, Bismarck und Engels in den Kriegszielen nach Osten ab. Bismarck hat immer wieder die Ansicht vertreten, daß Deutschland das große russische Reich, auch bei einem vollständigen militärischen Sieg, nicht vernichten könne. Es sei absurd, wenn Deutschland einen Landgewinn auf Kosten Rußlands suche. Deutschland müsse vermeiden, daß aus Rußland ebenso ein revanchelüsterner Gegner würde, wie es Frankreich seit 1871 sei. Aus solchen Erwägungen heraus hätte Bismarck sich unbedingt bemüht, aus dem deutsch-russischen Krieg so schnell wie möglich auf der Grundlage des Status quo herauszukommen. Engels dagegen empfahl den deutschen Sozialdemokraten, den Krieg mit Rußland »revolutionär«, mit dem Endziel der russischen Revolution zu führen. Deutschland solle sofort nach Kriegsausbruch an die Wiederherstellung Polens gehen. Das neue Polen müsse aber, neben Russisch-Polen, auch Galizien und ein Stück von Preußisch-Polen erhalten, etwa einen Teil der Provinz Posen. Deutschland solle für die nationale Befreiung aller vom Zarismus unterdrückten Völker Westrußlands eintreten13.
Wie man sieht, ist der Unterschied in der Ostpolitik von Bismarck und von Engels ungeheuer. Er beruht darauf,