der plötzlich spürbar werdenden Bewegung unter ihnen: Die Decke begann abzusacken! Mit lautem Knall war der mittlere Tragbalken gebrochen … Es ging doch ganz anders vonstatten, als Volpi es innerlich vorausberechnet hatte, als er noch mehr bei Sinnen gewesen war: Die Decke bekam einen eklatanten Knick, der durch die Mitte des Raumes lief, sodass die Fahrt zunächst einfach abwärts ging. Dann aber, nach kurzer Absenkung, rissen die beiden Hälften am Knick auseinander. Da, wo Volpi und Bartholdi eben noch gestanden und gestarrt hatten, war plötzlich ein Loch, durch das zunächst der Schlot des Rauchabzuges zusammenkrachend verschwand. Und dann kamen sie an die Reihe … Es ging alles so rasend schnell … Der Boden wurde zum Trichter. Ihre Anstrengungen, dem sich vergrößernden Loch zu entfliehen, kamen zu spät, nirgends bot sich ein Halt. Die schwarzen Astgerippe der Toten und ihr kohliges Totenbett rutschten zusammen. Im eigenen Abstürzen konnten Volpi und Bartholdi sehen, wie sich die beiden Kohlekörper samt ihrem Lager raspelnd in Stücke spalteten. Die Knochenreste, zuvor nur noch durch die brandige Kruste gehalten, vereinzelten sich. Und schon befanden sie sich inmitten eines Strudels aus Funken, heißen Kohlestücken, Asche, brennendem Holz und Grus, Staub und Knochensplittern, Stroh und Lehmbrocken …
Im Moment der Überraschung die Tatsache vergessend, dass vielleicht gleich alles vorbei wäre, krampfte Volpi das Gesicht zusammen und fasste rasch an die Stelle, wo gerade noch die Hand des Toten als schwarzes Nachbild ins Rutschen geriet. Er bekam in die Finger, was er dort hatte blinken sehen. Dann rasselte alles … sie mittendrin … im Mahlstrom nach unten. Direkt vor Volpis Augen passierte etwas mit Bartholdi. Er wurde zu Kohle, zu einem dieser Totenäste … Knoten von verkohltem Holz wölbten sich da, wo eben noch rußgeschwärzte Haut gewesen war … Aber das wollte sein Geist nicht mehr wahrhaben … Seine Ohren hörten noch die Stimme des Feuerreiters, der draußen eben zum dritten Mal vorbeikam. Er spürte Schmerzen im Nacken und auf der Brust, fühlte einzelne Punkte an sich, die bereits zu brennen schienen … Laute Geräusche, als würden Knochen unter großer Anspannung brechen, wie dicke spröde Hölzer … Dann wurde es schwarz vor Volpis Augen und in seinem Geist.
»Ich gebiet dir, Feuer,
Du wollest legen deine Glut,
Bei Jesu Christi teurem Blut,
Das er für uns vergossen hat,
Für unsre Sünd und Missetat,
Das zähl ich dir, Feuer, zur Buß,
Im Namen Gottes, des Vaters,
Des Sohnes und des Heiligen Geistes!
Im Namen der heiligen Dreifaltigkeit!
Im Namen der allerheiligen Dreieinigkeit!«
Jesus Nazarenus, Rex Judaeorum,
Hilf uns aus diesen Feuersnöten
Und bewahre Land und Grenz
Vor aller Seuch und Pestilenz …«
Dienstag, 17. Mai 1552
Die Vögel sangen beim Hellwerden, als ob nichts passiert wäre: Amseln, Singdrosseln, Mönchsgrasmücken, ein Girlitz. Doch um halb fünf in der Frühe war die Luft noch ganz erfüllt von den Ausdünstungen der nahen Brandstätte. Die Gefahr für die Nachbarhäuser war gebannt, der Feuerreiter hatte gute Arbeit geleistet … Das dachten selbst die, von denen man erwartet hätte, dass sie nicht abergläubisch wären. Vor allem sie selbst hatten doch gut gearbeitet! Das Haus der Schwalbe war dem Erdboden gleichgemacht, nachdem man die Besitzerin nicht gefunden und um Erlaubnis hatte fragen können. Trotzdem wollte in der Diele der Halskrause keine Freude aufkommen. Opfer waren zu beklagen … zwei schreckliche Tode … Daniel Jobst hatte zum Bier eingeladen, jeden, der sich um den Erhalt der Stadt verdient gemacht hatte. Sie rochen, als hätten sie die Nacht im Rauchfang verbracht. Krampfhaft hielt jeder seinen Krug umklammert. Der Einsturz der Schwalbe hatte ihnen die Hauptarbeit abgenommen. Sie hatten die Trümmer nur noch zur Seite zerren müssen, wobei ihnen die Verschütteten entgegengefallen waren … In einem kleinen Zelt aus Balken waren sie dem Zerquetschwerden entronnen, doch hatte kein Mittel mehr ihre völlige Reglosigkeit zu vertreiben oder zu beheben vermocht. Volpi und Bartholdi waren aus mangelnder Versorgung der Lungen erstickt und elend eingegangen.
»Keiner hätte das überleben können! Nur die Götter selbst!«, sagte Jobst. Er war so niedergeschlagen, als hätte er zwei Söhne verloren, und raufte sich das Haar, laut sich selbst anklagend: »Wie habe ich sie nur noch mal hineinlassen können? Was für ein törichter Gedanke, in einen brennenden Dachstuhl zu steigen!«
»Ich habe es gesehen, sie waren kaum am Kamin, als der Boden unter ihnen wegbrach!«, ließ sich Kilian Buhlmann vernehmen, der das Haus rechts neben der Schwalbe bewohnte.
»So ganz stimme ich dir nicht zu!«, wandte sein Sohn Michael ein. »Mir wollte scheinen, als ob sie noch etwas gesehen hatten. Sie verharrten noch eine ganze Weile vor etwas, das aussah wie … wie eine verkohlte Bettstatt.«
»Wie fürchterlich – ein verkohltes Lager … Bist du sicher? … Könnte es vielleicht sein, dass dort … ich meine ja nur … die Schwalbe …?«, fragte Buhlmann senior.
»Das werden wir nun leider nicht mehr erfahren …«, meinte der Sohn. »Was hängt auch daran, nur noch rauchende, üble Nachrede … Die Schwalbe war vielleicht lebenslustig, aber sie war nicht die Besenreiterin, die alle aus ihr machen wollten … Schrecklich, dass ich noch gestern mit ihr stritt! Es ist ein Jammer, es ging genau um das, was dann eintrat: Sie hat die Wette-Herren bestochen, um sich vor der Reparatur des Schlotes zu drücken … Ich hab es gehört, als sie die Runde machten. Jetzt wäre es beinahe schiefgegangen …«
»Mein Guter«, sagte Jobst, »es ist schiefgegangen! Nämlich für die Schwalbe und für zwei Unerschrockene …« Er stockte und bedeckte seine Augen mit der rechten Hand. »Lasst uns auf das Seelenheil der Toten da drinnen anstoßen! Was geschehen ist, war so unnötig! Wir hätten sie zurückhalten müssen: Für immer wird dieses furchtbare Versäumnis auf uns lasten …«
Groenewold war nicht da; der schrullige alte Mann stieg nur im Notfall vom Turm, um sein selbstgewähltes Zusatzamt auszuüben. Kaum war eine Gefahr gebannt, verschwand er wieder. Es war freilich ihr aller Verdienst, die Stadt vor Schlimmerem bewahrt zu haben. Und es war viel Glück dabei gewesen, im großen Unglück …
»Bring Groenewold seine Quart auf den Turm!«, sagte Jobst zu einem seiner Gehilfen. »Und nimm eine für den Küster Eck mit, damit er dich hinauflässt!«
Damian Baader, der Wundarzt, kam aus dem dem früheren Kontor von Jonathan Unruh, in dem Volpi und Bartholdi aufgebahrt lagen. Sie hatten ihren Einsatz teuer bezahlt … Baader, dem man seine 55 Jahre keineswegs ansah, nahm einen Krug, trank begierig und wischte sich genüsslich den Bierschaum vom Mund. Er sah die Blicke aller Anwesenden auf sich vereint. Ihre Trauermienen machten ihn komischerweise lächeln … Der Alkohol, dachte Jobst …
»Gott sei’s gepriesen! Bartholdi, der Großarchivar und Narr … Und Volpi – der große Harnologe, Botaniker und Logiker …«
Baader griente blöde und musste sich auf eine Stuhllehne stützen, so schüttelte ihn das lautlose Lachen, allen horribel und unverständlich. Oh, die Trunksucht, dachte Jobst nur.
»Ihr müsst seine Abhandlung über den menschlichen Harn lesen: de urinis … Man möchte ihn allein dafür in den Olymp setzen. Er würde Jupiter selbst bitten, ihm eine Probe zu liefern, um ihm zu sagen, ob er Asparagus oder Beta rossa genossen hat. Auch ob er mehr dem Biere oder dem Weine zugeflüstert …«
Jobst seufzte. Der Arme … Wem von diesen beiden Baader wohl zugebrüllt hatte? Man sollte sich nicht mehr in seine Obhut begeben. Das schien sicherer … Aber der Wundarzt kriegte sich wieder ein – unter Aufbietung aller Willenskraft, konstatierte Jobst verächtlich bei sich.
»Diese Narren … Torheit … Torheit schützt vor Alter nicht … Es klingt verquer und unmöglich – aber sie leben! Sie sind beide am Leben!«
Die Anwesenden wurden zu Salzsäulen. Dem dicken Hus lief das Bier aus dem Maul, denn er vergaß zu schlucken. Der Bergmeister Adener seufzte laut.