dass er in dieser Gesellschaft hier draußen vor ihrer Tür stand! – Er sehnte sich danach, sich in die Arme seiner Mutter zu werfen. Es war ihm, als liefere er sich dem General vollständig aus, sobald er die Türklinke losließe.
Während er noch so mit der Hand auf der Türklinke dastand, sah er, wie die eine Flurtür aufgemacht wurde und der General über die Schwelle trat, um ins Freie hinauszugehen.
Auf dem Dachboden und auch auf der Treppe war es ganz dämmerig gewesen, durch die Türöffnung aber strömte mehr Licht herein, und in dieser Helle sah Adrian nun zum ersten Male die Gesichtszüge des Generals.
Es war, wie Adrian erwartet hatte, das Gesicht eines alten Mannes, das er von dem Gemälde im Salon recht gut kannte. Über diesen Zügen aber lag nicht die Ruhe des Todes, sie drückten eine wilde Begierde aus, und um den Mund schwebte ein unheimliches Lächeln von Triumph und Siegesgewissheit.
Aber dies zu sehen, nämlich wie irdische Leidenschaften sich bei einem Toten widerspiegelten, war etwas Erschreckendes. Weit, weit entfernt von den Leidenschaften und den sinnlichen Lüsten der Menschen wollen wir uns unsere Toten denken. Weit entfernt von allem Irdischen wollen wir sie sehen, nur allein von himmlischen Dingen erfüllt. In diesem Wesen aber, das sich an das Irdische anklammerte, glaubte Adrian einen Verführer zu erblicken, einen bösen Geist, der ihn ins Verderben ziehen wollte.
Er wurde von Entsetzen überwältigt. In besinnungsloser Angst riss er die Tür zum Schlafzimmer der Eltern auf, stürzte hinein und rief: »Vater! Mutter! Der General!«
Und in demselben Augenblick fiel er ohnmächtig zu Boden.
Die Feder entfällt meiner Hand. Ist es nicht zwecklos, all dies niederzuschreiben? Mir ist diese Geschichte in der Dämmerung am Kaminfeuer erzählt worden. Die überzeugende Stimme klingt mir noch in den Ohren. Ich fühle, wie mir der richtige Gespensterschauder noch über den Rücken läuft, dieser Schauder, der sich nicht nur vor Schrecken, sondern auch vor Erwartung einstellt.
Wie gespannt lauschten wir doch dieser Geschichte, gerade, weil sie einen Zipfel von dem Schleier des Unerforschlichen zu lüften schien! Welche merkwürdige Stimmung hinterließ sie doch, wie wenn nun endlich etwas aus dem großen Dunkel hervortreten müsste!
Wie viel ist daran wahr? Die eine Erzählerin hat sie von der andern geerbt, die eine hat etwas dazugetan, die andere einiges weggelassen. Aber enthält sie nicht wenigstens einen kleinen Kern Wahrheit? Macht sie nicht den Eindruck, die Schilderung von etwas zu sein, was sich wirklich zugetragen hat?
Der Geist, der im Schloss Hedeby umging, der sich auch am helllichten Tag zeigte, der in den Gang des Haushalts eingriff, der verlorene Sachen wieder herbeischaffte – wer war es, was war er?
Zeigt sich nicht etwas ungewöhnlich Deutliches und Festes in seinem Auftreten? Unterscheidet er sich nicht durch eine gewisse Eigenart von den vielfältigen Herrenhofgespenstern? Sieht es nicht so aus, als habe Jungfer Spaak ihn wirklich die Äpfel an die Wand des Speisesaales werfen hören und als sei ihm der junge Baron Adrian tatsächlich über den Dachboden und die Bodentreppe hinunter gefolgt?
Aber hier in diesem Fall, hier in diesem Fall … vielleicht, dass einer von denen, die schon jetzt die Wirklichkeit sehen, die hinter der Wirklichkeit liegt, in der wir jetzt leben, das Rätsel deuten kann.
Elftes Kapitel
Der junge Baron Adrian lag bleich und bewegungslos in dem großen Bett der Eltern. Wenn man ihm den Finger auf das Handgelenk legte, fühlte man, wie das Blut noch durchströmte, aber fast unmerklich. Er war nach der tiefen Ohnmacht noch nicht wieder zur Besinnung gekommen, das Leben war jedoch noch nicht erloschen.
Im Kirchspiel Bro gab es keinen Arzt; ein Knecht war schon um vier Uhr morgens nach Karlstadt geritten, um zu versuchen, einen herbeizuschaffen. Immerhin musste man darauf gefasst sein, dass es einen oder auch zwei Tage dauern könnte, bis er sich einfand.
Die Baronin Löwensköld saß an der einen Seite des Bettes und wendete kein Auge von dem Gesicht des Sohnes. Sie schien zu glauben, der schwache Lebensfunke würde nicht erlöschen, solange sie, ihn unaufhörlich bewachend, am Bette saß.
Der Baron saß auch zeitweilig auf der andern Seite, ihm aber war es nicht möglich, sich ruhig zu verhalten. Er nahm die eine schlaffe Hand des Sohnes zwischen seine beiden und fühlte den Puls, er trat an das Fenster und schaute auf den Weg hinaus, er machte eine Runde durchs Zimmer, um auf die Uhr im Speisesaal zu sehen. Dabei beantwortete er die eifrigen Fragen, die in den Augen seiner Töchter und der Erzieherin zu lesen waren, mit einem Kopfschütteln und ging ins Krankenzimmer zurück.
Da hinein durfte außer Jungfer Spaak niemand kommen. Nicht die Töchter, auch keines der Dienstmädchen, nur die Jungfer. Sie hatte den rechten Gang, die rechte Stimme, sie passte in ein Krankenzimmer.
Jungfer Spaak war bei Adrians Aufschrei mitten in der Nacht aufgewacht. Als sie gleich darauf den schweren Fall hörte, war sie eiligst aufgesprungen und hatte sich, sie wusste nicht wie, in ihre Kleider geworfen; denn das gehörte zu ihren Weisheitsregeln, dass man niemals unbekleidet hinauslaufen soll, weil man sich dann nicht nützlich machen kann. Im Saal war sie der Baronin begegnet, die, um Hilfe herbeizurufen, rasch daherkam, und dann hatte sie mit den Eltern Adrian auf das große Doppelbett gehoben. Zuerst hatten alle drei geglaubt, er sei schon tot, dann aber hatte Jungfer Spaak eine kleine Bewegung am Puls des Handgelenks bemerkt.
Sie hatten einige der gewöhnlichen Wiederbelebungsversuche vorgenommen; der kleine Lebensfunke war aber äußerst schwach, und bei allem, was sie versuchten, schien er nur schwächer zu werden. Bald verloren sie den Mut und wagten nichts mehr zu tun.
Die Baronin hatte Jungfer Spaak gern um sich, weil sie ganz ruhig und felsenfest davon überzeugt war, dass Adrian bald wieder aufwachen würde. Sie ließ sich von der Jungfer alles tun, was diese wollte: das Haar kämmen und die Schuhe anziehen. Als das Kleid übergeworfen werden sollte, musste sie aufstehen, sie überließ es aber der Jungfer, das Kleid zuzuknöpfen und zurechtzuziehen, während sie kein Auge von dem Gesicht des Sohnes wendete.
Die Jungfer kam mit einer Tasse Kaffee herein und brachte sie durch hartnäckiges Zureden dazu zu trinken.
Die Baronin hatte das Gefühl, die Jungfer sei die ganze Zeit bei ihr drinnen. Jungfer Spaak aber war auch draußen in der Küche und sorgte dafür, dass die Leute ihr Essen wie gewöhnlich bekamen. Sie vergaß nichts. Sie war blass wie der Tod, aber sie versäumte keine ihrer Pflichten. Das Frühstück der Herrschaften stand zur rechten Zeit auf dem Tisch, und für den Hirtenbuben war der Rucksack bereit, als er mit den Kühen auf die Weide zog.
In der Küche fragten die Dienstboten, was denn dem jungen Herrn Baron zugestoßen sei, und die Jungfer sagte, das Einzige, was man wisse, sei, dass er zu den Eltern hineingestürzt sei und etwas vom General gerufen habe. Daraufhin sei er in Ohnmacht gefallen, und jetzt sei es unmöglich, ihn wieder zum Bewusstsein zu bringen.
»Eins ist sicher und gewiss, der General ist ihm erschienen«, sagte die Köchin.
»Ist es nicht merkwürdig, dass er einen von seiner eigenen Familie so unfreundlich behandelt?«, wunderte sich das Stubenmädchen.
»Ach, es ist ihm wohl die Geduld ausgegangen. Sie haben ja immer nur über ihn gelacht. Er will eben seinen Ring haben.«
»Du wirst doch nicht glauben, dass der Ring sich hier auf Hedeby befindet?«, sagte das Hausmädchen. »Er wäre ja imstande, uns das Haus über dem Kopf anzuzünden, um ihn wiederzubekommen.«
»Gewiss steckt der Ring hier in irgendeinem Winkel, sonst würde er doch nicht immerfort hier im Hause herumstreichen.«
Jungfer Spaak machte an diesem Tag eine Ausnahme von ihrer guten Regel, nie auf das zu hören, was die Dienstboten über ihre Herrschaft sagten.
»Was ist denn das für ein Ring, von dem ihr redet?«, fragte sie.
»Ja, weiß denn die Jungfer nichts davon? Der General geht hier um und sucht seinen Siegelring«, antwortete die Köchin, die sich über die Frage freute.
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