Andi Weiss

Für mich bist du ein Wunder


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nicht. Wer sich ihr jedoch trotz ihres Übergewichts freundschaftlich zuwende, der habe sie wirklich gern. Auf den könne sie bauen. Dieser Gedanke helfe ihr ungemein …

      Meine Erfahrung ist, dass sich viele Menschen unnötige Selbstwertprobleme machen, nur weil sie einem Schönheitsideal nicht entsprechen. Frauen leiden jahrzehntelang an einem zu kleinen Busen, an dünnen Haaren, an kurzen Beinen, an einer krummen Nase usw. Männer leiden jahrzehntelang an einer kleinen Statur, an einer „Hühnerbrust“, an schlaffen Armmuskeln, an einer frühen Glatze usw. Dabei kommt es im Leben auf solche Attribute wenig an. Man liebt das Wesen einer Person, ihre positiven Eigenschaften, ihr sonniges Gemüt, ihre kleinen Eigenheiten und speziellen Talente. Im besten Fall liebt man die Person selbst, erschaut sie mit den „Augen der Seele“ in ihrer Einzigartigkeit und Einmaligkeit. Was die physischen Augen dann sehen – ihre Haare, Haut, Figur etc. – tritt zurück. Natürlich ist ein harmonischer Anblick immer erfreulich, und jeder vernünftige Mensch wird alles tun, um sich gepflegt und geschmackvoll zu präsentieren, doch das, worauf es in dauerhaften Beziehungen ankommt, ist auf höherer Stufe angesiedelt.

      In diesem Zusammenhang haben es zwei Personengruppen extrem schwer und zwar die bildschönen Frauen und die reichen Männer. Sie werden umschwärmt und begehrt. Aber leider wissen sie nie, ob bei einer Annäherung seitens einer anderen Person sie gemeint sind oder ihre hübschen Gesichtszüge bzw. ihre dicken Brieftaschen. Nie können sie sicher sein, dass sie selbst geliebt werden; dass das geliebt wird, was sie sind, unabhängig von dem, was sie haben bzw. zu bieten haben. Ähnlich schwer haben es berühmte Leute, weshalb ihr Privatleben häufig von Beziehungskrisen durchgeschüttelt wird. Sie sind nicht zu beneiden.

      Ein anderer Aspekt ist, ob man sich selbst gefällt. Narben im Gesicht, wie sie meine Patientin hatte, tun bei jedem Blick in den Spiegel weh. Das ist keine Frage. Auch für Frauen, deren Brüste wegen Krebsbefall amputiert werden mussten, ist der Anblick des nackten Körpers im Spiegel oft schwer zu ertragen. Was da noch helfen kann, ist einzig und allein die tiefe Überzeugung, dass zum Menschsein mehr dazugehört als der körperlich-seelische Organismus, der unser Menschsein ermöglicht. Eigentliches Menschsein zeichnet sich in seiner geistigen Dimensionalität ab, in seiner „Gotteskindschaft“, wie man es religiös ausdrücken würde. „Die Eltern geben bei der Zeugung ihre Chromosomen an ihre Kinder weiter – aber sie hauchen ihnen nicht den Geist ein“, hat mein einstiger Lehrer Viktor E. Frankl geschrieben. Dank dieser Geistigkeit ist der Mensch in der Lage, mit äußeren und inneren Gegebenheiten auf persönliche Weise umzugehen und sein Leben selbständig zu gestalten. Es wohnt aber auch die Wertefühligkeit, Gläubigkeit und Sehnsucht nach Sinn in ihm, die nichts anderes ist als eine zarte „Rückerinnerung“ des Geschöpfs an seinen Schöpfer. Wer ein solches Menschenbild hat, der weiß sich in seinem innersten Kern heil und unzerstörbar, weiß sich „urangenommen“. Da fällt dann beides leichter: ein eventuelles Nichtangenommensein seitens irgendwelcher Mitmenschen, wie auch die Selbstannahme trotz irgendwelcher körperlicher Defekte.

      Prof. h.c. Dr. Elisabeth Lukas, emeritierte Hochschuldozentin, Jahrgang 1942, Perchtoldsdorf bei Wien

      Das Lied vom Zaun

      Wir schrieben das Jahr 1982. Die Supermächte standen sich bis an die Zähne bewaffnet gegenüber. Der Kalte Krieg tobte. In aller Munde die Nachrüstungsdebatte, der Nato-Doppelbeschluss. Pershing-II- und SS-20-Raketen wurden aufgestellt.

      Ich war damals hauptamtlicher Jugendleiter und wohnte in Hof, im Norden von Bayern, an der Grenze zur DDR. Viele trieb die Sehnsucht nach Frieden damals auf die Straße. Die Ostermärsche waren im Grunde Großdemonstrationen. Der Dekanatsjugendtag 1982 sollte unter dem Motto „Unterwegs zum Frieden“ stehen. Neue Lieder wollten wir singen, gegen diesen Wahnsinn und für unsere große Hoffnung.

      Wenige Tage zuvor stand ich mit Kindern meiner Jugendgruppe am Schlagbaum an der Alten Ölsnitzer Straße, kurz hinter Kirchgattendorf, nur wenige Meter vom Minenfeld, von Selbstschussanlagen und vom Zaun entfernt. Die neunjährige Susanne zeigte nach drüben und sagte: „Dort drüben wohnt meine Cousine. Mit der darf ich erst spielen, wenn sie fünfundsechzig ist. Und dann mag ich nicht mehr mit ihr spielen.“

      Das traf mich ins Herz. Welches Lied können wir in Anbetracht dieser Situation singen? Wir, die wir in Albträumen Raketen über uns hinwegfliegen sehen; wir, die wir uns immer wieder durch den Zaun, den Stacheldraht zu getrennten Verwandten und Freunden hinübersehnen? Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und brachte ein Lied zu Papier, das all die Bilder enthielt, die ich so klar und deutlich vor mir sah:

      Das Lied vom Zaun

      Ich war zum ersten Mal am Zaun,

      wollt’ mit eigenen Augen schaun.

      Ich war zum ersten Mal am Zaun –

      jetzt träumen, hoffen, Friedensschlösser baun.

      Will einen Weihnachtsbaum ins Minenfeld pflanzen,

      will am Schlagbaum Volkstänze tanzen.

      Von Gattendorf rüber nach Ölsnitz fahren,

      wie es mal möglich war vor Jahren,

      und dem Gegenverkehr mit der Lichthupe blinken,

      jedem Auto vor Freude wie wild zuwinken.

      Am Dreiländereck will ich Wasserräder baun,

      möchte ungesiebt rüber nach Rossbach schaun.

      Will von Wachturm zu Wachturm Girlanden winden,

      und wo Minen waren, Champignons finden.

      Die Grenzpfähle mit lustigen Hütchen schmücken

      und in Mödlareuth an der Mauer Blumen pflücken.

      Ich will aus Stacheldraht Kränze flechten,

      will mit dem Wachsoldat eine Nacht durchzechen.

      Einen Wachturm dann als Kanzel verwenden

      und es hinausschreien an Ecken und Enden:

      Wir wolln diesen Zaun aus den Angeln heben,

      um endlich als ein Volk zusammenzuleben.

      Wir sangen das Lied dann in der Hofer Michaeliskirche – Jugendliche, die nie etwas anderes kannten als den Zaun hinter der Haustür, und Erwachsene, die von ihren Eltern hörten, wie es damals war, als man noch ohne Visum nach Plauen fahren konnte. Manche haben geweint. Andere fanden es peinlich, dass von „einem Volk“ die Rede war. Das Lied geriet in Vergessenheit.

      1989 riefen die Menschen bei den Montagsdemos in der DDR: „Wir sind das Volk!“ Und im November sah ich dann die Bilder des Liedes Wirklichkeit werden. Ich saß vor dem Fernseher und beobachtete aufgeregt, wie die Trabbis anrückten, wie die Schlagbäume hochgingen und die Lichthupen blinkten.

      „Genau das hab ich gesehen!“, rief ich meiner Frau zu.

      Bei den Montagsdemos in Leipzig konnte man die Menge „Wir sind ein Volk!“ rufen hören. Und ich sah auch die letzte Zeile meines Liedes Realität werden. Leider habe ich damals nie mit einem Wachsoldat eine Nacht durchgezecht, aber wie so viele war ich trunken vor Freude. In den oberfränkischen Kirchen beteten wir in Dankgottesdiensten den 126. Psalm:

      „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein. Dann wird man sagen unter den Heiden: Der Herr hat Großes an ihnen getan!“

      Mir ist das alles noch sehr nah und doch ist es bald zwanzig Jahre her. Susanne hat mittlerweile mit ihrer Cousine gespielt oder sie waren als Teenager in der Plauener Disco. Nach Ölsnitz ist es jetzt keine Weltreise mehr, sondern ein Katzensprung. Die Blumen in Mödlareuth habe ich gepflückt – dort, wo einst die Mauer das Dorf teilte. Das habe ich mir nicht nehmen lassen. Genauso wenig wie das Träumen und das Hoffen und das Glauben und das Singen. Gegen alle Vernunft oder gerade ihr folgend.

      Horst Bracks, Pfarrer, Jahrgang 1965 , Heilsbronn

      Ein Überfall in der Sandgrube

      Angefangen