dem alle Plattdeutsch sprachen. Ich war sieben und schüchtern.
Immerhin gab es da diese Sandgrube bei dem kleinen Waldstück hinter unserem Haus, die ich bei einem meiner ersten zaghaften Spaziergänge entdeckt hatte. Ich liebte es, darin zu spielen. Ich saß im Sand und widmete mich meinem Spiel. Ich baute einen Zoo. In einem Weckglas hatte ich Tiere gesammelt: einige Marienkäfer, zwei Regenwürmer, einen Tausendfüßler, einen kleinen Frosch, einen dicken schwarzen Mistkäfer, drei Raupen, einen Ohrenkneifer – den hatte ich im Hausflur aufgelesen und von meiner Mutter ein dickes Lob bekommen – und einige Ameisen. Sie alle krabbelten im Glas munter durcheinander. Ab und zu klopfte ich auf den Deckel, damit die Ameisen, die die Wände hochkletterten, nicht durch die Luftlöcher entkommen konnten, sondern wieder zurück auf den Boden fielen. Für jede Tierart grub ich ein eigenes Gehege in den Sand. Das für den Frosch war besonders tief und hatte einen kleinen See, den ich mit Plastikfolie ausgelegt und mit Wasser gefüllt hatte. Der Mistkäfer bekam eine Höhle. Für die Raupen baute ich eine Hütte aus Ästen und Blättern.
Ich war so versunken in meine Arbeit, dass ich die Schritte auf dem Trampelpfad überhörte, der aus dem Wald zur Sandgrube führte. Eine Art Indianergeheul setze ein. „Da ist der Neue! Los, auf ihn!“ Sand spritzte in mein Gesicht. Ich war völlig überrumpelt, wurde umgestoßen, und ein fetter Kerl, sicher neun oder zehn, setzte sich auf mich. Er drückte seine Knie auf meine Arme. „Hey, was soll das?“ schrie ich den Dicken an. „Was das soll? Du wirst gleich sehen, was das soll!“ zischte er und drückte sein ganzes Gewicht auf meine Arme. Ich heulte auf. „Das ist unsere Sandgrube“, meldete sich eine zweite Stimme und bellte mich an: „Was hast du hier verloren?“ „Aber ich …“ Ich konnte nicht weiterreden, der zweite Angreifer schob mir eine Handvoll Sand in den Mund. Ich spukte und prustete. Doch schon folgte die nächste Fuhre Sand.
„Du meinst, dass man sich als Neuer alles erlauben kann? Nicht mit uns, Freundchen, nicht mit uns. Ist das klar?“
Und wieder rieb er mir Sand in den Mund, während der andere mich festhielt. „Holger, das ist genug“, sagte der erste Angreifer jetzt. „Was, schon genug?“ Holger schien enttäuscht. „Ich weiß was Besseres. Schau mal da.“ Ohne loszulassen, zeigte er mit dem Kinn auf das Glas. „Na, Sandfresser, was willst du zuerst? Einen Regenwurm oder eine Raupe?“ Er lachte schallend los, Holger lachte mit.
Ich begann zu zappeln und versuchte, mich zu befreien. Doch der Angreifer hockte schwer auf mir und ich wurde ihn nicht los. In meiner Verzweiflung spuckte ich ihn an. Oder vielmehr: Ich versuchte es. Aber mein Mund war noch voller Sand und der Brei aus Spucke und Sand fiel zurück in mein eigenes Gesicht. Holger und sein Kumpel bogen sich vor Lachen.
„Der sabbert ja, der Kleine, wie niedlich.“
„Nein, dem läuft das Wasser im Munde zusammen.“ Holger gluckste vor Vergnügen über seinen Witz. Er nahm jetzt das Glas, schraubte es auf und fingerte nach einem Regenwurm. „Sieht lecker aus, was, Sandfresser?“
Er schwenkte den Regenwurm über mein Gesicht. Der ringelte sich nervös hin und her, zog sich zusammen und dehnte sich wieder, ihm schien kaum weniger unbehaglich zumute zu sein als mir. Ich nahm noch einmal alle Kraft zusammen und warf mich hin und her. „Lass mich los! Was soll das denn?“
Doch ich kam nicht frei. Der Dicke hielt mich noch fester und rammte mir eine Faust in die Seite. Holger griff nach meinem Kinn. Mit der anderen Hand schwenkte er den Regenwurm.
„Lecker, lecker, lecker! Wo du herkommst, ist es da nicht wie in China, wo man gerne Regenwürmer isst?“
Ich war erschöpft. Die Hand, die mein Kinn hielt, war zu stark. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich schloss die Augen und erwartete angewidert den Wurm.
Plötzlich knallte etwas. „Au!“, heulte Holger neben Hannes auf. Eine Hagebutte hatte ihn am Kopf getroffen, Samenkerne und Saft klebten an seiner Stirn. Schon kam die nächste geflogen. Und noch eine. Vor Schreck lockerte der Dicke seinen Griff. Ich reagierte sofort. Ich warf ihn ab und stürzte mich auf ihn mit einer Hand voll Sand, die ich dem überraschten Typen ins Gesicht klatschte. Im selben Moment stürzte sich jemand auf Holger. Nach einem kurzen Handgemenge saß ich auf dem Dicken, der Unbekannte auf Holger. „Spinnt ihr eigentlich, oder was? Er hat euch doch gar nichts getan“, brüllte mein unerwarteter Retter jetzt und stieß Holger sein Knie so fest in die Seite, dass der aufstöhnte.
„Haut bloß ab!“, knurrte er sauer und rutschte zur Seite. Ich ließ den Dicken ebenfalls frei, und die beiden rannten durch den kleinen Trampelpfad davon. Ich sah ihnen nach, dann sah ich meinen Retter an. Ein dunkelhaariger Junge, dessen Gesicht mit Sommersprossen übersät war, etwas älter als ich. Er grinste mich an.
„Ich bin Martin“, sagte er und streckte mir seine Hand entgegen, „hab ich gerne gemacht, ich kann die beiden sowieso nicht leiden.“
So begann unsere Freundschaft. Bald waren wir unzertrennlich. Wir übten Flugkopfbälle auf der Dorfwiese, machten Fahrradtouren. Im Sommer fischten wir Forellen in den kleinen Teichen rund ums Dorf, im Winter fuhren wir auf der Waldpiste unsere Schlitten kaputt. Wir rauchten heimlich gemeinsam die erste Zigarette. Wenn wir mal wieder etwas ausgefressen hatten, warnten unsere Eltern uns gegenseitig vor dem schlechten Umgang. Recht hatten beide.
Eine Freundschaft in Nordfriesland mit einer gewissen Tom Sawyer Romantik. Nur, dass ich sie wirklich erlebt habe. Als junge Erwachsene trennten sich unsere Wege durch Ausbildung und Studium. Bei einem Wiedersehen nach Jahren merkten wir beide mit etwas Wehmut, dass der Zauber verflogen war. Alles hat seine Zeit. Unsere Leben passten nicht mehr zusammen. Martin war ein Einsiedler geworden, ich ein Großstadtmensch.
In diesem Jahr werde ich 56. Fast ein halbes Jahrhundert ist seit dem Überfall in der Sandgrube vergangen. Wenn ich heute zurückblicke, merke ich, dass ich ihr eine Grunderfahrung verdanke: Da war ein Freund, der mich gerettet hat. Jemand, den ich zunächst nicht kannte, und der trotzdem für mich gekämpft hat. Einer, der sich auf die Seite des Schwachen und Unterlegenen gestellt hat. Ein Wunder, irgendwie.
Und so ist es kein Wunder, dass sich diese Erfahrung sogar in meinem Glaubensleben spiegelt. Bei mir ging ab der Pubertät und als junger Erwachsener vieles schief, ich wurde suchtkrank. Dann fand ich zum Glauben. Ich erlebte, wie Jesus mich gegen die Übermacht von Alkohol und Spielhallen in Schutz nahm. Er hat mich rausgehauen und freigemacht. Jesus ist mein Freund geworden.
Uwe Heimowski, Pastor, Jahrgang 1964, Gera
Das Geschenk
Liebe Anna,
wir haben uns lange nicht gesehen. 38 Jahre ist es her – und ich frage mich, wie es dir seitdem ergangen ist.
Weißt du noch, damals in der 1. und 2. Klasse, da waren wir Freundinnen. Wir, zwei schüchterne 7-Jährige, die gern Latzhosen trugen und im Unterricht miteinander flüsterten. Ich erinnere mich noch gut an deine roten Wangen, dein Lächeln, deinen inneren Frieden.
Du wusstest es nicht, aber mein Leben damals war schwierig. Inneren Frieden kannte ich nicht. Ich wohnte bei meiner Mutter, aber ein richtiges Zuhause hatte ich nicht. „Sicherheit“ und „Geborgenheit“ waren Worte, die ich hörte, aber nicht verstand. Es war eine dunkle Zeit.
Schon im Kindergarten hatte ich mich sehr auf die Schule gefreut. „Schule“ hieß für mich „groß werden“ – und das wollte ich! So einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte, war es dann aber doch nicht. Die Tage vergingen auch in der Schule nicht schneller als zu Hause, das Lernen war anstrengend und alles war mir zu laut, zu schnell, zu viel.
Umso mehr freute ich mich, dass du da warst. Wir verbrachten gern Zeit zusammen – und eines Tages hattest du Geburtstag. Viele deiner Freunde waren eingeladen, auch ich. Ich hatte schon gehört, was man sich so schenkte: Puppen mit Klappaugen, Rollschuhe mit richtigen Stiefeln dran und sogar kleine Kassettenrekorder! So teure Sachen! Ich staunte nicht schlecht.
Über deine Einladung freute ich mich, aber ich hatte auch Angst. Würde meine Mutter überhaupt erlauben, dass ich komme? Und wenn nicht, wäre ich dann noch deine Freundin? Und was sollte ich dir schenken, ich hatte nicht viel! Von meiner Mutter bekam ich Taschengeld,