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BRÜCHIGE ZEITEN
LUIS STABAUER
BRÜCHIGE ZEITEN
Roman
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von:
MA 7 – Kulturabteilung der Stadt Wien
Land Oberösterreich
Luis Stabauer
Brüchige Zeiten
Wien, Hollitzer Verlag, 2020
Lektorat: Teresa Profanter
Umschlaggestaltung und Satz: Daniela Seiler
Coverfoto: „Eher geht Europa durch ein Nadelöhr, …“
© Leonie Stabauer, Málaga
Hergestellt in der EU
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-99012-809-1
GABY KALONER
Wo bin ich?, denkt sie noch im Halbschlaf und spürt eine Hand am Oberarm. Sie öffnet die Augen. Eine Frau im grauen Schlafanzug sitzt an ihrem Bettrand. Vor dem vergitterten Fenster stehen zwei weitere Frauen. An der Wand hängt ein Kalender. Jänner 2019 kann sie lesen.
„Du hast die halbe Nacht geweint“, sagt die Frau neben ihr und zieht ihre Hand zurück. „Das haben wir in den ersten Nächten alle. Denk nicht zu viel nach, das hilft. Wie heißt du?“
Die Frau dürfte in ihrem Alter sein, so um die vierzig.
„Lucía, Lucía Gruber“, sagt sie. „Entschuldige, ich habe mich nicht gleich orientieren können.“
„Jö, a feina Pinkel, orientieren hat sa si net kennan, hast wen hamdraht, oder was?“, sagt eine der beiden anderen Frauen aus dem Hintergrund.
„Hör nicht auf sie. Die reden nur blöd“, flüstert die Frau an ihrem Bett. „Ich bin die Karin.“ Sie streicht Lucía übers Haar, lächelt sie an und erhebt sich. Mit den Schlüsselgeräuschen an der Tür setzt sich Lucía auf.
„Kaffee, Tee, Kakao?“ Auf dem Servierwagen liegen Brote in einem kleinen Korb, Butter und Marmelade sind auf vier Teller aufgeteilt.
Lucía hat keinen Hunger, greift aber doch zu einem der Teller und legt ein Brot dazu. Sie erinnert sich wieder, die Frauen haben schon geschlafen, gestern, spätabends, nachdem sie ein Transporter hierhergebracht hat. Ihre Reisetasche steht neben dem Bett. Sie haben ihr noch keinen Kasten zugeteilt. Zwei Monate war sie bereits in Untersuchungshaft in Wien, und jetzt diese Überstellung nach Schwarzau. Ihr Rechtsanwalt hat noch versucht, sie vor der Abfahrt zu beruhigen, und ihr mitgeteilt, dass ihre Freundin Martina sie in der Justizanstalt Schwarzau besuchen kommen werde. Es sei ihm nicht möglich gewesen, gegen diese Überstellung Rechtsmittel einzulegen.
„Sie sind die erste Person, die in der Zweiten Republik de facto in Schutz- und Beugehaft genommen wird. Es wird versucht, Ihnen terroristische Aktivitäten vorzuwerfen“, hatte er ihr damals im Erstgespräch in der Justizanstalt Mittersteig erklärt. „Aber machen Sie sich keine Sorgen, wir werden diese Maßnahme auch auf europäischer Ebene bekämpfen. Und lassen Sie sich vom Gezeter der Polizisten und Staatsanwälte nicht einschüchtern. Gegen unliebsame Personen verwenden sie fast immer den Gesetzestext zu § 278c StGB Terroristische Straftaten.“
Lucía nimmt sich vor, nach dem Frühstück zu fragen, ob sie für den Besuch ihrer Freundin einen ungestörten Raum benützen kann. Jene Wachebeamtin, die das Frühstücksgeschirr abholt, weiß nichts, sie zeigt nur auf einen Kasten. Lucía räumt ihre Kleidung und die Toilettesachen ein und legt sich hin.
Wieder dreht sich der Schlüssel im Schloss. Dieselbe Frau scheint jetzt doch etwas zu wissen: „Lucía Gruber, kommen Sie mit. Sie haben das Erstgespräch mit der Frau Oberstleutnant.“
Die Leiterin der Justizanstalt mustert Lucía argwöhnisch, lässt sie vor ihrem Schreibtisch stehen und nippt am Kaffee. „Irgendwie müssen Sie gefährlich sein“, sagt sie, „sonst müssten wir Sie nicht als besonderen U-Häftling in unserem Schloss für Schwerverbrecherinnen aufnehmen. Aber das zu beurteilen ist nicht unsere Aufgabe. Verhalten Sie sich ruhig und befolgen Sie die Regeln, dann wird Ihr Aufenthalt angenehm werden, das verspreche ich Ihnen. Ja, und noch etwas: Sie scheinen prominent zu sein, denn bereits für morgen ist der Besuch einer Psychologin genehmigt, sogar mit der Freigabe von Audioaufnahmen, wenn Sie einverstanden sind.“
Lucía blickt der Frau Oberstleutnant ungläubig in die Augen, hebt die Schultern kurz an, dann nickt sie zögerlich.
Die Leiterin der Anstalt ergreift eine Mappe, öffnet sie und blättert darin.
„Fluchtgefahr, Gefahr der Begehung einer neuerlichen Straftat und Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit, drei Tattoos und ehemalige Gymnasiallehrerin“, murmelt sie und sagt dann laut:
„Noch etwas: Eine Frau Professor Magistra Martina Hager steht auf der Besucherliste. Sie kommt um 15:15 Uhr und darf fünfzehn Minuten bleiben. Die Frau Professor wird als Mitangeklagte geführt. Wir werden das Gespräch überwachen, seien Sie vorsichtig.“ Frau Oberstleutnant drückt eine Taste und lässt Lucía wieder in die Zelle führen.
*
Lucía geht im kleinen Besucherraum hin und her, dann wird die Tür geöffnet und Martina wird hereinbegleitet. Sie stellt ihre Tasche ab und umarmt Lucía lange.
„Ich hab dir Eva schläft von Francesca Melandri und Unter der Drachenwand von Arno Geiger mitgebracht, ich denke, die kennst du noch nicht. Und da, Dörrzwetschken und Marillenmarmelade.“
„Danke. Bedeutet das, dass du noch immer mit einem längeren Aufenthalt rechnest?“
„Ich hoffe nicht. Unser Anwalt ist echt super, ich habe lange mit ihm telefoniert. Wir haben deinen Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht und die Zusage zu einer Verfahrensprüfung bekommen. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum das Justizministerium den beantragten Therapiegesprächen zugestimmt und die Tonaufnahmen genehmigt hat. Du kannst der Therapeutin vertrauen, ich kenne sie von diversen Aktionen. Sie heißt Gaby und wird dich ausführlich befragen. Sie kommt morgen zu dir. Wir hauen dich da raus.“
„Danke, Martina, ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun würde. Und? Hast du sonst keine Infos für mich?“
Martina schließt kurz die Augen, sie weiß, was Lucía hören möchte, und schüttelt langsam den Kopf.
„Ich habe ihm noch zwei weitere Mails und eine WhatsApp-Nachricht geschrieben. Er hat alles gelesen oder zumindest geöffnet. Keine Reaktion. Was soll ich noch tun? Soll ich deinen Ex auch anschreiben?“
„Nein, der weiß sicher Bescheid, stand ja in allen Zeitungen. Halte Fabian bitte weiterhin auf dem Laufenden, vielleicht meldet er sich doch einmal.“
„Es kann nicht sein, dass du wegen dieser Kirchenbesetzung immer noch in Untersuchungshaft bist. Der Pfarrer hat keine Besitzstörungsklage eingebracht und die könnte auch kein Haftgrund …“
Eine Wachbeamtin nähert sich den beiden und sagt in strengem Ton: „Die Zeit ist abgelaufen.“
„Das waren noch keine fünfzehn Minuten“, setzt Martina zu einem