Körper, deine Haare, dein Mund, deine Ausstrahlung, du bist eine Wucht“, hatte er früher gesagt und sie auch stolz seinen Freunden vorgestellt. In den letzten Jahren bekam Lucía nur mehr von anderen Komplimente. Nach einer gemeinsamen Schulveranstaltung baute sich eine erotische Stimmung zwischen ihr und einem Kollegen auf. Hätte ich dem nachgeben sollen?, dachte sie, nachdem sie wieder einmal allein ins Bett gegangen war.
Anfangs fehlte ihr die körperliche Liebe. Entweder war Albert unterwegs, oder er wollte auf Fabian Rücksicht nehmen, der ja nebenan schlief. Ein Jahr lang hatte er sie schon nicht mehr berührt. Immer häufiger kam er erst nachts nach Hause und Lucía meinte, fremdes Parfum und Wein zu riechen. Als sie dann einmal seine Hand unter der Decke spürte, drehte sie sich weg.
Am 1. Mai 2012 war es so weit. „Feigling!“, murmelte sie, als am Morgen sein Brief auf ihrem Nachtkästchen lag. Er schien es gut geplant zu haben. Vielleicht hat er sogar die Scheidung als Projekt angelegt, dachte Lucía. Ende Mai zog er in seine neue Wohnung. Wenn Fabian ihre Tränen bemerkte, legte er beim Frühstück seine Hand in ihren Nacken. Wenn sie trotzdem traurig war, sagte er:
„In einer Badewanne
saß eine dicke Dame.
Dicke Dame lachte
Badewanne krachte.“
Spätestens danach lachten beide.
Noch vor dem nächsten Schulanfang war alles geregelt.
„Wir haben das Besuchsrecht für jedes zweite Wochenende vereinbart. Papa wollte außerdem, dass du während der Woche in einem Internat bist, zumindest bis du fünfzehn bist. Dem habe ich zugestimmt“, sagte sie zu Fabian nach dem Gerichtstermin. „Dein Vater hat dir ein Zimmer mit Glotze eingerichtet.“
Den Kuba-Urlaub hatten sie noch gemeinsam geplant. Sie verbrachte ihn nun mit Fabian allein. Bei einem Stadtbummel in Havanna gestand er ihr, seinen Vater schon zweimal mit einer Frau getroffen zu haben.
„Ich sollte nicht drüber reden. Aber jetzt? Sie hat versprochen, mir ein Tablet zu kaufen, wenn ich dir nichts sage.“
Lucía blieb stehen, drehte sich abrupt zu Fabian und holte tief Luft. „Danke, dass du es mir sagst“, sagte sie und drückte ihn an sich. „Leider haben Papa und ich seit einiger Zeit nicht mehr viel miteinander geredet, so ist unsere Liebe zerflossen. Versprich mir bitte, immer mit mir zu reden, wenn dich etwas belastet. Du bist mein ganzes Leben.“
Fabian nickte.
Fabian hatte die ersten Jahre am Gymnasium gut abgeschlossen. Er besuchte dieselbe Schule, in der seine Mutter als Lehrerin unterrichtete. Gegen seinen Willen bestand Lucía auf Fabians Internataufenthalt, sie wollte sich auch nicht mehr mit Albert darüber streiten, schon gar nicht vor Gericht.
In ihrer gemeinsamen Schule kritisierte sie den neuen Deutschlehrer offen vor der Kollegenschaft: „Fällt dir für die Schularbeitsthemen nichts Besseres ein als germanische Göttergeschichten oder Monsterfiguren als Anregungen?“, sagte sie im Konferenzraum. An den Wochenenden versuchte sie auch Fabian vor ihm zu warnen. Sie wollte seine Deutschtümelei nicht gutheißen, die er angeblich zur Inspiration der Schüler einsetzte. Vielleicht stimmte es auch. Immerhin motivierte er Fabian zu fabelhaften Aufsätzen.
„Linkslinke wie du werden es auch irgendwann kapieren, dass sie als Gutmenschen nur nützliche Idioten sind. Womöglich ist es aber dann für dich zu spät“, flüsterte ihr der Kollege zu, als sie einmal zufällig gemeinsam aus dem Schulgebäude gingen. Lucía zeigte ihm den Mittelfinger. Sie beobachtete seine Aufsatzthemen nun noch genauer.
„Dein Deutschlehrer ist eine Gefahr für die Demokratie“, sagte sie an einem Wochenende, nachdem sie Fabians Hausaufgaben durchgesehen hatte. „Misch dich nicht ein“, erwiderte Fabian und schob sein Heft in die Tasche.
Die Kinder ihrer Klassen liebten sie. Sie erzählte ihnen Begebenheiten, die sie während ihrer Aufenthalte bei ihrer Madrid-Oma erlebt hatte, und immer wieder sprach sie auch von Ernesto Che Guevara und seinen Reisen durch Lateinamerika. Lucía regte damit die Schüler zu gesellschaftskritischen Referaten in Spanisch an. Im Juni 2014 eröffnete die Direktorin die Notenkonferenz mit einem Elternbrief an die Schule, in dem die Klassenarbeit von Lucía als vorbildlich gelobt wurde. Alle applaudierten, selbst der Deutschlehrer klatschte. Einige aus der Kollegenschaft wollten didaktische und methodische Tipps von ihr. Immer häufiger wurde sie auch zu privaten Festen eingeladen.
Zur Bundespräsidentenwahl 2016 bezog sie in einem TV-Spot einer antifaschistischen Gruppe eine klare Position. Die Direktorin empfahl ihr mehr Zurückhaltung. Auch ihr Eintreten für eine Gesamtschule werde von der Kollegenschaft nicht geteilt, hatte sie gesagt. „Und bedecken Sie Ihre Oberarme, man hat das Tattoo gesehen“, ergänzte sie.
Albert hatte ihr nach diesem Fernsehinterview eine lange WhatsApp-Nachricht geschrieben, und er hatte diese zusätzlich an Fabian adressiert:
Du kannst es nicht lassen! Wann wirst du erwachsen? Mit deinen linken Ausritten hast du unsere Familie zerstört. Die von dir beschimpfte Partei wird sich das nicht gefallen lassen, gerade du müsstest wissen, wie gut die vernetzt sind, und gegen Lehrer gehen sie besonders strikt vor. Du wurdest immer wieder auf Twitter und Facebook gesperrt. Reichen dir diese Warnungen noch nicht? Mit deinen Aktionen gefährdest du auch Fabian. Ich werde ihn schützen und auch seine Indoktrinierung nicht dulden!
Lucía war tagelang wütend und besprach ihre Situation mit einer Therapeutin. Zu Fabian sagte sie nichts. Er fand sie nach dem TV-Auftritt nur mehr peinlich. Klar, in der Pubertät soll er sich an mir reiben, dachte Lucía.
Ein Jahr später wurde sie von einer Gratiszeitung interviewt. Der Fotograf hatte sie in erotischer Pose abgebildet. Sie hatte doch keine Stiefel getragen? Hatten die auf dem Foto ihren Busen vergrößert? Im Hintergrund war ihre Schule ins Foto montiert worden. „Eine Lehrerin klagt an: Burschenschafter gefährden Österreichs Demokratie“, stand daneben. Am nächsten Schultag zitierte sie die Direktorin zu sich.
„Nehmen Sie Platz, wir müssen reden. Ich habe Sie gewarnt, Sie scheinen mich nicht verstanden zu haben. Ich bin nach wie vor mit Ihrer Arbeit zufrieden, aber mit dem Zeitungsinterview sind Sie eindeutig zu weit gegangen.“
„Ich glaube, das Foto wurde manipuliert“, setzte Lucía zu einer Erklärung an.
„Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Sie haben auf das Ansehen der Schule zu achten. Außerdem ist es gerade in Vorwahlzeiten wichtig, vor den Schülern eine objektive Haltung zu wahren, da hilft es Ihnen nicht, dass Sie gewählte Vertreterin sind. Ich bin von der Schulbehörde beauftragt, Ihnen diese Verwarnung vorzulegen.“
„Und wie beurteilen Sie die Aktivitäten von Fabians Deutschlehrer und dessen militärische Kleidung?“
„Reicht Ihnen diese Verwarnung noch nicht?“, fragte die Direktorin.
Lucía unterschrieb.
Ihre vermeintlichen Vertrauten in der Kollegenschaft wichen ihren Fragen aus. Einige folgten ihr nicht mehr auf Twitter oder kündigten die Freundschaft auf Facebook. Es störte sie nicht, denn nach dem Zeitungsartikel wuchsen ihre Kontakte in den sozialen Medien auf einige Tausend an. Es war allerdings mühsam, die verdeckten Rechten unter ihnen zu erkennen und zu sperren.
Die meisten ihrer Lehrerkollegen wichen ihren Gesprächsversuchen aus oder antworteten nicht. „Sind dir gesellschaftspolitische Haltungen wichtiger als dein Job“, fragte einer, und eine Kollegin, die sie als Freundin bezeichnet hätte, meinte sogar: „Mit deinem Engagement erreichst du bei deinem Sohn womöglich das Gegenteil.“ Andererseits, mit Alberts neoliberalen Einstellungen konnte und wollte sie sich nicht arrangieren. Bestand tatsächlich die Gefahr, das Verständnis ihres Sohnes zu verlieren?
Ab der sechsten Klasse schickte sie Fabian nicht mehr in das Internat. „Ich gestehe ihm ein freies Leben zu“, sagte sie bei einem Kaffeeplausch zu ihrer Freundin Martina. Trotzdem redete er kaum noch mit ihr und übernachtete häufiger bei seinem Vater. Lucía wollte jeweils am Vortag darüber informiert werden. Das tat er über WhatsApp. „Alle lachen über dich“, schrieb er einmal dazu.
Lucía