schaffen? Wie soll es überhaupt weitergehen? Die Tage nach dem Tod der Eltern fielen ihr wieder ein, auch damals hatte sie keinen Ausweg gesehen. Irgendwie hatte sie es dann doch geschafft. Mit diesen Gedanken musste sie wieder eingeschlafen sein.
Langsam hob sie die Lider, Martina saß an ihrem Bett, sie hatte eine Tasse Tee auf das Nachtkästchen gestellt. Welcher Tag war heute?
„Du siehst aus, als hättest du zwei Flaschen Schnaps getrunken, und du riechst auch so. Ich helfe dir beim Ausziehen. Deinen Pyjama habe ich schon herausgelegt.“
Lucía ließ ihre Freundin gewähren. Während des Lüftens musste sie sich nur kurz auf die unbenutzte Seite des Doppelbetts wälzen, damit Martina Tuchent und Polster aufschütteln konnte. Danach setzte sie sich wieder an Lucías Bettrand, half ihr Tee zu trinken und legte ihr die linke Hand auf den Arm. In der Rechten hielt sie ein altes Buch. Klytia stand in goldener Frakturschrift am Buchrücken.
„Schon nach eurer Scheidung wollte ich dir diesen Roman bringen. Du warst so traurig und ich fragte mich: Wo ist meine Lucía mit dem sonnigen Gemüt?“
„Was? Ich werde momentan sicher nichts lesen und in Frakturschrift schon gar nicht.“
„Musst du auch nicht“, Martina tätschelte Lucías Arm, „oder zumindest nicht sofort, aber bitte, erinnere dich an unsere Unizeiten. Du warst unsere Humorpflanze. Was haben wir mit dir gelacht, wenn du so getan hast, als würdest du Carlos, den Spanisch-Professor, beim Verlassen des Lehrsaals mit deinen Schritten verfolgen, und wie exzessiv du deinen Kopf nach ihm gedreht hast. Kannst du dich noch …“
„Du strengst mich an. Ich möchte nur schlafen“, unterbrach Lucía sie.
„Okay, ich will doch nur … Darf ich deinen Laptop benützen? Ich schreibe auf, warum ich dir dieses Buch mitgebracht habe. Meine Nachricht kannst du dann jederzeit lesen.“
„Mhm“, brummte Lucía und drehte sich auf die andere Seite. Martina schloss das Fenster, schaltete den Computer ein und setzte sich an die Tastatur.
Meine liebe Lucía,
ich will dich aus deinem schwarzen Loch herausholen. Du kannst auf mich zählen, wann immer du mich brauchst.
Es geht dir momentan beschissen, klar, aber vergiss bitte nicht, wie oft du bereits mir und anderen geholfen hast. Jetzt bist du dran. Okay?
Klytia, den Roman von George Taylor, habe ich gleich nach deinem Anruf herausgesucht. Ich habe mich richtig erinnert, die weibliche Hauptperson Lydia ist ein junges Mädchen in Heidelberg des sechzehnten Jahrhunderts, das mit ihrer Existenz und mit ihrer Liebe scheinbar Unmögliches bewegt hat. Sie hat mich schon beim Lesen an dich erinnert. George Taylor schreibt der blonden, unerfahrenen Lydia Klytias Eigenschaften zu lieben auf den Leib. Ich weiß, du kennst Klytia, die Gestalt aus der griechischen Mythologie, die den Sonnengott Helios mit ihrem Blick neun Tage lang in seinem Sonnenwagen verfolgt hat, aber von ihm nicht erhört wurde. Klytia wurde zur Sonnenblume, der spanischen Girasol, die ihren Kopf immer noch nach der Sonne ausrichtet.
Lydia hat im sechzehnten Jahrhundert Männer verzaubert. Bist du nicht auch eine Menschenverzauberin?
Verstehst du, was ich dir erklären wollte? Wir haben dich in der Uni Girasol genannt, weil auch du deinen Kopf immer wieder nach anderen ausgerichtet hast. Verbunden mit deinem bedingungslosen Glauben an das Gute in den Menschen bist du für uns zur Girasol geworden. Dein positives Denken und deine Liebe werden dich auch jetzt aus dieser Krise retten. Du warst uns allen ein Vorbild und du sollst es bleiben.
Der Roman Klytia soll dir Hilfe, Erinnerung und vielleicht dort oder da auch Anleitung für die Befreiung von Altlasten sein.
Bitte, liebe Lucía, versuche wieder jene Girasol zu werden, die mir und auch sich selbst schon so viel Freude bereitet hat.
Ich will dich wieder lachend, verzückend und mitreißend erleben. Dann werden wir bald wieder tanzen gehen und den einen oder anderen Mann verwirren. Wie damals.
Und, vielleicht das Wichtigste: Wenn du wieder lieben kannst, wie eben Lydia in den Eigenschaften von Klytia, dann werden du und Fabian wieder eine gute Mutter-Sohn-Beziehung leben können.
Deine Freundin Martina
Als sie aufwachte, sah Lucía Martina an ihrem Bettrand sitzen. „Bist du noch immer da oder schon wieder?“
„Noch immer. Du musst etwas essen“, sagte Martina. „Ich habe dir eine Gemüsesuppe gemacht.“
Sie half Lucía sich aufzusetzen und reichte ihr die Schale. Danach blickte Lucía auf ihren Radiowecker. Sonntag, 11:20 Uhr. Sie erschrak und versuchte aufzustehen. Gestützt von Martina erreichte sie die Toilette.
„Ich rufe morgen in der Direktion an“, sagte Martina, als Lucía wieder im Bett gelandet war. „So gehst du mir nicht in die Schule. Ich melde dich krank. Der Roman und meine Erklärung, was Klytia mit dir zu tun hat, liegen hier in die Lade. Wenn du Fragen hast, reden wir ein anderes Mal darüber.“
Lucías Blick verfinsterte sich, sie wollte etwas sagen und hob die Hand, gleichzeitig wurde ihr klar, sie würde auch am Montag noch keine Kraft haben. Martinas Stimme klang, als wäre sie ein Echo. Weit weg und verzerrt. Lesen wollte sie momentan nichts.
Die Tage vergingen. Martina und Katharina wechselten sich in der Betreuung von Lucía ab. Albert kam zweimal in die Wohnung und nahm einige Kleidungsstücke für Fabian mit. Über ihn sagte er nichts.
Nach einer Woche hatte Lucía Martinas Brief gelesen und begonnen, in Klytia zu schmökern. Die Figuren gefielen ihr, sie wusste wenig über die konkreten Religionskonflikte im sechzehnten Jahrhundert in Heidelberg. Dann trat Lydia auf. Sie wurde ihr zur Vertrauten. Ohne erkennbare Aktivitäten konnte sie Menschen und Situationen beeinflussen, nur durch ihr Sein, ihr gelebtes Interesse und ihre bedingungslose Liebe. Wer hat mir die Kraft genommen, andere motivieren zu können?, notierte Lucía an einen Seitenrand. Lydia hatte aber auch sich und ihren Vater aus Liebe ins Gefängnis gebracht und war nur gnadenhalber befreit worden. Keine Gnade, ich muss mich selbst befreien, schrieb Lucía auf die letzte Seite des Romans.
*
Es war bereits nach Ostern, als Martina wieder einmal die Post aus dem Postkasten brachte. Ein Brief vom Stadtschulrat war dabei. Lucía bat sie ihn zu öffnen und vorzulesen:
Werte Frau Kollegin,
vor vier Wochen wurden Sie ordnungsgemäß von Ihrem Hausarzt krankgemeldet, jedoch ohne Angabe der Diagnose. Wir ordnen daher eine amtsärztliche Untersuchung an und ersuchen Sie, den Termin am 8. Mai 2018 wahrzunehmen.
Personalmanagement des Wiener Stadtschulrates
Lucía schüttelte den Kopf und schob den Brief unter den Polster. Außer einem Anruf der Direktorin, ob sie im Sommer den Tauchkurs übernehmen könne, hatte sich niemand aus der Schule bei ihr gemeldet. Und das dürfte nur ein Vorwand gewesen sein: „Pardon, ich muss Sie vorladen lassen“, hatte die Schulleiterin am Ende des Telefonates gesagt.
An diese Schule wollte sie nicht mehr zurück. Auch wegen Gerhard, Fabians Geschichtslehrer. Anfangs hatte es ihr gefallen, wieder ab und zu mit einem Mann zusammen zu sein. Drei Jahre lang hatte er sie hingehalten, war dann aber schließlich doch bei seiner Frau geblieben. Im Konferenzzimmer wich er ihr aus. Lehrerkollegen, mit denen sie früher oft Gespräche geführt hatte, mieden sie. Der Direktorin wollte sie auch nicht begegnen.
Und Fabian? Seit sie wieder halbwegs klar denken konnte, schickte sie ihm jeden Morgen eine WhatsApp-Nachricht. Er meldete sich nicht. Lucía wollte ihn in Ruhe die Matura machen lassen, wusste allerdings nicht, wie sie mit seiner Gesprächsverweigerung auf Dauer umgehen konnte. Wie konnte sie wieder in eine aktive Rolle kommen? Fabian konnte doch nicht alles vergessen haben. Wieder fielen ihr die glücklichen Stunden mit ihm ein und wie gut ihr Verhältnis bis in das Jahr nach der Scheidung gewesen war. Erneut suchte sie Hilfe und rief die Therapeutin an. Nach einigen Sitzungen fasste diese Lucías Situation zusammen:
„Nach Ihrem Zusammenbruch ist klar, Sie müssen etwas verändern. Und wenn Sie die finanziellen Ressourcen haben, halte ich Ihre Überlegung, für einige Zeit wegzufahren,