Becher mit beiden Händen.
„Komm mit“, sagt er und schließt die Augen.
„Wohin?“, frage ich.
„In unser Tanzhaus, ich lade dich ein.“
Wieder lächelt er mich an. Der Bart strahlt mit.
„Dino“, sagt er und streckt mir die Hand entgegen. „Auf welchen Namen hörst du?“
„Lucía.“
Er lässt meine Hand nicht los. Wir heben ab.
Dino kommt mit fünf Tänzern auf die Bühne, gibt noch einige Anweisungen, die ich nicht verstehe. Sie legen los. Einer tanzt in allen Szenen auf der riesigen schwarzen Fläche, auf seinem Kopf ist bereits mehr Haut als Haar zu sehen. Er zeigt das Drehen der Arme am intensivsten, seine Hände werden durch die Scheinwerferbeleuchtung zu Fackeln. Ist er der Befreier oder soll er befreit werden? Ich frage, aber sie hören mich nicht. Alle scheinen ineinander zu verschmelzen, um gleich wieder wegzuspringen. Immer wieder scheint ein Tänzer auf den Boden zu fallen, und wird doch im letzten Moment aufgefangen. Das Schlussbild erinnert an eine Rose. Sie explodiert, alle werden zu Boden geworfen. Ich öffne die Hände zum Applaus, aber die fünf springen auf und stellen sich als gelbe Schleife Kataloniens auf. Woher nehmen sie plötzlich das Gelb? Ich gehe hinaus. Dino wartet draußen.
„Es ist Tradition, dass ich zum Wein einlade. Du sollst auch etwas essen“, sagt er und bietet mir seinen Arm an. Wir schlendern über den Platz. Menschen stehen am Eingang. Ich sehe sie applaudieren, hören kann ich nichts.
Mehr als zwanzig Personen sitzen um einen großen Tisch. Der Haupttänzer nimmt zu meiner Linken Platz, rechts sitzt Dino. Wieder stellt er eine Schale mit Weintrauben vor sich. Der erste Tänzer steht plötzlich auf dem Tisch, bedankt sich bei Dino für die Einladung und erklärt einiges zur Produktion. Beim heurigen Stadtfest würden sie wieder der Höhepunkt sein.
„Und vergesst unsere Geschichte nicht. Mein Vater saß 1968 noch ein Jahr im Gefängnis der Franco-Faschisten, weil er eine andere politische Meinung hatte. Wir werden uns selbst befreien.“
Alle applaudieren, wieder kann ich nichts hören. Dino schiebt sich drei Weintrauben in den Mund und reicht mir die Schale. Ich nehme auch drei Trauben, sie sind riesengroß, und reiche die Schale an den Tänzer weiter.
„Der Wein soll fließen“, sagt Dino und hebt das Glas.
„Welche Ehre“, flüstert mir der Tänzer ins Ohr. „Jordi“, sagt er, und es ist ihm wichtig, den Anfangsbuchstaben als Katalanisches „tsch“ auszusprechen. Ich denke an seine leuchtenden Hände. Wie sie sich auf der Haut anfühlen würden. Er ist der Befreier. Aber warum lagen in der vorletzten Szene alle am Boden? Dino unterbricht meine Gedanken:
„Deine Arme und die Hände waren heute perfekt“, sagt er zu Jordi, als hätte er meine Gedanken gelesen. Auch seine Arme und Hände hatten mich am Strand beeindruckt.
Nach dem dritten Glas Wein legt Dino seine Hand auf meinen Arm: „Ich habe nebenan eine kleine Wohnung, willst du bleiben?“ Ich nicke und er antwortet mit leichtem Druck seiner Hand.
*
„Idioten!“, rief Lucía und sprang auf. Etwas war in ihrem Gesicht gelandet. Zwei Kinder lachten und liefen mit dem Ball weg. Langsam stand sie auf und betastete vorsichtig ihre Nase. Sie schmerzte. Wie lange habe ich geschlafen? Der Sonne nach neigte sich der Nachmittag dem Ende zu. Und dieser Traum? Lucía kramte ihren Notizblock heraus und notierte die Geschichte.
Der Wind trug ihr vom Meer her neue Ideen zu: Waren es Dinos wenige Worte im Traum, waren es die Tänze, die brennenden Hände? Ist meine Erinnerung wirklich Teil dessen, was ich vergessen will? Was hat Fabian mit den feurigen Händen zu tun? Lucía blieb lange sitzen, wollte nicht mehr in die Stadt fahren.
Sie dachte an ihr Tagebuch. Bis zum Wohnmobil waren es drei oder vier Kilometer. Dort zog sie Klytia aus dem Bücherregal und tauchte in das Heidelberg des sechzehnten Jahrhunderts ein. Selbst während der Fahrten im Wohnmobil dachte sie an Klytia in der Person von Lydia, die damals sowohl mit ihrer Vaterliebe als auch mit ihrer bedingungslosen Liebe zum Pfarrer mächtige Männer beeinflusst hatte. Die vorgebliche Zuneigung des Geistlichen hatte sie erst spät bemerkt, hatte ihm verziehen und ihre Liebe zu ihm aufrecht gehalten. Erst damit konnte sie das Herz des Kurfürsten erweichen und die Freilassung ihres Vaters erreichen. Klytias Einfluss beeindruckte Lucía erneut. Würde ich das auch können? Der Roman war ein Teil von ihr geworden, sie konnte sich nicht vorstellen, ohne ihn zu reisen. Soll ich meinem ehemaligen Verehrer aus Heidelberg nochmals schreiben?
7. September 2018, Citystop Barcelona
Was für erste Tage.
Die katalonischen Fahnen und die Transparente im Zentrum sind mit den Tänzern in meinen Träumen eine Einheit geworden. Unglaublich! Was hat das zu bedeuten?
Wäre ich nicht nur im Traum bei Dino geblieben? Egal, wahrscheinlich werde ich nie so einen Typen treffen. Aber was hat es mit dem Vergessen und mit meiner Erinnerung auf sich? Habe ich meine Erinnerungen viel zu selten mit Fabian geteilt? Ich werde ihm ein Foto vom Strand senden.
Endlich eine Nachricht an Martina geschickt.
Ich träume viel, weiß aber nicht, wie lange es noch dauern wird, bis ich in meinem neuen Leben angekommen bin.
*
Laura wartete auf Lucía an der Metrostation der Linie L3, Maria Christina. Gemeinsam gingen sie zum Versammlungsort. Die Vertreter der Bewegung mussten einander an immer neuen und geheimen Plätzen treffen. Etwa dreißig Personen waren in dem kleinen Saal. Lucía wurde von vielen mit einer Umarmung begrüßt. Sie wurden ohne Weiteres durchgelassen. Laura stellte sie als österreichische Solidaritätsaktivistin vor und ergänzte, dass sie offen reden könnten. Unbehagen stieg in Lucía auf.
„Die Katalanische Rebellion ist eine Erfindung der spanischen Justiz“, übersetzte ihr Laura die katalanischen Worte des Redners. Lucía verstand einzelne Worte, den gesamten Sinn konnte sie nicht erfassen.
Wieder empfand Lucía Unbehagen. Ja, sie war interessiert, wollte solidarisch sein, aber sie wusste noch nicht, ob sie wirklich hinter einer völligen Loslösung Kataloniens von Spanien stehen konnte. Nun wurde sie persönlich begrüßt, musste aufstehen und wurde frenetisch beklatscht. Sie hob beide Hände und lächelte.
Laura hatte einen wichtigen Stellenwert in der Bewegung. Anscheinend war ihr Mann unter den Inhaftierten. Sie übersetzte weiter für Lucía.
Die Bewegung sollte jedenfalls gewaltfrei bleiben, auch wenn es Stimmen in Spanien gab, die die demokratisch gewählte Regierung in Katalonien mit dem Nazi-Regime gleichsetzten.
„Ein Richter spricht gar vom ‚infektiösen Virus‘ unserer Bewegung – und bedient sich damit selbst einer Redewendung der Nazis“, sagte der Sprecher.
Die Gruppe wollte am ersten Oktober, zum Jahrestag des Verbotes der Abstimmung über die Unabhängigkeit Kataloniens, wichtige Straßen und Bahngeleise blockieren, Barrikaden errichten und zu einer Großdemonstration aufrufen. Die wichtigsten Aufgaben wurden verteilt. Eine Frau fragte, ob es schon Pläne für die Befreiung der Gefangenen aus den Gefängnissen gäbe. Niemand antwortete. Trauten sie Lucía doch nicht?
„Wir werden die Unabhängigkeit erreichen, egal, ob dies heuer, nächstes Jahr oder in zehn Jahren sein wird“, schloss der Redner.
Viele Augen richteten sich danach auf Lucía. Sie spürte, dass sie jetzt etwas sagen musste, und stand auf: „Ich fahre in den nächsten Tagen nach Málaga, aber ich komme rechtzeitig vor dem ersten Oktober zurück“, sagte sie und wurde mit Applaus verabschiedet.
Lucía verlängerte ihren Standplatz um zwei Tage. Sie wollte noch das Tanztheater besuchen und danach aufbrechen.
Das Haus sah etwas anders aus als in ihrem Traum. Aber die Aufführung glich der in ihrem Traum. Sie konnte es kaum glauben, auch diese Tänzer bewegten ihre Arme wie Räder. Sie war verwirrt, ein sehr ähnlicher Mann war eine Traumfigur gewesen und jetzt drehte einer seine Arme wie im Traum auf der Bühne? Lucía applaudierte