Luis Stabauer

Brüchige Zeiten


Скачать книгу

      *

      Nachmittags am 5. Juni läutete die Sprechanlage. Die werden doch nicht … Lucía dachte an den Stadtschulrat und meldete sich förmlich mit „Gruber“.

      „Hallo Mama, ich bin’s.“

      „Oh, bitte sehr.“ Sie drückte den Türöffner.

      „Ich brauche meinen Anzug für die Matura.“

      „Komm rauf, ich lass die Tür offen.“ – Nicht weinen, nicht streiten, nicht betteln, sagte sie leise zu sich.

      „Mama, Mam?, Mama!?“

      „Ja, bin in der Küche.“

      „Ah, da bist du. Was ist mit diesen Schachteln? Zieht jemand in mein Zimmer ein?“

      „Nein. Wer sollte auch bei mir einziehen?“

      „Ziehst du um?“

      „Nicht schlecht geraten, wobei: umziehen stimmt auch nicht wirklich.“

      „Fährst du nach Madrid? Warum warst du nicht mehr in der Schule? Sag schon, was ist mit den vielen Schachteln?“

      „Du willst reden, das freut mich. Komm, setzen wir uns ins Wohnzimmer und erklär mir bitte, warum du bei dieser Gruppe bist. Ich sage dir dann, was es mit den Schachteln auf sich hat.“

      „Mama, was soll ich sagen, was läuft bei dir? Mama? Ich habe morgen Schriftliche.“

      „Willst du reden?“

      „Mam, wir verteidigen nur das Eigene und einige aus der Gruppe kennen dich. Du bist als Lehrerin eine Gefahr. Was glaubst du, warum dein Twitter-Account wieder gesperrt ist? Die wissen alles über dich. Ich glaube, du wirst beobachtet.“

      „Was? Aber warum bist du dabei? Und was ist mit dir? Kannst du mich immer noch nicht riechen? Twitter? Die sozialen Medien sind nicht mein Leben, ich habe keine Angst.“

      „Unmöglich, es geht nicht.“

      „Was geht nicht?“

      „Mit dir weiter zu reden, ich hab eh schon zu viel gesagt.“

      „Denk nicht an die anderen. Erinnere dich an die vielen, vielen gemeinsamen Stunden. An unser Lachen. Reden wir darüber.“

      „Nein, nein! Ich muss meiner Gruppe treu bleiben.“

      „Wie du meinst. Du lässt mir keine andere Wahl. Nimm mit, was dir gehört, und alles Gute für die Matura. Das, was ihr euer Eigenes nennt, ist für mich Menschenverachtung. Die Schachteln bringe ich weg, die Wohnung wird vermietet. Die Möbel werde ich gegen ein Wohnmobil eintauschen. Ich fahre für einige Zeit weg. Ich muss es tun. Für mich. Vielleicht wirst du es eines Tages verstehen. Du kannst dich jederzeit über WhatsApp melden, ich werde dir regelmäßig schreiben. Vielleicht kannst du mich eines Tages wieder riechen.“

      Lange starrte Lucía beim Fenster hinaus, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. Dann setzte sie sich an den Schreibtisch, suchte ihre Notizen heraus, die sie nach den Therapiegesprächen gemacht hatte, und fuhr den Laptop hoch.

      5. Juni 2018, Wien

      Scheiße, warum hab ich ihn gehen lassen? Ist seine Sturheit nicht auch meine? Ich liebe ihn doch. Und er? War das ein Versuch, sich mir wieder anzunähern?

      Manchmal schreckte sie in den Nächten auf und meinte Fabian gehört zu haben. Er meldete sich auch nach der Matura nicht. Noch einmal nahm sie zwei Therapiestunden, sie brachten keine neuen Antworten.

      Auf ihre Wohnungsanzeige hin meldeten sich fünfundzwanzig Interessenten innerhalb eines Tages. Sie konnte sich die Mieter aussuchen und entschied sich für eine deutsche Familie, die ab September in ihre Wohnung einziehen wollte. Lucía überließ ihnen nur die Einbauküche. Sie vereinbarten eine viermonatige Kündigungsfrist. Bis Mitte August hatte sie auch alle Möbel verkauft. Mit dem Erlös kaufte sie sich ein Wohnmobil, ihr neues Zuhause. Den Großteil ihrer persönlichen Gegenstände brachte sie Ende August zu Martina ins Waldviertel. Alles, was sie meinte für eine längere Reise durch Europa zu brauchen, verstaute sie im Wohnmobil.

      Am 31. August machte Lucía schon am frühen Morgen die Abschlussreinigung in ihrer Wohnung. Die neuen Mieter wollten um 11 Uhr zur Wohnungsübernahme kommen. Obwohl sie einen Ersatzschlüssel behielt, musste sie bei der Schlüsselübergabe weinen.

      „Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte die Frau aus Hamburg, „wir passen gut auf Ihre Wohnung auf.“

      BARCELONA

      4. September 2018, nach 1250 km

      Zwischenstation in Vichy (Frankreich).

      Waren es echte Träume oder die Gedanken während der Autofahrt? In der kleinen Wohnung knieten wir vor dem Kreuz im Schlafzimmer. Meine Madrid-Oma sprach mit ihm, ich schaute ihn nur an. Dann sah ich mich mit ihr in die Messe gehen. Hand in Hand. Sie bemerkte, wie ich immer wieder zu ihr blickte und lächelte. Das konnte ich sehen, obwohl ihr Kopftuch beinahe das Gesicht verdeckte.

      Seltsam. In Wien sprachen meine Eltern nicht über Jesus, aber geträumt habe ich damals von ihm.

      Fotos vom See und vom Napoleon Park in Vichy an Fabian geschickt.

      *

      Mittags wollte sie in Orange sein. Danach war keine längere Pause mehr geplant, vielleicht an der Grenze ein wenig die Beine vertreten und weiter. In acht bis neun Stunden sollte sie Barcelona erreichen.

      Es begann bereits zu dunkeln, als ihr Navigationsgerät verkündete, dass sie ihr Ziel nun erreicht habe. Lucía suchte auf der Karte noch die Metro-Station, die konnte sie am nächsten Tag gut zu Fuß erreichen, der Strand sollte auch in der Nähe sein. Sie fuhr in den Citystop Barcelona ein und stellte ihr Wohnmobil ab. Für Sicherheit sei gesorgt, meinte der Portier. Sie buchte vorerst fünf Tage und bezahlte im Voraus. Auf der riesigen, betonierten Fläche wurde ihr ein Platz am Rand zugeteilt.

      Ihre Träume waren wirr. In einem hatte ihr Fabian eine Twitter-Nachricht geschickt. Was mache ich hier, während Fabian zu studieren beginnt?, dachte sie, noch im Halbschlaf.

      Die Vögel zwitscherten.

      Aus halb geöffneten Lidern nahm sie den Kühlschrank, die Tür zum Bad, den Tisch und die Fahrerkabine wahr. Ihr bewegliches Schneckenhaus war recht eng. Es gefiel ihr, damit durch Europa zu gondeln. Barcelona war der Start. Die Madrid-Oma und der Kreuzweg fielen ihr ein. ‚Ans Kreuz mit ihm‘, schrien die aufgestachelten Menschen damals. Wen würden die Menschen heute am liebsten kreuzigen? Im Wachzustand sah sie Fabian.

      Der Weg zum Strand war weiter, als sie angenommen hatte. Nach einer halben Stunde musste sie noch zwei Hauptstraßen überqueren, dann lag das Meer vor ihr. Damals, mit fünfzehn, war sie lange in den wiederkehrenden Wellen gestanden. Dort, wo sie brechen, war sie hinausgelaufen und hatte sich in den Auslauf der Wellen gelegt, die Gischt über ihren Körper rieseln lassen. Wie leise Musik, dann wieder stakkatoartig, wild und unberechenbar. Sie war mit ihren Eltern hier gewesen.

      Die ersten Restaurants öffneten. Lucía frühstückte in der Sonne. Lange blickte sie aufs Meer hinaus, schloss die Augen … bis Gespräche ihr Interesse weckten. Surf- und Windsurflehrer trugen ihre Bretter an den Strand, grüßten einander lautstark auf Katalanisch und warteten auf Touristen. Lucía fuhr mit der Metro ins Zentrum und ging zuerst in das gotische Viertel. Sie erinnerte sich an den Buchhändlersohn Daniel Sempere, die Hauptfigur in Carlos Ruiz Zafóns Roman Der Schatten des Windes, und konnte nachempfinden, wie er zur Zeit Francos durch die dunklen Gassen Barcelonas lief.

      Gegenwärtiges holte sie in die Realität zurück: Becher und Flaschen als Spuren des Nachtlebens, dort und da Schlafende in den Gassen, überall Graffiti an den Eingangstoren und die kleinen Transparente mit den Gesichtern politischer Gefangener an den Balkonen. Bereits in Wien war sie auf das Theater Mercat de las Flores mit seinen Tanzperformances aufmerksam geworden. In einem kleinen Café googelte sie die Adresse am Handy und reservierte eine Karte für den 9. September.

      Das Vogelgezwitscher am nächsten Morgen wurde von Hundegebell übertönt.