Luis Stabauer

Brüchige Zeiten


Скачать книгу

Achtung, du bist eine Frau Professor“, empfängt sie Karin und eine der anderen beiden Zellengenossinnen meint: „Du kuntast uns sicha was leanen“, und lacht.

      Woher wissen die das?

      *

      Lucía öffnet die Augen und blinzelt. „Kaffee, Tee, Kakao?“, fragt eine dunkelhaarige Frau in Uniform und schiebt den Servierwagen in die Mitte der Zelle.

      „Frau Gruber, um 8:55 Uhr hole ich Sie ab, Sie haben ein Gespräch im Medienraum. Machen Sie sich fesch, vielleicht werden Sie sogar fotografiert“, sagt die Wachebeamtin.

      Lucía wartet in einem Raum mit einer Sitzecke, einer Couch und einem Regal voller Bücher. Sie kann keine Kamera entdecken. Die Tür geht auf, die Frau Oberstleutnant selbst begleitet eine brünette Frau in den Raum. In Jeans und grauem Pulli, die Jacke legt sie auf die Couch, auch sie dürfte in den Vierzigern sein. Die Gefängnisleiterin lässt die beiden Frauen allein.

      „Gaby Kaloner. Gaby mit Ypsilon. Sind das Du und Lucía als Anrede okay?“ Lucía nickt. Gaby lächelt und legt ihr Handy als Aufnahmegerät auf den Tisch.

      „Du weißt Bescheid und bist einverstanden, ja? Das ist unser Erstgespräch, wir können es kurz halten und vielleicht schon heute mit ersten Tonaufnahmen über dein Leben beginnen.“

      „Ja, alles klar“, sagt Lucía. „Wie viel Zeit haben wir?“ Leise ergänzt sie: „Martina hat mir …“

      Gaby hebt ihre Hand ganz leicht über den Tisch und deutet mit einem leichten Wippen an, nicht weiter zu reden. Lucía nickt, bevor Gaby fortfährt: „Heute haben wir zwei Stunden, aber sie haben insgesamt zehn Termine genehmigt. Ich weiß bereits einiges aus den Vernehmungsprotokollen, möchte jedoch alles aus deinem Mund hören. Versuche bitte chronologisch zu erzählen, du kannst gerne bei deinen Eltern beginnen. Ich werde dich nur unterbrechen, wenn ich mich nicht auskenne. Die Gespräche und die Aufnahmen sind für die Analyse deiner psychischen Gesundheit wichtig.“ Gaby zwinkert einige Male recht heftig, schreibt etwas in ihr Notizbuch. Dann dreht sie es in Lucías Richtung, damit diese den Text lesen kann: Ich mache aus deiner Erzählung einen Bericht. Er könnte später auch für den Widerstand gegen die Regierung und für den Europäischen Gerichtshof sehr wichtig werden! Okay?

      Jetzt lächelt Lucía.

      FRÜHSTÜCK

      Schon als Lucía ein kleines Mädchen war, hatte ihr ihr Vater Eduardo Martín Sanchez von den spanischen Faschisten erzählt. Als sie fünfzehn war, sprach er auch über seine Angst, die er im Februar 1981 gehabt hatte, als die Falangisten in Madrid wieder die Macht übernehmen hatten wollen. Ja, er habe große Zweifel gehabt, ob sich der König gegen die Militärs und putschenden Teile der Guardia Civil durchsetzen würde können. Schon 1976, vor seiner Aufnahme in den diplomatischen Dienst, sei er von uniformierten Männern vier Stunden lang befragt worden, ob er noch jemanden aus der anarchistischen Gewerkschaft kenne, welche Bücher er zu Hause habe, wann und wo er bei Demonstrationen dabei gewesen sei und bei welchen, erinnerte er sich.

      „Was ist putschen?“, fragte ihn Lucía. Er erklärte es ihr und sprach darüber, wie froh er sei, dass sich der König schlussendlich erfolgreich für die Demokratie eingesetzt hatte.

      „Ich war zweiunddreißig, als mich die spanische Regierung 1976 in die Botschaft nach Wien entsandte. Mama war damals fünfundzwanzig, wir hatten noch vor der Übersiedlung geheiratet. Sie telefonierte täglich mit ihren Eltern in Madrid, aber zurück wollten wir beide nicht mehr.

      ‚Wir sind schon richtige Wiener‘, sagte sie manchmal, wenn uns neue Freunde besuchten. Die spanische Sonne vermissten wir schon ein wenig.

      Zum ersten Hochzeitstag überreichte mir Mama drei Sonnenblumen. ‚Weißt du‘, hatte sie gefragt, ‚warum diese Blume dem Lauf der Sonne folgt?‘

      Ich wusste es nicht.

      Mama hatte gelacht: ‚Sie kann nicht anders … Auch du bist meine Sonne.‘ Wir umarmten einander lange.

      ‚Wie schön‘, flüsterte ich Mama damals ins Ohr, auch sie war meine spanische Sonne in Wien.

      Bald darauf wurde Mama schwanger. 1977 holten wir uns mit deiner Geburt noch eine Sonne ins Haus: Dein Licht strahlte von da an für uns, daher heißt du Lucía. Wir unternahmen lange Spaziergänge im Prater mit dir und dir gefielen die Wanderungen im Wienerwald. An unsere Konzert- und Theaterbesuche während der Volksschulzeit wirst du dich sicher noch erinnern können. Wir waren schon damals stolz auf dich.“

      Eduardo Martín Sanchez drückte seine Tochter an sich, Rosa García Mendoza brachte die Torte ins Esszimmer und stimmte „Cumpleaños feliz“ an.

      *

      Im April 1999, Lucía war einundzwanzig, reisten Rosa und Eduardo nach London. Zwei Tage später sah Lucía im Fernsehen die Bilder vom Sprengstoffanschlag in Soho. Am nächsten Morgen rief die Botschaft an, ihre Eltern waren unter den Opfern.

      Martina meldete sich nicht am Telefon. Albert hatte bereits ein Handy, ihn erreichte sie. Er kam zu ihr und versuchte sie mit seinen Beraterweisheiten zu beruhigen. Lucía blieb drei Tage lang im Bett und weinte beinahe ununterbrochen. An den Abenden konnte sie zumindest mit Albert reden.

      „Ich gehe nicht mehr an die Uni“, sagte sie nach zwei Tagen zu ihm. Albert antwortete nicht. Am vierten Abend meinte er, sie mit Zärtlichkeiten trösten zu können. Sie wollte es anfangs nicht, gab aber seinem Drängen doch nach, auch die Pille hatte sie nicht mehr genommen. Wenn es denn sein sollte, dachte sie, ein Kind würde mich da herausholen.

      Nachdem die Regel zehn Tage ausgeblieben war, hatte sie den Schwangerschaftstest gemacht. „Wir werden Eltern“, sagte sie zwei Monate später zu Albert.

      „Mhm“, erwiderte er nur. Wieder fiel sie in ein Loch. Dann schlug Albert doch einen Hochzeitstermin vor.

      Lucía beendete das Sommersemester und ließ sich danach von der Universität beurlauben. Albert hatte noch vor der Geburt eine schöne Wohnung gefunden. Sie konnte den Kaufbetrag mit dem Geld aus der Erbschaft ihrer Eltern beinahe zur Gänze aufbringen. Mit einem kleineren Kredit beteiligte sich Albert am Rest.

      „Es ist ja deine Wohnung“, hörte sie in den Jahren nach der Geburt von Fabian öfter, wenn sie Alberts Beteiligung im Haushalt einforderte. Sie konzentrierte sich auf ihren Sohn. Wo immer es möglich war, zeigte sie ihn her, fotografierte ihn täglich und führte für ihn ein Babytagebuch.

      Erst nachdem Fabian im Kindergarten war, setzte Lucía ihr Studium fort. In Spanisch konnte sie sich auf Literatur konzentrieren, für die Sporttheorien arbeitete sie hart, wenn Fabian schlief.

      Zwei Mal hatte Lucía während des Studiums an einem Gymnasium im 17. Bezirk hospitiert. 2005, direkt nach Abschluss des Studiums, wurde sie dort als Lehrerin übernommen. Zu Sport und Spanisch wurde ihr noch die Verantwortung für die Tauchausbildungen übertragen. Zwei Jahre später kandidierte sie bei den Personalvertretungswahlen und wurde gewählt. Albert wollte sie nicht zur Wahlparty begleiten. Er blieb bei Fabian.

      Ihre neuen Freunde aus der Schule konnten mit ihrem Mann wenig anfangen und auch er wusste nichts mit ihnen zu reden, wenn sie auf Besuch kamen. Aber allen überreichte er seine Berater-Visitenkarte. Die sozialen Verhältnisse in Österreich und Lucías Aktivitäten gegen das versteinerte Schulsystem interessierten Albert nicht. Die einzige linksliberale Tageszeitung Österreichs wollte er abbestellen, Lucía bestand darauf, das Abo zu behalten. Er fuhr täglich mit ihrem gemeinsamen Auto ins Büro, und wenn Lucía einmal das Auto gebraucht hätte, rechtfertigte er sich mit einem seiner Stehsätze: „Die Straßenbahnen werden immer voller, lauter Ausländer.“

      „Du hast eine spanischstämmige Frau“, entgegnete Lucía. Albert schwieg.

      Im Jänner 2011 wollte Lucía unbedingt an der Demonstration gegen den Akademikerball der Burschenschafter teilnehmen, vor allem, weil die Polizei die Kundgebung verbieten hatte wollen. Albert war wieder einmal in Deutschland unterwegs, daher hatte Lucía eine Kollegin gebeten, bei Fabian zu bleiben. In den folgenden Wochen beschimpfte sie Albert wiederholt als verantwortungslose Mutter. Die Gefährdung der