er unmissverständlich: „Ich bin nicht der Kranke“, schrieb er.
In der zweiten Therapiestunde erzählte sie vom gemeinsamen Lachen über Kindersprüche und wenn sie Fabian ihre Grimassen zeigte, von den Zeiten auf den Spielplätzen, von den vielen Fragen, die er ihr gestellt hatte, von seinem Wunsch, bei ihr im Bett zu schlafen und eine Katze zu haben. „Im ersten Jahr nach der Scheidung war er besonders lieb zu mir und es tat mir gut“, sagte Lucía. Beim nächsten Termin besprachen sie, wie Lucía mit ihrem Sohn wieder eine Gesprächsbasis finden könnte.
„Ich könnte Fabian um Unterstützung bei meiner Entscheidung bitten, ob ich noch einmal für die Personalvertretung kandidieren soll“, sagte Lucía zur Therapeutin. „Als Klassensprecher des Maturajahrgangs unseres Gymnasiums ist auch er davon betroffen.“
Die Maturatermine waren für Anfang Juni 2018 angesetzt worden. Fabian stimmte einem Gespräch zu.
Für einen Samstag im März vereinbarten sie ein gemeinsames Frühstück. Bereits am Tag davor gestaltete Lucía den Tisch mit bunten Servietten, einem Osterstrauch und einem großen Schokolade-Hasen, die er so gernhatte. Um sich auf das Gespräch mit Fabian einzustimmen, ging sie hinauf. Das Schafzimmer mit dem Balkon, das Bad und sein Zimmer waren in der oberen Etage untergebracht. Fabian war für die Ordnung in seinem Zimmer selbst verantwortlich, das hatten sie bereits vereinbart, als er noch im Internat gewesen war. Sie kontrollierte es kaum. Wenn die Haushaltshilfe angekündigt war, hatte er zumindest den Boden leergeräumt, das bestätigte diese. Diesmal wollte sie bei ihm aufräumen, darüber hatte er sich schon als Kind gefreut. Aha, der Kasten ist um 90 Grad gedreht und das Bett steht an der Wand.
Am Kasten hing ein neues Plakat. In großer Schrift leuchteten ihr die Worte entgegen:
Gott ist immer mit den starken Bataillonen!
(Friedrich der Große)
Gott in Frakturschrift und Bataillone! Lucía schloss die Augen und atmete einige Male tief durch. Habe ich die Faschisten im eigenen Haus? Sie hielt sich am Türstock fest, ihr Schwindelgefühl wurde weniger und sie ging näher hin. Iboesterreich stand ganz klein am unteren Rand. Die Identitären! Sie wusste im Moment nicht, was sie tun konnte. Wen konnte sie anrufen? Wer konnte wissen, woher solche Plakate kommen? Kam es von diesem Deutschlehrer?
Lucía riss den Kasten auf und wühlte in Fabians T-Shirts. Sie hielt ein gelbes Shirt in der Hand. IDENTITÄRE BEWEGUNG und Heimat – Freiheit – Tradition war darauf zu lesen.
„Verdammte Scheiße“, schrie sie, setzte sich auf Fabians Bett und vergrub ihr Gesicht in den Händen. So verharrte sie einige Zeit. Draußen begann es zu dämmern, sie knipste das Licht an. Ohne weiter nachzudenken, hob sie die Matratze ein wenig. Aufkleber kamen zum Vorschein. Auf einem rot-schwarzen Sticker stand in großen Buchstaben BLOOD IN – BLOOD OUT, Burschenschafter mit Schwertern waren abgebildet. Auf einem anderen war MERKEL MUSS WEG aufgedruckt.
Sie hörte Fabians Schritte auf der Stiege. Er sprang herein: „He, was soll das! Das ist deine Verbotszone!“, schrie er.
„Was! Was?“, schrie Lucía zurück und hielt ihm mit der einen Hand das T-Shirt, mit der anderen einen Aufkleber vor das Gesicht.
„Geh! Verschwinde, sofort! Das geht dich nichts an!“
„Und ob mich das was angeht. Ich bin deine Mutter, und das ist meine Wohnung. Woher hast du das? Ich will eine Antwort, hier und jetzt!“
„Nein! Verschwinde!“ Es war das erste Mal, dass sich ihr Sohn vor ihr aufbaute.
„Sei vorsichtig. Ich verlange von dir eine plausible Erklärung.“
„Nichts werde ich erklären. Du hast kein Recht, in meinen Sachen zu wühlen. Raus aus meinem Zimmer! Es stimmt, mit dir redet man am besten nicht.“
„Was, mit mir redet man nicht? Wer sagt das? Steckt da dein Vater dahinter? Setz dich hierher und rede!“
„Raus“, schrie Fabian nochmals, „und lass Papa endlich in Ruhe!“ Er machte einen Schritt auf seine Mutter zu. Kurz hob er den Arm. „Du bist eine Volksverräterin! Meine Freunde und ich verteidigen das Eigene. Und du? Du bist immer noch für die illegale Grenzöffnung.“
Lucía atmete einmal kräftig aus, öffnete die Arme und versuchte einen Schritt auf Fabian zuzugehen. Er wich zurück.
„Bitte, Fabs“, sagte sie mit leiser Stimme, „kannst du nicht erkennen, dass die, die vom Eigenen reden, Rassisten sind?“
„Typisch Linke. Wenn ihr nicht mehr weiterwisst, sind alle, die nicht eurer Meinung sind, Rassisten oder Faschisten. Wir werden die Islamisierung Österreichs nicht zulassen.“
Lucía setzte sich nochmals auf Fabians Bett.
„Steh auf! Verschwinde aus meinem Zimmer, sonst riecht mein Bett nach dir.“ Seine Stimme überschlug sich.
Lucía schloss kurz die Augen und erhob sich.
„Gut, du willst es nicht anders. Nimm diesen Mist und was du sonst noch brauchst. Fahr wieder zu Papa. Mach deine Matura, vielleicht bist du danach bereit, mit mir zu reden.“
Sie drehte sich um, ging vor die Tür und zählte bis zehn. Dann bewegte sie sich die Stiege hinunter. Langsam. Der Handlauf gab ihr einigermaßen Sicherheit. Im Wohnzimmer suchte sie ihr Telefon.
KLYTIA
Martina und Katharina hoben nicht ab. Beiden hinterließ sie eine Nachricht. Lucía versuchte es bei Albert, er meldete sich nicht. Sie stellte die angefangene Flasche Wodka auf den Tisch und holte ein Glas aus der Küche. Jene Nacht fiel ihr ein, als sie erfahren hatte, dass ihre Eltern in Soho umgekommen waren. Wie damals fühlte sie sich unsagbar leer und einsam. Hatte sie deswegen Albert angerufen? Nach dem ersten Schluck war sie froh, dass er nicht abgehoben hatte. Nach dem zweiten Glas hörte sie die Wohnungstür ins Schloss fallen, sie ging hinaus und verriegelte sie. Nach dem vierten Glas wurde ihr leichter, sie suchte ihre Reggae-Wiedergabeliste am Laptop und drehte auf halbe Discolautstärke. Alpha Blondy ertönte.
Das Handy klingelte. Lucía wusste nicht, wie spät es war. Martina.
„Danke, du bist ein Schatz“, stammelte Lucía.
„Das klingt arg beschissen, was du auf meine Box gestammelt hast. Erzähl bitte von Anfang an. Was war los?“
Ihre Erzählung vom Plakat, dem T-Shirt, den Aufklebern und Fabians Reaktionen wurde vor allem bei den Erwähnungen der Drohgesten ihres Sohnes von trockenem Schluchzen unterbrochen. Es war, als würde sie ein heftiger Schluckauf plagen, der allerdings in ihrem Kopf entstand und ihr für einige Sekunden den Atem nahm.
„Was ist, was ist?“, fragte Martina einige Male in den Sprechpausen. Lucía schaffte es, irgendwie fertig zu berichten.
„Dass Fabian seinen Vater verteidigt, verstehe ich. Das Plakat und die Aufkleber traue ich Albert aber nicht zu“, ging Martina auf Lucías Vermutung ein und ergänzte: „Bitte leg dich hin, ich komme morgen am Nachmittag zu dir nach Wien.“
„Nein, das ist nicht notwendig, ich schaffe das schon.“
„Papperlapapp, ich komme. Stell die Flasche in den Schrank und leg dich hin. Ruf an, wenn du etwas brauchst, ich schalte mein Handy nicht ab. Okay?“
„Gut, aber ich glaub, morgen sieht alles anders aus.“
„Dann ist es ja gut, ich komme trotzdem. Pass auf dich auf.“
Lucía schleppte sich hinauf ins Schlafzimmer. Beim Ausziehen der Jeans wankte sie, den Pulli behielt sie an.
„Nicht Zähne geputzt“, dachte sie. Es war ihr egal. Zwei- oder dreimal klingelte ihr Handy, sie rührte sich nicht.
Es war bereits hell geworden, als sie ihr Telefon erneut hörte. Sie konnte nicht aufstehen, es war, als würde ein riesiger Stein auf ihr liegen. Unmöglich. Was war los? Irgendwann schaffte sie es bis zur Toilette. Danach kroch sie wieder ins Bett, es wäre ihr nicht möglich gewesen, sich länger auf den Beinen halten. Sie wollte nur schlafen.
Meinen