Paul Lascaux

Emmentaler Alpträume


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Bauernkalender, du kennst dich in der Landwirtschaft aus, und das ist doch tiefstes Emmental.«

      Melinda wurde ungern an jene Zeit erinnert, denn ihr war das Posieren für den Voralpen-Playboy inzwischen eher peinlich. Heute suchte sie Ruhm und Ehre im Design-Studium. Dennoch griff sie nach den Bildern und erkannte nach genauerem Hinsehen: »Das ist eine Anlage für das Platzgen.«

      »Bitte was?«, fragte Phoebe.

      Melinda fuhr fort: »Platzgen ist eine altbernische Brachialsportart.« Sie zeigte auf das erste Foto. »Hier liegen die handförmigen Sterne aus gehärtetem Stahl. Ihr seht die grobe Handfläche mit fünf zugespitzten Fingern. Sie wiegen zwischen einem und drei Kilo.«

      »Nicht sehr ordentlich, die Sportler«, bemängelte Gwendolin, »dass sie ihre Geräte einfach so rumliegen lassen.«

      »Sieht so aus, als ob der Platz lange nicht mehr benutzt wurde«, sagte Melinda und nahm das zweite Foto.

      »Siebzehn Meter vom Abwurfplatz entfernt liegt ein Kreis aus Lehm, das Ries, wie eine Platte gegen hinten schräg nach oben gekippt. In der Mitte müsste ein Eisenpflock stecken, der Schwirren, denn den gilt es mit den Wurfsternen zu treffen, das gibt hundert Punkte. Der Stock liegt aber neben der Anlage. Der Lehm sollte mit einer Plane abgedeckt sein, sonst zerstört der Regen den Haufen. Dahinter befindet sich übrigens eine Palisadenwand, die verhindert, dass zu weit geworfene Sterne in der Wiese verschwinden.«

      Müller blätterte noch einmal im Protokoll: »Man hat Nicole auf einer Plastikplane liegend gefunden. Das muss wohl die zum Abdecken des Rieses gewesen sein. Die blieb dort liegen. Am nächsten Tag fand man kaum noch Blut darauf, denn der Regen hat ganze Arbeit geleistet. Nun weiß man nicht, ob Nicole vor Ort erschossen oder erst dort auf der Plane abgelegt worden ist.«

      Phoebe wollte wissen: »Wird dieses Platzgen heute noch ausgeübt?«

      Melinda antwortete: »Es gibt sogar eine Schweizermeisterschaft. Aber es wird hauptsächlich im Kanton Bern gespielt.«

      »Viel wichtiger ist wohl«, unterbrach Gwendolin, »dass der Täter gewusst hat, dass der Platz an diesem Montag nicht bespielt wurde und dass man von der Holzwand vor neugierigen Blicken geschützt war. Es sind also Ortskenntnisse nötig.«

      »Läuft dein Laptop?«, fragte Heinrich.

      »Ja«, antwortete Phoebe.

      »Schau nach, ob Google Street View bis zum Hornbach funktioniert, ist ja nicht gerade eine Durchgangsstraße.«

      »Geht in Ordnung.«

      Heinrich fuhr fort: »Das Napfgebiet wird oft völlig unterschätzt, einfach deshalb, weil der Schweizer mit den Voralpen und Alpen bedeutendere Höhen gewöhnt ist, die er üblicherweise mit Seilbahnen erkämpft. Im Napf gibt es hingegen keine technische Unterstützung, denn Alphütten kann man natürlich auch mit dem Auto erreichen, schließlich sind tausendvierhundertsechs Meter ja keine Höhe, bis zu der hinauf man nicht auch asphaltieren könnte. Dagegen spricht nur das Gelände. Das Napfbergland besteht aus Nagelfluhschichten, also Gesteinsschichten, die von den aus den Alpen stammenden Flüssen am Alpennordrand abgelagert worden sind. Und diese wurden im Laufe der Zeit regelrecht ausgefressen, sodass sie heutzutage stark zerklüftet sind. Man kann mit bescheidenen Höhenunterschieden zwar lange Wege auf den Graten zurücklegen, aber irgendwann muss man rauf oder runter, und das geht nur in kräfteraubenden Anstiegen oder durch rutschige Abhänge in einem stark bewaldeten, meist düsteren Graben, der eher durch sagenhafte Gestalten als durch Menschen belebt ist, zum Beispiel durch die Jungfrau aus dem Änziloch, einem beeindruckenden Felskessel in der Gemeinde Romoos. Nach einem der berüchtigten Unwetter über dem Napfgebiet soll die Bauerntochter Sophie in einen ungerechten Zorn verfallen sein und wurde vom Vater ins Änziloch weggewünscht, wo sie fortan als langhaarige Frau mit schwarzen Händen und schwarzem Gesicht schmachtete, bis sie von einem Pilger erlöst wurde. Solche Heilsgeschichten kannten vor allem die katholischen Luzerner, womit auch gleich gesagt ist, dass das gesamte Napfbergland ziemlich genau von Nord nach Süd durch den Grenzverlauf der Kantone Bern und Luzern unterteilt ist, was man vor Ort allerdings nicht bemerkt, es sei denn, man steigt bei Luthern Bad ein, das sich zum meistbesuchten Luzerner Wallfahrtsort entwickelt hat. Dafür wäre allerdings Nicole Himmel kaum zu begeistern gewesen.« Heinrich Müller kannte die Gegend von verschiedenen Wanderungen, die meisten davon hatten ihn ins südliche Napfgebiet geführt, das mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Bern aus wesentlich einfacher zu erreichen war.

      Nach einigen Klicks zeigte Phoebe ein Standbild: die Hornbach-Pinte von vorn. Hinter das Haus und auf die Platzgeranlage konnte man nur mit Einschränkungen schauen.

      Melinda erschrak. »Da war ich schon einmal. Vor ein paar Jahren. Noch in der Sekundarschule. Im Bach vor dem Restaurant haben wir Gold gewaschen.«

      »Gold?«, fragte Gwendolin verzückt. »Hast du etwas nach Hause gebracht?«

      »Ja, jede von uns hat ein paar winzige Gold-Flitterchen in einem Röhrchen mitgetragen. Irgendwo muss es noch liegen.«

      »Die ganze Gegend rund um den Napf ist Goldwäschergebiet«, erklärte Heinrich. »Früher war das ein Nebeneinkommen für einige Bauern und Tagelöhner. Die Mengen waren zwar gering, und richtige Nuggets fand man nur selten, aber wenn man sonst kaum etwas zu verdienen hatte … Nun aber zurück zu Nicole. Sieht so aus, als ob dies nicht der Tatort war, sondern dass sie auf der Platzgeranlage abgelegt wurde.«

      »Vielleicht in der Hoffnung, dass jemand sie noch lebend findet?«, überlegte Gwendolin.

      »Zuerst erschießen«, sagte Phoebe, »und sie dann mit einem Auto irgendwohin fahren, damit sie gerettet wird?«

      »Und wenn sich der Schuss versehentlich gelöst hat?«

      »Hätte man sie ins Spital gefahren«, sagte Heinrich. »Nein, jemand wollte Nicole töten und sie so entsorgen, dass man sie finden, aber nicht auf den Täter aufmerksam würde.«

      »Scheint mir nicht ganz logisch«, wandte Melinda ein und blickte mit ihren stahlblauen Augen nachdenklich auf das Schnapsregal. »Wenn jemand Nicole ermorden wollte, hätte man doch erkannt, dass sie noch lebte, und ein zweites Mal geschossen, um ganz sicherzugehen.« Ihre nüchterne Abgeklärtheit überraschte die Anwesenden.

      Heinrich aber dachte weiter: »Die Ausgangslage erinnert mich an einen Fall, in dem jemand versucht hat, einen Suizid vorzutäuschen.«

      »Wie glaubwürdig wäre das denn?«, fragte Melinda. »Nicole nimmt an einem Kurs irgendwo im Emmental teil und begeht eine Selbsttötung, ausgerechnet auf der Platzgeranlage hinter der Hornbach-Pinte?«

      »Und wo ist die Waffe?«, wollte Phoebe wissen. »Steht im Polizeibericht, dass man eine Pistole gefunden hat?«

      »Nein«, sagte Müller. »Und der Kriminaltechnische Dienst hätte sie nicht übersehen, denn sie müsste in der Nähe des Körpers liegen.«

      »Na also«, triumphierte Phoebe.

      »Nicht so schnell«, sagte der Detektiv. »Nehmen wir an, jemand wollte tatsächlich eine Selbsttötung vortäuschen. Er schießt also auf Nicole. Wahrscheinlich nicht am Fundort, sonst hätte sich Nicole bemerkbar machen können. Er sieht nun, dass sie nicht tot ist, kann aber kein zweites Mal schießen, denn bei einem Suizid mit einer derart schweren Erstwunde ist keiner in der Lage, einen zweiten, einen tödlichen Schuss zu setzen. Der Täter muss also darauf hoffen, dass sein Opfer verblutet oder an inneren Verletzungen stirbt. Deshalb lässt er Nicole hinter dem Restaurant liegen, um sie zu verstecken, und nicht, damit sie gefunden wird. Das war dann ein glücklicher Zufall.«

      »Bleibt immer noch das Problem der fehlenden Waffe«, sagte Phoebe. »Und dann hätte Nicole wenn auch vielleicht nicht ihr ganzes Gepäck, so doch immerhin Portemonnaie oder Ausweis oder Handy bei sich getragen. Aber nichts davon ist gefunden worden, soweit ich dich verstanden habe, sonst hätte man sie ja sofort identifiziert.«

      Heinrich fuhr fort: »Entweder war die Inszenierung unvollständig, der Täter wurde gestört und hat die Waffe wieder mitgenommen.«

      »Oder jemand anderes hat sie an sich genommen, warum auch immer«, unterbrach