Plötzlich ruft Claudia: »Achtung, eine Schlange!«
Und wirklich, Nicole sieht eine Schlange, packt sie aus Spaß hinter dem Kopf, legt sie auf der andern Uferseite ins Gras, weil sie doch nicht recht glaubt, dass es hier Wasserschlangen geben soll.
Und nun sagt Claudia, sie müssten nachsehen, ob das Reptil immer noch vor Ort sei. Mit einem leicht mulmigen Gefühl machen sie sich auf den kurzen Weg. Tatsächlich sitzt die Schlange wie eine Kobra an genau der Stelle, an der Nicole sie abgelegt hat. Sie überwindet ihre Angst, nähert sich dem Tier, packt es, und als es keinen Widerstand leistet, beginnt sie es zu streicheln. Die braun gefleckte Schlange züngelt.
Nicole denkt an ein Märchen und küsst sie, Zunge an Zunge, hält sie sehr fest, damit sie nicht beißen kann. Da geht sie unter Zischen in einer Rauchschwade auf. Nicole erschrickt und flüchtet ans andere Ufer zu Claudia. Sie stehen vor Schreck wie gebannt dort, umarmen sich gegenseitig und warten darauf, was weiter passiert. Dann wird Claudia ungeduldig und ruft: »Wenn du schon Action machen willst, dann bitte richtig!«
Da verwandelt sich der Rauch in eine Bocksfigur. Der Leibhaftige selbst? Nicole redet ihn an und lobt ihn für die coole Vorstellung. Man kommt ins Gespräch, freundet sich an und erfährt Folgendes: Er komme aus der vierten Dimension. Diese sei eine Paralleldimension zu unserer dritten wie die dritte zur zweiten und die zweite zur ersten. Die vierte Dimension sei die Stufe, von der man durch Umstülpen seiner selbst eine Gestalt in der nächstniedrigeren annehmen könne, aber man müsse auch in die nächsthöhere blicken können.
Der Rauch, der nun körperlos über dem Wasser wabert und auf dem die Tropfen im Sonnenlicht glitzern, verspricht den beiden Frauen, Wünsche zu erfüllen, was sie aber mit der Behauptung ablehnen, sie seien wunschlos glücklich. So lässt der Rauch sie einen Blick in die vierte Dimension werfen. Erst sehen sie nur ein Farbchaos, dann mehrere gestaffelte Farbtöne, die sich irgendwie unterscheiden. Aber sie merken bald, dass sie nicht fähig sind, diese Dimension zu erfassen.
Dann spricht eine nicht näher lokalisierbare Stimme: »Weißt du, jenes Clownsgesicht, über und über bemalt mit fröhlichen Farben, das Weiß um den Mund und das saftige Himbeerrot der Lippen, lange, feine, zarte Wimpern und blauviolette Lider, die Brauen ein dicker schwarzer Strich und die Wangen leicht gerötet, pointillistisch auslaufend bis zu den Ohren, jene geschmückt mit zwei langen Silberstäben, die leicht klirren. Und jetzt ist dieses Mädchengesicht entstellt von Trauer, das heißt, entstellt ist es nicht, es ist in eine neue Sphäre noch größerer Schönheit gehoben. Und jene Träne, die die Wange hinab eine Furche ins Weiß gräbt und darunter reine, von Schmerzen geküsste Haut sehen lässt. Und die Augen weit offen, die Lippen schließen einen Hohlraum ein, der eine Erbse knapp durchschlüpfen ließe. Und über allem jene Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger, ausgeschnitten aus irgendeiner Zeitung, der auf die in Mundwinkelhöhe stecken gebliebene Träne weist.«
Durch ihre Lider dringt das Morgenlicht. Nicole Himmel öffnet zaghaft ihre Augen. Sie schreckt zurück. Da steht jemand in der Tür!
Sofort schließt sie die Lider, als ob sie damit alles ungeschehen machen könnte. Dann schießt der Gedanke durchs Gehirn, dass sie sich wehren muss, dass sie nicht einfach hilflos liegen bleiben kann. Also öffnet sie vorsichtig die Augen.
Da ist keiner. Aber hinter der offenen Schlafzimmertür, im Eingangsbereich der Wohnung, steht der Garderobenständer und daran hängt ein schwarzer Mantel, der sich leicht bewegt. Als Nicole den Kopf ein wenig hebt, erkennt sie, dass Lucy mit den Schößen spielt. Nicole ist wieder zu Hause!
Erleichtert sinkt sie auf das Kissen zurück. Sie schwebt noch zwischen Traum und Wirklichkeit, aber die Wirklichkeit kämpft sich langsam zurück. Über diesen Gedanken nickt Nicole noch einmal ein.
Samstag, 11.5.2019
»Kommt sie runter?«, fragte Gwendolin Rauch besorgt. Nicole war gestern aus dem Spital entlassen und nach Hause gebracht worden, aber die drei Grazien hatten sie noch nicht gesehen.
»Nein«, antwortete Heinrich Müller. »Der Arzt hat gesagt, sie sei erst in ein paar Tagen wieder teilweise belastbar.«
Phoebe Helbling schlug vor: »Wir könnten ihr ein paar Fragen schriftlich stellen, sonst wissen wir überhaupt nicht, wo wir anfangen sollen.«
»Leider auch nicht«, sagte der Detektiv. »Nicole hat eine komplette Amnesie, was die Ereignisse und die Tage davor betrifft. Wie lange sie zurückreicht, wissen wir erst, wenn wir mit ihr sprechen können.«
»An die Tage im Koma wird sie sich auch nicht erinnern«, mutmaßte Melinda Käsbleich. »Also fehlen ihr mindestens zwei Wochen ihres Lebens.«
»Kann man das behandeln?«, wollte Phoebe wissen. »Hypnose?«
»Der Arzt hat mir erklärt, dass retrograde Amnesien oft bei Unfällen und plötzlich eintretenden Ereignissen vorkommen. Schusswunden werden nicht separat erfasst, da sie nicht besonders häufig sind. Er hat betont, dass sich die meisten Amnesien zumindest teilweise zurückbilden, also dass die Erinnerung wieder zurückkehrt, am ehesten durch Bilder und Gegenstände aus der fraglichen Zeit. Allerdings braucht es viel Zeit und Ruhe.«
Phoebe erkannte: »Wir haben das Opfer eines Verbrechens im Haus. Es kann sich jedoch nicht an das Geschehen erinnern. Und wir tappen im Dunkeln, als ob wir die Person gar nicht kennen würden.«
»So in etwa«, seufzte Heinrich. »Fangen wir an mit dem, was wir wissen. Nicole Himmel verlässt vor genau zwei Wochen das Haus, um einen Kurs zu besuchen, wofür sie wahrscheinlich irgendwo in die nördliche Napfregion reist. Was hat sie mitgenommen?«
Die vier hatten sich im Büro der Detektei Müller & Himmel auf die wenigen Sitzplätze verteilt, während Nicole ein Stockwerk höher in ihrem Bett lag und immer noch wenig von all dem mitbekam, was um sie herum passierte.
»Was man halt für ein paar Tage außer Haus mitnimmt«, sagte Phoebe.
»Das wäre?«, fragte Heinrich Müller.
»Eine Reisetasche oder einen kleinen Rollkoffer mit den persönlichen Effekten, jedenfalls nichts Großes. Ihr Portemonnaie mit Ausweisen, Kreditkarten. Das Handy.«
»Das Notebook?«, fragte Heinrich Melinda, die an Nicoles Arbeitsplatz saß, während ihr Lucy, die Schildpattkatzendame mit dem schwarzen Fell und dem rotgoldenen stehenden Dreieck über der Nase, über die Tastatur rannte.
»Ist nicht an seinem Platz.«
Müller erklärte: »Das wissen wir zwar bereits seit Tagen, aber es ist wichtig, sich noch einmal daran zu erinnern, denn irgendwo müssen die Dinge ja geblieben sein. Markus Forrer hat eine Handyortung in Auftrag gegeben. Ohne Erfolg. Man konnte nachverfolgen, dass Nicole wirklich unterwegs in den Hornbach gewesen ist, aber kurz vor Wasen hat sie das Handy ausgeschaltet. Und seither blieb es stumm. Haben wir noch einen Anhaltspunkt?«
Phoebe fragte: »Sagt uns die Ortung auch, mit welchem Verkehrsmittel sie unterwegs war?«
»Nein. Sie sagt uns noch nicht einmal, ob wirklich Nicole das Handy bei sich gehabt oder ob es jemand anders mitgetragen hat. Aber da Nicole hinter der Hornbach-Pinte gefunden wurde, gehen wir davon aus, dass sie es selbst bei sich hatte.«
»Eventuell hatte sie einen Fotoapparat mitgenommen«, sagte Gwendolin.
Melinda zweifelte: »Zusätzlich zum Handy?«
»Also wahrscheinlich nichts weiter«, schloss Heinrich. »Ihr habt eure Laptops startbereit? Das Passwort für die Detektei lautet …«
»›Beverly Negril‹«, sagten die drei wie aus einem Munde. »Ist bekannt. Immer etwas aus einem der letzten Fälle.«
Müller war überrascht. »Das für Nicoles soziale Netzwerke kennt ihr auch?«
»Wahrscheinlich ›Magdalena im Ager‹«, riet Phoebe, denn sie hatte eine sentimentale Ader.
»Bingo«, sagte Gwendolin. »Ich bin in ihrem Facebook-Account drin. Seit Mittwoch lauter Geburtstagswünsche.« Sie scrollte enttäuscht weiter.