Paul Lascaux

Emmentaler Alpträume


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müsste man wissen«, meldete sich Gwendolin, »wo das Verbrechen stattgefunden hat.«

      Phoebe hatte die Ansicht von Google Maps verkleinert. »Zur Hornbach-Pinte kommt man von drei verschiedenen Seiten: entweder aus dem hinteren Hornbach, von der Fritzenflue oder aus Wasen.«

      Heinrich zeigte auf die Hügel: »Oder von einer der Anhöhen. Wir brauchen genauere Karten. Geh auf swisstopo und bestelle sofort die Fünfundzwanzigtausender-Karten von der ganzen Umgebung.«

      Phoebe wurde schnell fündig. »Erledigt. Glück gehabt. Es gibt einen Zusammenzug für das Napfgebiet.«

      Freitag, 3.5.2019

      Markus Forrer und Heinrich Müller standen Punkt elf Uhr vor der verschlossenen Tür des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Bern an der Bühlstraße in der Länggasse. Der Kommissar zückte sein Handy, um den Eintrag in der Agenda zu überprüfen.

      »Elf Uhr, vorgestern abgemacht.« Er hob die tiefschwarzen Augenbrauen, die vom langen Haupthaar, das über die Stirn gefallen war, beinahe verdeckt wurden. »Dr. Augsburger ist doch die Zuverlässigkeit in Person.«

      »Wir haben ja sonst nichts zu tun«, sagte der Detektiv. »Hast du neue Erkenntnisse?«

      »Nein.«

      Heinrich erzählte seinem Polizeikollegen von der Diskussion in der Detektei.

      »Ich will euch von Anfang an mit dabeihaben«, sagte Forrer. »Zehn Augen sehen mehr als zwei, und ihr kennt Nicole wesentlich besser als ich. Was hat sie denn im Emmental gesucht?«

      Nun war es an Müller, seinem Nichtwissen Ausdruck zu verleihen. »Letzten Freitag hat sie uns erzählt, sie besuche einen Kurs. Welchen und wie lange, hat sie nicht gesagt. Wir müssen wohl warten, bis wir sie fragen können.«

      Sich rasch nähernde Schritte waren zu hören. Schritte von zwei Personen, zum einen von einem Paar Lederschuhe, die bei jedem Auftreten leicht quietschten, wenn das Wasser aus den Regenpfützen hervorquoll, das durch ein Loch in der Sohle gedrungen war; zum andern von einem Paar, das mit spitzen Absätzen über die Fliesen klackerte.

      »Tut mir leid, dass wir zu spät sind«, sagte Dr. Augsburger und trocknete mit einem Papiertaschentuch seine Glatze, bevor er ihnen die Hand entgegenstreckte. Laura de Medico klappte den blau gepunkteten Schirm zu und begrüßte die beiden ihrerseits, während der strahlende Blick aus den rehbraunen Augen, der zwischen Erwartung und Erfüllung oszillierte, vor allem auf Markus Forrer fiel.

      »Wir kommen gerade aus dem Spital«, erklärte der Rechtsmediziner, als er die Tür aufschloss. Mit dem Betätigen des Lichtschalters ertönte gleichzeitig Musik. Romantische Klanglandschaften mit Orchester- und Klavierbegleitung waberten durch den Seziersaal, dazwischen fiepte eine Mädchenkopfstimme ihre komplexen Geschichten.

      »Joanna Newsom«, erklärte Augsburger, »ein elfenhaftes Wesen mit langem Haar, eine Märchenprinzessin«, schwärmte er. Augsburger war bekannt für seinen exzentrischen Musikgeschmack. »Eigentlich Harfenspielerin. New Folk nennt sich das.«

      »Meinen Sie, die Toten lassen sich davon erschüttern?«, bemerkte Forrer mit schneidender Stimme.

      Augsburger konterte: »Wir haben eher daran gedacht, sie wieder aufzuwecken.«

      Dann gingen sie für einmal ins Büro.

      »Zur Abwechslung haben wir es erfreulicherweise mit einer Überlebenden zu tun«, setzte Augsburger das Gespräch fort, »und wir hoffen, dass es so bleibt.«

      Müller wollte wissen: »Ist Nicole ansprechbar?«

      »Nein, sie liegt immer noch im künstlichen Koma«, antwortete Laura. »Wird noch ein paar Tage dauern. Jedenfalls bis die Wundheilung im Körper ohne Komplikationen abgeschlossen ist.«

      »Dann können wir sie besuchen?«

      »Dann können Sie sie abholen«, schaltete sich Augsburger ein. »Sie liegt kurze Zeit im Aufwachraum, aber zur endgültigen Genesung wird sie wohl entlassen. In der gewohnten Umgebung erholt sie sich schneller, und man kann ein Trauma eher vermeiden. Ich muss Sie schon darauf hinweisen, dass sich Frau Himmel noch immer in einem zwar stabilen, aber kritischen Zustand befindet. Sie hat einen Lungenstreifschuss erlitten. Wenige Millimeter haben zu einem Lungendurchschuss gefehlt, und da sie erst etwa zwei Stunden nach der Verletzung ins Spital gebracht worden ist, hätte das wohl zu einem tödlichen Lungenkollaps geführt. Diese Gefahr ist gebannt, aber sie braucht nun Antibiotika, um eine Sepsis zu verhindern. Deswegen das künstliche Koma.«

      Forrer fragte: »Was haben Sie vor Ort gemacht?«

      Laura entgegnete: »Den Berichten der Polizei und des KTD ist wenig Aufschlussreiches zu entnehmen. Es gibt auch kein Projektil, das sie am Fundort entdeckt hätten. Deswegen haben wir Nicole untersucht. Es handelt sich um einen glatten Durchschuss, der wie gesagt die Lunge gestreift, aber sonst keinen groben Schaden angerichtet hat. Im Körper sind keine Projektilreste zu finden.«

      »Der KTD hätte eine Patrone oder eine Hülse bestimmt gefunden«, sagte der Kommissar. »Sie wussten ja, dass es um eine Schussverletzung geht und hatten wohl ein Metallsuchgerät dabei. Das lässt den Schluss zu, dass Fundort und Tatort nicht identisch sind, es sei denn, der Täter hätte extrem gut aufgeräumt. Also hat man Nicole dort abgelegt. Gibt es denn Erkenntnisse zur benutzten Munition?«

      Die Stille im Raum war bedrückend. Die Harfenistin beschallte wohl weiter den Seziersaal und Augsburgers Klienten. Ins Büro aber drang dank der dreifach verglasten Fenster nicht einmal das Zwitschern eines Vogels.

      »Schwierig«, sagte Augsburger. »Eine Waffe mit hoher Durchschlagskraft, kleines bis mittleres Kaliber. Das Einschussloch im rechten Unterbauch ist kaum zu erkennen, das Ausschussloch unter dem Rippenbogen in erwartbarem Ausmaß größer. Der Schusskanal hat sich relativ schnell zusammengezogen, die inneren Blutungen waren glücklicherweise nicht heftig, sodass es dank der Antibiotika keine Entzündungen oder Infektionen geben sollte. Bei vernünftiger Wundheilung muss man in Nicoles Alter auch nicht mit Spätfolgen rechnen, es sei denn mit solchen der Psyche. Aber ich glaube, sie hat vom ganzen Geschehen nicht viel mitbekommen, deswegen bin ich optimistisch.«

      »Wir haben Nicole komplett untersucht«, fügte Laura an. »Der Körper weist keine weiteren Wunden auf, weder Druckstellen noch Prellungen, was darauf hindeutet, dass keine direkte Auseinandersetzung stattgefunden hat.«

      »Was wir allerdings bemerkt haben«, schloss sich Augsburger an, »sind Kratzer an den Fingern, leichte Absplitterungen an den Nägeln und ziemlich viel Dreck darunter. Nicole ist vielleicht ausgerutscht und hat versucht, sich festzuhalten. Darauf deutet die lehmverkrustete Kleidung. Die war wahrscheinlich auch nass, aber ob das vor oder nach der Deponierung auf der Platzgeranlage geschehen ist, können wir nicht sagen.«

      Stumm prasselte der Regen gegen die Scheiben.

      Freitag, 10.5.2019

      Nicole erkennt das Gebäude wieder. Es ist ein Stöckli, und da treibt sich auch ihre Freundin Claudia rum. Die erklärt der furnierten Holzwand, dass im Emmental früher der jüngste Sohn der Erbe des Bauernhofes war, die älteren gingen leer aus und mussten zum Söldnerdienst oder sich andernorts ein Heimetli suchen, weshalb die Töchter besonders begehrt waren, wenn der Bauer keine Söhne gezeugt hatte.

      Wie ein Geist schwebt Claudias Gestalt nun durch die Stube und erklärt weiter. Wenn der Älteste volljährig war, waren die Eltern erst um die vierzig und noch zu jung, um sich zurückzuziehen. Beim jüngsten waren sie zwischen fünfzig und sechzig, und die Eltern konnten ihm noch ein paar Jahre zur Hand gehen, zogen jedoch aus dem großen Bauernhaus hinüber ins kleinere, ins Stöckli.

      Davor sitzen nun Nicole und Sandra auf einer Bank an der Sonne, wie ein altes Bäuerinnenpaar. Plötzlich sagt Claudia in den Nachmittag hinein: »Wir müssen noch einmal zum Wasserfall.«

      Nicole erinnert sich, wie sie am frühen Morgen beglückt durchs taufrische Gras gerannt ist. Irgendwo plätschert ein Bach, dem sie nach oben folgt, bis sie in einer Geländemulde anlangt. Dort fällt das Wasser über