Anja Eichbaum

Inselduell


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eine sehr saubere und objektive Analyse und hat einen eher akademischen Stil. Sie war Naturwissenschaftlerin. Da fällt es mir schwer, einen Zusammenhang zu Tarotkarten herzustellen.«

      »Eine Bedeutung wird es haben.« Gert Schneyders Miene verhärtete sich plötzlich. »Es ist doch so: Der Täter oder die Täterin hätte das Opfer einfach erschießen können.« Er hob die Hand. »Bitte nicht missverstehen. Einfach bedeutet hier, ohne dass er Hinweise hinterlässt. Also: Warum sollte ein Täter so etwas machen?«

      »Um seine Visitenkarte zu hinterlassen«, kommentierte Theresa Westerkamp blitzschnell.

      »Kann man machen«, antwortete Martin. »So etwas kommt vor. Allerdings erhöht der Täter mit jedem ausgelegten Hinweis das Risiko, dass er Spuren hinterlässt oder wir Verbindungen herstellen können.«

      »Es sei denn, er fühlt sich intellektuell überlegen und möchte das in einem Katz-und-Maus-Spiel demonstrieren.« Frau Westerkamp blitzte ihn mit ihrem Lächeln an. Der Wortwechsel machte ihr sichtbar Spaß. So ein Täterprofil würde auch auf sie passen, dachte Martin einen winzig kleinen Moment gehässig.

      »Vielleicht ist es eine politische Botschaft, die dahintersteckt. Wenn es um den Wahlkampf geht, bekommt das Ganze eine Dimension, die ich Ihnen nicht wünsche.«

      »Ich glaube das nicht«, wandte Martin ein. »Politische Dimension! Was soll das sein? Wir sind auf Norderney. Hier geht es nicht um große Posten oder die Weltwirtschaft. Nein, nein. Ich glaube, da steckt was anderes hinter.«

      Gert Schneyder sah wieder auf seine Finger. »Also absichtlich falsche Spuren statt offensichtlicher Statements?«

      »Meine Herren, wir lassen die KTU ran. Ich liefere bis morgen Mittag Ergebnisse, dann sehen wir weiter. Bis dahin habe ich mich in die Materie der magischen Prophezeiungen eingearbeitet.«

      Martin stöhnte auf und fing sich einen missbilligenden Blick von Schneyder und Westerkamp ein.

      »Schon gut.« Er hob abwehrend die Hände. »Ich habe nichts gesagt. Ich kümmere mich währenddessen um die Kinder. Denn das ist das Tragischste an der Geschichte. Dass Frau Mertens zwei minderjährige Kinder hinterlässt. Ach ja. Meine Kollegen und unsere Wache stehen Ihnen selbstverständlich zur Verfügung, Herr Schneyder. Also dann. Man sieht sich.«

      *

      »Sie sind sich sicher, dass es die Mutter der Kinder ist?«

      Martin hatte den Namen der Mitarbeiterin vom Jugendamt, die ihm die Frage stellte, schon vergessen, so rotierten seine Gedanken, seit er in der Wohnung von Frau Mertens angekommen war. Eigentlich wäre es Schneyders Aufgabe gewesen, mit den Kindern und dem Amt zu sprechen. Aber da er nicht gleichzeitig überall sein konnte, hatten sie besprochen, dass Martin übernahm. Als die Kinder vor ihm gestanden und ihn mit Fragen überfallen hatten, ob er etwas über die Mutter wisse, hatte er die Angst in ihren Augen lesen können.

      »Wir reden gleich«, hatte er zu den Kindern gesagt und dann zuerst mit seiner Kollegin Nicole gesprochen. Diese hatte Tränen in den Augen, als er den aktuellen Stand zusammenfasste.

      »Glücklicherweise ist bisher nichts über die Handys der Kinder reingekommen. Davor hatte ich die meiste Angst. Wir werden es den Kindern sagen müssen, bevor das auf der Insel rund ist.«

      »Bisher ist anscheinend nichts durchgedrungen. Wir haben den Planetenweg weiträumig abgesperrt. Sicher haben viele mitbekommen, dass etwas passiert ist, aber noch nicht, was und wer.«

      »Darauf möchte ich mich nicht verlassen«, hatte Nicole erwidert, bevor sie zu den Kindern zurückgekehrt war. Die Kinderzimmertür hatte sie zu sich herangezogen und sich herumgedreht. »Die armen Kinder.« Den einen Satz nur, in dem alles lag. Das Leid, das nie mehr gutzumachen wäre.

      Nun saß Martin der Sozialarbeiterin gegenüber und hörte ihre Frage, ohne den Inhalt zu verstehen.

      »Ob es sicher ist, dass es sich um Frau Mertens handelt, Herr Ziegler.« Sie legte ihm die Hand auf den Arm, wohl, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. »Ich kann nicht lauter reden. Die Kinder.« Sie deutete mit dem Kopf zur Tür.

      Martin nahm sein Gegenüber jetzt erst bewusst wahr. Wie jung sie schien. Mitte 20 höchstens. Für ihn unverständlich, dass man in so einem Alter auf dem Jugendamt arbeitete und Eltern beriet. Aber das war anscheinend die sich verändernde Perspektive, die sich mit Fortschreiten des eigenen Alters verschob. Auch Annes Kollegen im Krankenhaus schienen ihm manchmal halbe Kinder zu sein. Und bei der Polizei – kaum vorstellbar, wie jung er in seinen Anfängen gewesen war.

      »Herr Ziegler!« Er hörte, dass ihre Stimme panisch wurde.

      »Ja. Ja. Anwesend. Und ja. Wir sind uns sicher. Das charakteristische Muttermal, das Frau Mertens neben dem Auge hatte, ist eindeutig. Und überhaupt.« Er deutete vage durch den Raum. »Was sollte das für ein Zufall sein?«

      »Stimmt. Die Kinder haben mir erzählt, dass sie nie allein waren. Obwohl der Junge, Mattis, durchaus auf seine Schwester hätte aufpassen können«, sagte er. Die Sozialarbeiterin lächelte. »Aber entweder war die Nachbarin informiert oder eine Art Nanny engagiert. Anscheinend sogar ziemlich oft, gerade in der letzten Zeit. Jasmin Molitor. Sagt Ihnen das was?«

      Ziegler überlegte, verneinte dann. »Aber das lässt sich rausbekommen.«

      »Wäre nicht schlecht, wenn es jemanden gäbe, zu dem die Kinder Vertrauen haben. Wenn wir es ihnen sagen.«

      »Das wollen Sie übernehmen?« Martin hörte den Zweifel in der eigenen Stimme. Es sollte nicht so abwertend klingen, wie es das tat.

      »Ich überlege noch.« Die Sozialarbeiterin schien es ihm nicht übel zu nehmen. »Ich telefoniere gleich mit meiner Dienststellenleiterin.«

      »Wie geht’s denn überhaupt weiter? Sollen wir nicht die Suche nach Angehörigen in die Wege leiten?«

      »Schwierig. Der Vater scheint tot zu sein.«

      »Tot?« Martin hatte den Eindruck, etwas falsch verstanden zu haben.

      »Sie wissen nichts Näheres über den Familienstand von Frau Mertens?« Die Sozialarbeiterin hatte einen Block mit eingehaktem Kugelschreiber aus einer überdimensional großen Segeltuchtasche gezogen.

      »Nein, wieso sollte ich?«

      »Nun ja, so groß ist die Insel nicht.«

      »Unterschätzen Sie das mal nicht. Die Norderneyer unter sich, die kennen sich. Aber Frau Mertens war zugezogen.«

      »Mattis, der Sohn, erzählte, dass seine Mutter Bürgermeisterin werden will.« Sie stockte. »Wollte, muss ich sagen. Da wird doch einiges über sie bekannt gewesen sein.«

      »Klar, das schon. Vor allem die Tatsache, dass sie als Alleinerziehende kandidiert, hat den Konservativen nicht gepasst. Übrigens waren in der Hinsicht beide Gegenkandidaten konservativ.« Letzteres hatte er leise vor sich hingemurmelt, weil es ihm plötzlich als etwas in den Sinn kam, dem nachzugehen sich im Rahmen der Ermittlungen lohnen würde. Was für verschwurbelte Gedanken, schalt er sich selbst. Manchmal dachte er im Beamtenjargon. Er versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. »Alleinerziehend, ja, das war ein großes Thema. Ich wäre allerdings nie auf die Idee gekommen, dass Frau Mertens verwitwet ist. Von so was geht man in dem Alter einfach nicht aus. Witwe – das ist was für alte Frauen.«

      Die Sozialarbeiterin lächelte zum ersten Mal und sah dadurch erschreckenderweise noch jünger aus. Martin ärgerte sich, dass er ihren Namen vergessen hatte. Peinlich, später nachfragen zu müssen. Fürs Protokoll würde es sich nicht vermeiden lassen.

      »Aber was viel schlimmer ist«, spann er den Gedanken an Frau Mertens weiter, »sie sind dann Vollwaisen.«

      »So ist es. Leider.«

      »Was machen wir nun mit den Kindern?«

      »Wir –«, sie atmete aus, »das heißt, ich werde die Kinder wohl in Obhut nehmen müssen.«

      »Aber es wird doch irgendjemanden geben, der beiden nahe steht.«

      »Bestimmt.«