Anja Eichbaum

Inselduell


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nicht da.«

      »Ich glaube, ich verstehe nicht, was Sie wollen. Das ist doch kein Anlass für die Polizei, wenn jemand nicht zu Hause ist. Überhaupt. Wieso sind Sie da, wenn Sie nicht die Wohnungsinhaberin sind? Das ist viel eher von Relevanz für uns. Nennen Sie mir bitte Ihren Namen und den genauen Grund Ihres Anrufs.«

      »Ich bin die Nachbarin. Und ich habe einen Schlüssel für die Wohnung von Frau Mertens. An Ihrer Stelle würde ich mich auf den Weg machen. Frau Mertens ist nicht in der Wohnung. Ihre Kinder sind es sehr wohl. Allein. Die Kinder sind aufgewacht, die Mutter war verschwunden. Das Bett nicht benutzt. Kein Zettel auf dem Küchentisch oder an der Wohnungstür. Keine Nachricht an mich. Das Handy ist ausgeschaltet. Sie ist nicht erreichbar. Kein Lebenszeichen. Nichts.«

      Olaf Maternus runzelte die Stirn. Alle verfügbaren Kollegen einschließlich des Chefs waren ausgerückt. Fund einer weiblichen Leiche am Planetenweg. Die Haare an seinen Armen stellten sich auf. Es würde doch hoffentlich keinen Zusammenhang geben?

      Mit aller Professionalität suchte er nach einer beruhigenden Antwort. »Dafür wird es sicher eine harmlose Erklärung geben. So jung sind die Kinder von Frau Mertens doch nicht, wenn ich das von ihrer Wahlvorstellung richtig in Erinnerung habe. Da darf man auch die Wohnung einmal verlassen.«

      »Glauben Sie mir. Frau Mertens macht das nicht. Bitte kommen Sie her. Es muss sich einer um die Kinder kümmern.«

      »Um die Kinder. Ja, natürlich.«

      »Sagen Sie mal. Sie werden doch eine Kollegin vorbeischicken können, oder nicht? Bin ich überhaupt mit der Polizei verbunden?«

      Maternus räusperte sich. »Selbstverständlich. Es ist nur so …« Er konnte ihr beileibe nicht sagen, weshalb alle diensthabenden Kollegen ausgerückt waren. »Ich denke, dass ich sicherheitshalber das Jugendamt benachrichtige.«

      »Das Jugendamt? Wollen Sie aus der Tatsache eine politische Nummer machen? Weil Wahlkampf ist? Sie haben doch eben selbst gesagt, es könnte einen harmlosen Grund haben. Warum die Pferde scheu machen. Das Jugendamt.« Er konnte sich vorstellen, wie sie bei den Worten den Kopf schüttelte.

      »Also gut. Ich kümmere mich. Bitte bleiben Sie bei den Kindern. Es kann etwas dauern, ja?«

      Ratlos legte Olaf auf. Wen sollte er bloß zuerst benachrichtigen? Martin, seinen Vorgesetzten? Der da draußen am Fundort der Leiche genug zu tun hatte? Oder Norden um Unterstützung bitten? Das Jugendamt? Als Erstes würde er versuchen, eine der dienstfreien Kolleginnen zu erreichen. Und dann doch lieber Martin. Er hatte ein mulmiges Gefühl bei der Sache. Das ließ sich nicht von der Hand weisen.

      *

      Martin Ziegler strich sich die Haare aus der Stirn. Wahrscheinlich würde er sie doch wieder kürzer tragen müssen. In Situationen wie diesen machte es ihn verrückt, dass sie ihm ständig die Sicht nahmen. Andererseits hatte er keinen größeren Wunsch, als die Augen vor dem zuzumachen, was er vorgefunden hatte.

      Noch kniete der Notarzt auf einer Plastikunterlage neben dem toten Körper. Aber es gab keinerlei Reanimationsversuche. Das hatte er erwartet. Doch auf einen oberflächlichen Augenschein durfte sich kein Arzt verlassen.

      Wenige Minuten waren das, in denen er, Martin Ziegler, leitender Inselpolizist, über das weitere Vorgehen nachdenken konnte. Vorausahnen konnte, was der nächste Anruf für Konsequenzen haben würde. Wenn er zugeben musste, dass es schon wieder einen Todesfall auf der beliebten Ferieninsel gab. Und zwar nicht irgendeinen, sondern einen unnatürlichen. Möglicherweise sogar Mord. Wenn er eingestehen musste, dass so etwas seit seinem Amtsantritt gang und gäbe war. Was man daraus bei der Kriminalpolizei in Aurich für Schlüsse zog, hatten sie ihm im letzten Jahr deutlich vermittelt. Die Stimme der zuständigen Kommissarin hatte er noch sehr gut im Ohr. Er stöhnte auf, als er daran dachte, dass sie in zwei, drei Stunden wieder vor ihm stehen würde. Es durfte nicht wahr sein. Als läge auf der Insel ein Fluch seit seinem Amtsantritt.

      Der Arzt erhob sich und trat auf ihn zu. »Da kann ich nichts mehr ausrichten. Da müssen die Fachleute aus der Gerichtsmedizin ran. Tut mir leid.«

      Er hörte das Mitgefühl in der Stimme des Arztes. Er war ein Kollege von Martins Lebensgefährtin. Ob Anne mit ihm über seine Zweifel und Sorgen gesprochen hatte? Ein unbehagliches Gefühl erfasste ihn. Schlimm genug, wenn Aurich nichts von ihm hielt. Mitleid war das Allerletzte, was er auf der Insel haben wollte. Ob auch Anne …?

      Unwillig hob er die Hand. »Können Sie denn schon was sagen? Eine erste Einschätzung?«

      Der Arzt zog eine Zigarettenpackung aus seiner Rettungsjacke und zündete sich eine an. »Sorry. Ich rauche nur nach Todesfällen. Aber das muss sein. Also: sieht für mich nach einer tödlichen Schussverletzung aus. Ich will mich nicht endgültig festlegen, ob es ein Suizid sein könnte. Sieht aber weniger danach aus. Auf den ersten Blick habe ich keine Waffe gesehen. Das Ganze hat eher den Charakter einer Inszenierung. Wenn Sie näher rangehen, werden Sie wissen, wovon ich spreche. Ich weiß nur: Wenn das ein Mord ist, dann aber gute Nacht, Norderney.«

      »Wieso?« Martin fuhr ein kalter Schauder über den Rücken.

      »Haben Sie sie noch nicht erkannt? Die Tote? Ich dachte, wo im Augenblick doch jeder …« Das laute Schrillen von Martins Diensthandy ließ den Notarzt stocken.

      Fast wollte Martin den Anruf wegdrücken. Was würde Olaf Maternus schon Wichtiges wollen? Nichts konnte eine so hohe Priorität haben wie der Leichenfund. Doch dann nahm er das Telefonat an und spürte, wie ihm seine Züge entglitten. Sein Blick fiel auf die Frau, die dort hinten an der Stange des Jupiters lehnte. Das konnte doch unmöglich wahr sein. Er starrte den Notarzt an, der an seiner Zigarette zog und tief inhalierte.

      Martin ließ das Handy sinken. Der Arzt sprach, als hätte es keine Unterbrechung gegeben, aus der Rauchwolke heraus, die seinen Mund wabernd verließ und sich mit dem Dunst des Morgens zu vermischen schien: »… das Wahlplakat kennt. Das ist eindeutig Petra Mertens, die Bürgermeisterkandidatin. Hundertpro würde ich sagen. Da möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken.«

      *

      Die Plakate waren beschmiert. Alle. Samt und sonders. Es gab kein einziges, das nicht betroffen war.

      KWK hatte ein Hitlerbärtchen, und dem Kandidaten der Fortschrittspartei, Häusler, hatte jemand Dollarzeichen in die Augen gemalt. So weit – so banal, weil fantasielos. Am schlimmsten hatte es aus Anne Wagners Sicht die Kandidatin der Zukunfts- und Umweltpartei, der ZUP, erwischt. Und damit die einzige Frau. Die angedeutete Banane an ihren Lippen war eindeutig sexistisch und obszön gemeint. Anne machte so etwas wütend. Der Zustand der politischen Landschaft war ein Trauerspiel, egal, wohin sie sah. Weltweit, europaweit, deutschlandweit. Das brach sich bis in die kleinsten kommunalen Zellen runter. Ein unsäglicher Umgang miteinander. Manipulative Stimmungsmache und ein Toben des Mobs im Internet waren alltäglich geworden.

      Bisher hatte sie Norderney für so etwas wie die Insel der Glückseligen gehalten. Klar gab es auch hier Probleme. Die waren ja zuletzt oft genug benannt worden. Stichwort: Ausverkauf der Insel. Auf der anderen Seite waren das doch Luxussorgen im Vergleich dazu, was anderswo abging. Oft hatte sie sogar ein schlechtes Gewissen, so weit vom Schuss zu sein.

      Und trotzdem machte sich auf der Insel etwas breit, was ihr nicht gefiel. Der Respekt voreinander schwand, das Verständnis füreinander genauso. Jeder war sich selbst der Nächste, der Spruch galt mehr denn je. Das »first« reklamierte mittlerweile jedermann für sich.

      Anne bremste ab, als ein paar Kaninchen hinter der Kurve ihren Weg blockierten. Die kühle, frische Luft auf der Strecke zum Krankenhaus tat ihr wie jeden Morgen gut. Am liebsten würde sie weiterfahren in die Dünen hinein Richtung Ostende der Insel. Doch dagegen sprach der Dienstbeginn. Wenn sie heute Nachmittag einmal pünktlich die Station verlassen konnte, würde sie eine ausgiebige Runde drehen. Schon seit Anfang des Monats lag Frühjahrsluft über der Insel. Die Tage wurden länger, spätestens in drei Wochen würde die Saison Fahrt aufnehmen, und am Ende des nächsten Monats begann die Tennissaison. Schade, dass Norderney keine Halle besaß. Vielleicht würde sich das ändern, wenn die Insel über die Wintermonate attraktiver wurde. Davon hätten sie doch alle etwas. Anne grinste. Bei der nächsten