Anja Eichbaum

Inselduell


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denken. Schnell öffnete sie die Kühlschranktür und goss sich ein Glas kaltes Wasser ein, das sie ohne Absetzen austrank.

      Genauso häufig waren allerdings die Abende, an denen die Kinder eifersüchtig um ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung buhlten und jeglichen Streit vom Zaun brachen, der sich ihnen bot. Da ging es um geklaute Lieblingsdecken, um die Zeit des Zähneputzens, um verschwundene Handys, Bücher und CDs, um angebliche Missetaten am Tag. Haare ziehen, boxen, kneifen, treten – all das wurde eingesetzt, um das eigene Recht zu unterstreichen, und keine der Konfliktlösungen, auf die die Schule so großen Wert legte, konnte sie durchsetzen. Es waren die Abende, an denen sie schließlich alle schrien, nur um den anderen zu übertönen, und sie war in diesen Augenblicken keinen Deut besser als die Kinder. Dass einer das hören würde, war ihre größte Angst. Was Mattis mit seinen zwölf Jahren zu nutzen wusste. »Schreist du dann als Bürgermeisterin auch so rum?«, hatte er letztens gefragt. Sofort danach war eine unheimliche Stille eingetreten. Klara hatte erschrocken die Augen aufgerissen, Mattis war aus dem Zimmer gestürmt, hatte sich im Bad eingeschlossen und dort bitterlich geweint. Es war einer der Abende gewesen, an dem sie sich nach dem ersten Schreck laut zugesprochen hatte: »Aber nicht doch. Ich muss nicht perfekt sein, um dieses Amt anzutreten. Wer fragt danach, ob einer der männlichen Kandidaten zu Hause mit den Kindern brüllt?«

      Trotzdem hatte sie seitdem oft Sorge wegen möglicher abendlicher Eskalationen. Dass sie deswegen nach und nach die Freiräume der Kinder etwas ausgeweitet hatte, wusste sie selbst. Andererseits bewegte sie sich immer noch in einem Bereich von Regeln und Grenzen, der in anderen Familien schon lange ausgehebelt war. Tatsächlich war sie sogar dazu übergegangen, das Thema Kinder und Familie immer mehr in ihre Wahlkampfveranstaltungen aufzunehmen. Obwohl es ihr anfangs als die größte Hürde erschienen war. Nach dem, was alles war. Weil sie Angst vor den Fragen gehabt hatte.

      Nun aber erlebte sie, wie sehr sie Menschen emotional erreichen konnte. Wenn sie ihre eigenen Sorgen hinsichtlich der Kinder thematisierte, wenn sie Unsicherheiten äußerte und auf die Lebensbedingungen junger Familien einging. Gerade, weil es zu ihrem Schwerpunktthema passte. Umweltschutz. Erhaltung der Natur. Die Zeichen der Zeit standen gut für sie. Es tat sich was. Es war Bewegung in der Sache. Schon lange hatte niemand mehr so wie jetzt damit punkten können, wenn er zu einem Überdenken der eigenen Lebensweise aufrief. Hier war sie klar im Vorteil. Als vergleichsweise junge Kandidatin mit 39 Jahren nahm man ihr ab, wenn sie für die Zukunft ihrer Kinder die Stimme erhob.

      Aus dem Wohnzimmer erklang gedämpft die Titelmusik von ›logo!‹, dem Nachrichtenmagazin für Kinder. Es blieben ihr zehn Minuten. Die Zeit für sich allein hatte ihr gutgetan. Sie würde den Abend nutzen, um den morgigen Vortrag vorzubereiten, bei dem sie über die Gleichstellung zwischen Mann und Frau in einer modernen Umweltpolitik sprechen würde. Sie holte ihren Laptop aus der Tasche an der Garderobe und stellte ihn auf den Küchentisch. Daneben das Wasserglas und ein Schälchen mit Gummibären. Genau abgezählt, damit es ihre Energiekalkulation nicht allzu durcheinanderbrachte. Aber als kleine Reminiszenz an ihre Heimat. Die rot-gelb-grün-weiß-orangen Zuckerportionen hatten sie schon durchs Abitur und alle ihre Uniprüfungen gebracht. Nun musste sie nur vermeiden, dass Mattis und Klara die Küche stürmten.

      Was sie sofort vergaß, als sich ihr Handy meldete. Die schrille Klingel, die an einen alten Festnetzapparat erinnerte, ließ sich nicht ignorieren. Damit drangen nur die wichtigsten Anrufe zu ihr durch. Es blieb ihr nichts anderes übrig. Wahlkampfzeiten.

      »Petra Mertens, hallo?«, meldete sie sich.

      Als sie auflegte, hatten ihre Kinder die Süßigkeiten aus der Küche entführt und stritten sich lauthals um die Farben. Petra schaute irritiert auf ihren Laptop. Sie war verwirrt. Verstand nicht, was der Anruf zu bedeuten hatte. Wusste nur, dass sie handeln musste. Jetzt. Sofort. Heute Abend noch.

      *

      Daniela Prinzen sah sich zufrieden im Frühstücksraum um. Das Essen hatte allen geschmeckt, es war nur wenig übrig geblieben von dem Fingerfood, das sie zubereitet hatte. Der große Suppentopf war sogar komplett leer, wie sie eben bei einem Gang in die Küche festgestellt hatte.

      »Möchte noch einer einen Kaffee?«, fragte sie in die Runde. Frank erhob sich. »Den mache ich. Du bleibst jetzt mal sitzen.«

      Daniela grinste. Ihr Mann hatte seine guten Seiten nach der Hochzeit im letzten Jahr nicht abgelegt. Immer hatte er im Blick, wie er sie unterstützen konnte. Sie hatten sich ja nicht eben wenig vorgenommen mit einem Hostel auf einer der beliebtesten Ferieninseln der Nordsee.

      »Nein. Nein.« Energisch setzte sich die Stimme von Frau Dirkens durch. »Das wollt ihr mir ja wohl nicht antun. Kaffee um diese Uhrzeit?«

      »Nun ja, der ein oder andere vielleicht.« Daniela sah fragend in die Runde.

      »Aber es ist mein Geburtstag. Liebe Kinder, so geht das nicht.«

      Daniela schlug sich an die Stirn. Sie wusste, worauf die alte Dame hinauswollte. Die Teezeremonie fehlte. Frau Dirkens’ ganz spezielle, eigenwillige Version des ostfriesischen Brauchs.

      »Aber selbstverständlich sind wir dabei.« Martin Zieglers dunkle Stimme übertönte die Gespräche und das Lachen der Tischrunde. »Wenn ich helfen kann? Soll ich die Flasche aus dem Giftschrank holen?«

      Alle brachen in Gelächter aus. Bei Zieglers erster Begegnung mit Frau Dirkens’ Giftschrank war er keineswegs entspannt gewesen, befand er sich doch damals als Inselpolizist in der Ermittlung eines Todesfalls. Heute aber feierten sie privat den Geburtstag der alten Pensionswirtin.

      »Nichts da, so weit ist es immer noch nicht. An meinen Schrank darf keiner ran. Auch wenn ich mich auf mein Altenteil zurückgezogen habe. Es hält mich übrigens jung, das Treppensteigen.« Und schon war sie aus dem Raum.

      »Das Gefühl habe ich auch, dass es sie jung hält«, warf Anne Wagner ein. »Das ist wirklich ein gutes Konstrukt, das ihr hier gefunden habt.«

      Daniela nickte. Sie hatte mit ihrem Mann die Pension von Frau Dirkens übernommen, während die alte Dame mit lebenslangem Wohnrecht in das oberste Stockwerk gezogen war. Nach und nach hatten sie begonnen, die in die Jahre gekommenen Zimmer zu renovieren und auf einen neuen Standard zu bringen. Dabei war eine Art Hostel entstanden, die günstiges und trotzdem modernes Ferienwohnen miteinander verband. Etwas, das mittlerweile selten auf der Insel war. Weshalb sie sich über eine mangelnde Nachfrage nicht beschweren konnten. Für Daniela war ein Traum wahr geworden. Ihren Umzug aus dem Rheinland bereute sie noch keinen Tag.

      Frank, der in der Küche das Teewasser aufgesetzt hatte, betrat den Raum mit einem Tablett voller Porzellantassen »Ostfriesische Rose«, den Kluntjes und zwei Sahnekännchen. »Das kann man wohl sagen, Anne. Wirklich eine Win-win-Situation, wie sie im Buche steht. Dass es so glatt läuft, haben wir uns alle nicht vorstellen können.«

      »Stimmt es denn, dass du zusätzlich wieder als Friseurin arbeiten willst?« Eine der älteren Freundinnen von Frau Dirkens beugte sich vor und hielt sich die Hand hinter das Ohr.

      Daniela lachte. »In der Hinsicht unterscheidet sich Norderney nicht vom Rheinland. Gerüchte verbreiten sich in Windeseile.«

      »Ach?« Enttäuscht ließ sich die Insulanerin zurückfallen. »Nur ein Gerücht.«

      »Nein, das stimmt auch nicht.« Frank ergriff wieder das Wort, während er die Tassen verteilte. »Wir überlegen noch. Das war ja auch immer einer von Danielas Träumen. Sich selbstständig zu machen mit einem mobilen Friseurservice, stimmt doch, oder?«

      »Allerdings. Als ich noch unverheiratet war, wollte ich meine Dienste ›Haarick‹ nennen, ein Wortspiel aus haarig und meinem Mädchennamen Rick. Das passt ja nun nicht mehr.«

      »Und deswegen hast du den Traum begraben?« Anne schüttelte den Kopf. »Das sieht dir nicht ähnlich.«

      »Natürlich nicht. War nur ein Spaß. Wir sind eher noch in der allgemeinen Findungsphase.«

      Anne schaute skeptisch. »Ich könnte mir vorstellen, dass alles zusammen auch zu viel wird. Franks Vollzeitstelle, das Hostel, der Umbau. Und noch ein mobiler Friseurdienst?«

      »Deswegen gehen wir das Schritt für