ist. Und was macht ein Immobilienmakler, der Anzugträger ist, wohl auf Norderney? Für Wohnraum sorgen?«
»Stimmt. Von Luxussanierungen haben wir die Nase voll. Du stehst schon für die richtigen Sachen, KWK«, schlug ihm sein linker Nachbar auf die Schulter.
Kroll kam in Fahrt. Das war sein Metier. »Und warum will der wohl Bürgermeister werden? Weil er das Beste für die Insel will? Oder weil er dann an den Schalthebeln sitzt, um die Insel noch mehr dem Ausverkauf preiszugeben?«
Der Wirt schnalzte mit der Zunge. »Der Schnösel macht uns auch keine so großen Sorgen. Aber diese Mertens.«
Kroll sah ihn zweifelnd an. »Für sie rechnest du dir Chancen aus?«
»Na, wegen mir nicht. Aber hör dich doch mal um. Die wird ernst genommen.«
»Von wem denn?«
»Ich sag es nur ungern. So als Wirt soll man ja seinen eigenen Laden nicht runterreden. Aber schaut euch doch mal um. Wie viele Leute stehen denn abends noch bei mir an der Theke? Und wie viele waren das letztes Jahr, und vor drei oder vor fünf Jahren? Länger zurückschauen will ich gar nicht, dann nehme ich mir einen Strick. Wo sind sie denn, die Einheimischen? Die Insulaner, die dich wählen?«
Kroll zog betroffen den Barhocker an sich heran und setzte sich. »Das meinst du doch nicht ernst.«
»Doch. Das meine ich so. Und ich weiß, dass hier der eine oder andere auch mit der Mertens liebäugelt. Sie hat nämlich etwas drauf. Kann auf die Leute zugehen. Kennt die Sorgen der jungen Familien, weil sie selbst Kinder hat. Sie hat so etwas Modernes, Frisches. Und dann nimmt sie die Umwelt ernst. Unser Wattenmeer. Hat richtig Ahnung davon.«
»Ich fasse das nicht. Bist du ein Überläufer? Hat sie dich angebaggert? Versprichst du dir was von ihr?« Er zeichnete übertrieben eine weibliche Figur nach, weil er wusste, dass das bei den Männern immer gut ankam.
Diesmal schwiegen alle. In ihren Augen lag Gier. Sie wollten wissen, wie es weiterging. Ob er, Kroll, denn die passenden Antworten hätte.
Der Wirt zapfte in Ruhe ein Bier, das er kommentarlos vor Kroll abstellte, obwohl er keins bestellt hatte. Dann goss er zwei Schnäpse ein, reichte ihm eins und stieß mit ihm an. »Nichts für ungut, KWK, ich bin auf deiner Seite. Ich sage dir nur, was ich höre und sehe. Auch hier am Tresen.« Er blickte sich nach den Männern um. »Stell es dir nur nicht zu leicht vor.«
Auf seiner Schulter landete wieder die Hand seines Nebenmannes. »Wir stehen doch alle hinter dir. Du bist schon der Richtige – im Ganzen gesehen. Aber wir wollen wissen, wie es weitergeht mit der Insel. Ich setze auf dich: Du wirst dir doch von einem Weibsbild wie der Mertens nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Jag sie dahin, wo sie herkommt. Zurück ins Rheinland oder sonst wohin mit ihr. Wo kämen wir denn hin, wenn unser KWK gegen so eine die Wahl verlieren würde? Also: Mach was. Zeig uns, dass du die Fäden in der Hand hältst. Wir zählen auf dich, Klaas Wilko Kroll. Verstanden? Und jetzt eine Runde Schnaps auf mich.«
*
Donnerstag, 21.03.
Neid
Verdammt. Den Weg nahm er doch jeden Tag. Jeden gottverdammten Tag, den er auf Norderney verbrachte. Und das waren nicht wenige. Sondern zunehmend mehr. War es früher nur der Sommerfamilienurlaub gewesen, so waren sie später dazu übergegangen, alle Ferien auf der Insel zu verbringen. Dann, als die Kinder größer und selbstständiger wurden, kamen die Feiertage und langen Wochenenden hinzu. Es war ein Katzensprung auf die Insel von Nordhorn aus. Und trotzdem lebten sie hier in einer anderen Welt. Besonders, seit sie den festen Stellplatz gemietet hatten. Der Wohnwagen war eine Übernahme gewesen von einem freundlichen Ehepaar, das sie beim Campen über die Jahre kennengelernt hatten.
Heile Welt, nannten sie die kleine Parzelle. Das stand auch auf dem dicken Findling, den sie neben den Eingang gewuchtet hatten. Eine heile Welt, das war die Insel immer gewesen. Und wenn er den Planetenweg morgens mit dem Segway auf dem Weg zum Bäcker befuhr, dann war das Leben für ihn in Ordnung. Später am Tag waren die Wege zu oft von rücksichtslosen Spaziergängern und Fahrradfahrern verstopft, und das brachte ihn um den Genuss des selbstvergessenen Fahrens. Einzig das Damwild und die Kaninchen kreuzten in der Frühe seinen Weg, aber hieran war er gewöhnt.
Der Koffer lag mitten auf dem Weg. Unmöglich, daran vorbeizufahren. Nur deswegen hatte er so abrupt abgebremst. Ob er sonst an ihr vorbeigefahren wäre?
Thorsten Henkel drehte sich um, um sich zu vergewissern, dass sein Kopf ihm keinen Streich spielte. Dass er sich das nicht alles einbildete.
Er zog die Jacke enger, weil ihn fröstelte. Der Frühnebel über der Wattseite und den kleinen Binnenseen, an denen der Weg entlang führte, hatte sich noch nicht vollständig aufgelöst. Deswegen wäre es möglich gewesen, dass er sie nicht bemerkt hätte, wenn er nicht wegen des Koffers hätte halten müssen.
Wie lange es dauerte, bis die Rettungskräfte kamen. Angestrengt lauschte er. Nichts. Das Martinshorn war noch nicht zu hören. Dabei war das Krankenhaus doch gar nicht so weit entfernt. Wobei er sich sicher war, dass kein Notarzt und kein Rettungsassistent mehr helfen konnte. Das ahnte auch er als Laie. Da brauchte er gar nicht hin, um Puls und Atmung zu kontrollieren. Das sah er auf die Entfernung – und das war ihm recht. Schließlich wirkte es von hier aus gruselig genug. Weit aufgerissene Augen, der Mund heruntergeklappt, von den Mundwinkeln aus zogen sich wohl getrocknete dunkelrote, fast schwarze Blutspuren zum Unterkiefer.
Die Polizei, die war wichtig. Denn die Tote hatte eindeutig ein Einschussloch. In der Höhe des Herzens. Dort war die Kleidung zerfetzt, und eine Blutlache hatte sich kreisförmig ausgebreitet. So wie in den Western, die Thorsten als Kind so gerne gesehen hatte. Als er glaubte, der Tod sei ein temporärer Zustand wie der Schlaf. Später wusste er es besser und hatte jedes Zusammentreffen vermieden. Was sich nicht durchziehen ließ. Die Eltern starben. Der Onkel. Sein bester Freund. Was seinen Rückzug auf die kleine Parzelle nur attraktiver gemacht hatte. Seitdem schaute er keine blutrünstigen und tragischen Filme, las keine Thriller. Nichts. Happy Ends waren für sein Seelenheil das Beste. Nur das hier – da war ein Happy End nicht mehr möglich.
Noch einmal blickte er zurück. Die Frau, so verzerrt ihr Gesicht im Tod auch war, schien jung zu sein. Viel, viel jünger als er mit seinen nahezu 70 Jahren. 35 vielleicht, möglicherweise 40. Er war im Schätzen nicht so gut, und bei einer Leiche konnte man wahrscheinlich schnell danebenliegen. Nur gut, dass sie darüber nicht beleidigt sein konnte.
Thorsten Henkel schüttelte den Kopf über seine abstrusen Gedanken. Die Züge der Frau kamen ihm seltsam bekannt vor, aber das war etwas, was ihm mit zunehmendem Alter immer öfter passierte. Dass ihm Fremde vertraut vorkamen und er schneller Ähnlichkeiten zwischen Menschen entdeckte. Ihre kastanienbraunen Haare waren eine Allerweltsfarbe bei Frauen, so gut kannte er sich aus. Das war wie bei seiner Christel, die hatte diesen Grundton auch, mit Varianten in Richtung rot oder einer dunkleren Haselnuss.
Endlich. Aus weiter Ferne klang das Martinshorn durch den Nebel. Gedämpft, aber stetig lauter werdend. Er seufzte erleichtert auf. Gleich müsste er sich nicht mehr verantwortlich fühlen. Er würde eine Zeugenaussage machen und dann sein Segway drehen und zurück zu seiner Christel fahren. Brötchen brauchte er heute keine. Der Appetit war ihm vergangen. In seiner Parzelle würde er den Schrecken hoffentlich schnell vergessen. Am liebsten würde er gar nicht wissen, was aus der Sache würde. Warum, weshalb, wieso diese Frau hier lag. Was ging es ihn an? In seiner heilen Welt spielte das keine Rolle. Nur Christel würde sich wundern, wo er so lange blieb und warum er ohne Brötchen käme. Wenn er ihr etwas erzählte, wäre es aus mit der Ruhe. Da kannte er sie nur zu gut. Er hoffte einfach, dass die ganze Geschichte keine allzu großen Auswirkungen auf das Norderneyer Leben hatte. Wenn er Glück hatte, war es nur ein profaner Selbstmord. Schrecklich, ohne Frage. Besonders für die Frau. Doch die Aufregung würde sich nach ein oder zwei Tagen legen. Und das wäre ihm ehrlich gesagt am allerliebsten.
*
»Polizei Norderney. Olaf Maternus. Was liegt an?«
»Moin. Ich rufe an aus der Wohnung von Petra Mertens. Sie wissen schon. Der Bürgermeisterkandidatin.«