Anja Eichbaum

Inselduell


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den Notarzt als auch uns verständigt. Eine Reanimation war nicht mehr möglich. Auf den ersten Blick sieht es nach einer Schussverletzung aus. Eine Waffe ist allerdings bisher nicht sichtbar. Wir wollten nicht …«

      »Vollkommen richtig.« Der Kripobeamte klopfte auf Martins Schulter, was selten jemand wegen seiner Größe tat. Aber Schneyder, der sicher an der Zwei-Meter-Marke schrappte, überragte ihn noch. »Alles richtig gemacht. Vielleicht liegt sie unter dem Körper oder in den Gräsern. Je nachdem, wie stark der Rückstoß war.«

      »Wenn es ein Suizid sein sollte, ist das Aufgebot groß, aber angesichts der Brisanz wollen wir auf Nummer sicher gehen.«

      »Der Brisanz? Was genau ist damit gemeint?« Schneyder sprach unaufgeregt und gelangweilt. Martin war sich nicht sicher, ob er das mochte oder nicht. Seltsam fand er es auf alle Fälle.

      »Ich dachte, wir hätten es am Telefon erwähnt.«

      »Was?«

      »Nun, wir gehen davon aus, dass es sich bei der Toten um unsere Bürgermeisterkandidatin handelt. Petra Mertens. Gebürtige Rheinländerin, lebt aber schon einige Jahre in Norddeutschland. Seit drei Jahren auf Norderney. Hat in einer Forschungseinheit gearbeitet.«

      »Mit absoluter Gewissheit?« Schneyder knibbelte an seinen Fingern, auf die er angestrengt starrte.

      Martin irritierte der fehlende Blickkontakt, aber er holte weiter aus. »Das Konterfei der Frau lächelt uns seit Wochen von jedem dritten Wahlplakat an. Da kann man sich schon relativ sicher sein.«

      »Ha! Sie sagen es. ›Relativ‹ sicher. Nicht hundertprozentig.« Das Grinsen flackerte erneut auf, um dann in eine überaus ernste Mimik überzugehen, bei der die Mundwinkel sich drastisch absenkten.

      Martin starrte ihn verwundert an. Er wurde nicht schlau aus diesem Mann.

      »Bürgermeisterkandidatin, sagen Sie?«, murmelte dieser vor sich hin.

      Martin nickte. Es war ihm egal, ob Schneyder das sah. Er schien in seiner eigenen Welt.

      »Brisant, brisant, brisant.«

      Martin rollte ansatzweise mit den Augen. »Sag ich doch.«

      »Gut, das werde ich gleich mit Aurich besprechen. Lassen Sie uns aber erst einmal Orientierung schaffen. Was ist denn mit dem dunklen Gegenstand da hinten bei der Leiche? Ein Koffer?«

      »Dazu komme ich gleich. Vorab: Es gibt etwas, was uns sicher macht, dass es sich um Frau Mertens handelt. Sie ist alleinerziehende Mutter. Gerade heute Morgen wurden die Kollegen aus der Wohnung von Frau Mertens verständigt. Eine Nachbarin hat uns informiert, dass die Kinder alleine sind. Ohne zu wissen, wo sich die Mutter aufhält. Die über Nacht einfach verschwunden ist. Was sonst nie vorkommt.«

      »Herrgott, wie dramatisch ist das denn?«

      Martin zwinkerte mit den Augen. Dramatisch fand er sein Gegenüber mit den überzogenen Reaktionen.

      »Ja. Wir sind in großer Sorge. Im Moment sind zwei Kollegen bei den Kindern. Zwölf und acht Jahre im Übrigen. Wir haben das Jugendamt verständigt. Für alle Fälle. Ich dachte, das sollten Sie wissen.«

      »Sehr gut. Vorbildlich. Umsichtig.« Schneyder nickte und sah ihn diesmal mit wasserblauen Augen an. »Gute Arbeit bisher, Herr Kollege. Und nun zu meiner Frage – was ist das dort hinten?«

      »Ja, das ist wirklich seltsam. Wir haben uns nur einen oberflächlichen Eindruck verschaffen können.« Martin nickte mit dem Kinn in Richtung Fundstelle. »Stichwort Spuren. Aber der Koffer steht weit auf und …« Er stockte. Alles kam ihm unwirklich vor. Hatte er nicht richtig hingeschaut? Konnte das überhaupt sein? Entschlossen packte er Schneyder am Ärmel seiner braunen Öljacke. »Lassen Sie uns nicht reden. Schauen Sie es sich einfach mal an!«

      *

      Ruth Keiser atmete hörbar aus, als mit der roten Stange, die hoch hinausragte, der Bonner Verteilerkreis in Sichtweite kam. Obwohl sie heute Morgen früh losgefahren war, hatte der Verkehr auf der Autobahn sie geschafft. In ihrem Mini Cooper fühlte sie sich angesichts der Kolonnen von LKW neben ihr äußerst unwohl. Jetzt aber freute sie sich auf das Wochenende und auf Oskar.

      Beim Gedanken an ihn drehte sie die Musik, die sie auf der ganzen Fahrt begleitet hatte, etwas lauter. Die ›Seaside Season‹ von Blank and Jones erinnerte sie nicht nur an die gemeinsame Zeit auf Norderney und in der Milchbar, sondern half ihr, beim Autofahren die Gedanken schweifen zu lassen.

      »Dich hat es ganz schön erwischt«, hatte Lisa-Marie, ihre erwachsene Tochter, beim letzten Telefonat lakonisch festgestellt.

      Ruth hatte nicht widersprochen, auch wenn es ihr selbst seltsam vorkam.

      »Wie oft hast du mich eigentlich am Bodensee besucht, seit ich hier studiere?«

      Nur einen winzigen Moment erfasste Ruth das schlechte Gewissen, dann lachte sie hell auf. »Sag nur, das hätte dir gefallen, wenn ich ständig bei dir aufgelaufen wäre? Ich hatte immer das Gefühl, dass du uns deswegen dankbar bist.«

      Lisa-Marie hatte prompt in ihr Lachen eingestimmt. »Hast ja recht. Hab keinen Bock auf Heli-Eltern. Es reicht, was ich bei den Kommilitonen mitbekomme.«

      »Ich habe gerade von einer Studie gehört, die besagt, dass das Konzept der Helikopter-Eltern aufginge. Die Kinder seien erfolgreich …«

      »Drehst du den Spieß jetzt um und machst mir einen Vorwurf? Weil ich nicht straight genug zum Abschluss komme?«

      »Blödsinn. Ich bin froh, dass du dir Zeit nimmst.«

      »Anders als du, wolltest du sagen, was?«

      »Vielleicht.«

      »Ach Muttchen, komm, du hast alles richtig gemacht. Ihr habt beide alles richtig gemacht.«

      Ruth lachte erneut. »Du weißt, wie du mich kriegst. Sag du noch mal ›Muttchen‹, dann fällt die nächste Überweisung etwas kleiner aus.«

      »Erpressung.«

      »Kindererziehung besteht zu großen Teilen aus Erpressung, weißt du doch.«

      »Stimmt nicht. Ihr habt das besser gemacht. Bis jetzt.«

      »Apropos: Wie geht es Michael? Hörst du was von deinem Vater?«

      »Ja. Er kommt demnächst vorbei, auf dem Weg nach Italien. Ich habe ihm von Oskar und dir erzählt.«

      Ruth stockte einen Moment der Atem. »Echt?«

      »Mama. Chill mal. Ihr seid ewig getrennt. Papa bekommt keinen Herzinfarkt, weil du nach über 20 Jahren wieder richtig verliebt bist.«

      »Nach über 20 Jahren«, murmelte Ruth und fasste in ihre Haare, als fände sie dort Halt. »Wie sich das anhört.«

      »Ist ja nicht so, als wenn Papa und ich glauben, dass du in all den Jahren keusch gelebt hast. Sondern eher, dass du es verstanden hast, große Geheimnisse um dein Liebesleben zu machen. Aber Papa findet es gut. Das mit Oskar.«

      »So. Findet er gut.« Ruth wusste selbst nicht, warum sie so fahrig daherredete. Plötzlich hatte sie wie befreit geantwortet: »Weißt du was? Ich finde es auch gut!«

      Und so war es. Sie fühlte sich in den letzten Monaten wie ausgewechselt. Als hätte irgendetwas sie angeknipst. Sie wachte erfrischter auf, ging beschwingt durch den Tag, erfreute sich an Kleinigkeiten, die sie zuletzt oft vor lauter Grübelei kaum gesehen hatte, und kam sich vor allem wieder jung vor. So banal das klang. Würde eine ihrer Freundinnen sich so geäußert haben, dann hätte Ruth ihr einen Rückfall in pubertäres Verhalten attestiert, ohne wirkliches Verständnis aufbringen zu können. Psychologin, die sie war, hin oder her. Wie schon gesagt, Verliebtheit war zu banal für ihre Verhältnisse. Normalerweise.

      Ruth setzte den Blinker und fuhr kurz vor dem Verteilerkreis auf die Stadtautobahn Richtung Südstadt. Als Erstes würde sie einen Kaffee trinken gehen. Danach ihre Reisetasche in Oskars Wohnung vorbeibringen und ihm eine kurze Nachricht schicken, dass sie da war. Und dann? Museum oder Rhein? Beides war verführerisch. Zumal