an. Ich bin keine Freundin davon, Energien sinnlos zu verschleudern. Ich habe etwas zu sagen. Ich kann Probleme erkennen und analysieren. Ich arbeite lösungsorientiert. Vielleicht gerade, weil ich eine Frau bin. Ganz sicher aufgrund der Zukunftsperspektive und der Managementkompetenzen einer alleinerziehenden Mutter. Und insbesondere mit meinem Blick von außen. Das alles ist wichtig für die Weiterentwicklung der Insel.«
»Die Weiterentwicklung der Insel? Haben Sie diese nicht vor kurzer Zeit noch als Ihren Lieblingsort bezeichnet? Wie passt das zusammen?«
»Auch das, was man liebt, darf sich weiterentwickeln. Sehen Sie, ich liebe meine Kinder über alles. Sollte ich deswegen nicht alles dafür tun, dass sie zu der bestmöglichen Version ihrer Selbst werden können? Oder glauben Sie daran, dass alles aus der eigenen Persönlichkeit allein heranwächst?«
Klöne strich über seine Bartstoppeln und schaute sie nicht an, während er mit seinem Bleistift auf dem Block herumkritzelte. Sie ahnte schon, was er aus ihren Worten machen würde, aber was sollte sie tun? Sie konnte immer nur wiederholen, wie sie die Dinge sah und wofür sie stand. Dass es schwer werden würde, war klar. Bei Leuten wie Klöne hatte sie keine Chance. Aber die Insel war im Wandel. Es gab genug Menschen, die sich wünschten, dass jemand käme und die Dinge einmal bei der Wurzel packte, statt immer nur dabei zuzusehen, wie alles schlechter wurde. Wer zuhörte und hinsah, wusste, dass sie genau die Richtige dafür war. Von nichts anderem ließ sie sich Bange machen.
*
»Frühlingsanfang?«, reagierte Ruth fahrig, weil sie von einer Mail abgelenkt wurde, die auf ihrem Bildschirm aufploppte.
»Ja, Frühlingsanfang.« Ruth hörte die Mischung aus Genervtsein und Belustigung durch den Hörer. »Liebe Frau Keiser, was treiben Sie denn da schon wieder? Ich merke doch, dass etwas wichtiger ist als ich, oder täusche ich mich?«
»Sorry.« Ruth drehte sich auf ihrem Schemel, der vor dem schmalen Schreibtisch stand, vom Laptop weg. Sie wusste als Psychologin, dass feinfühlige Menschen es sofort merkten, wenn man beim Telefonieren nicht bei der Sache war. Und erst recht lehnte sie ein solches Verhalten ab. Theoretisch zumindest. Bei anderen. Oder gefragt nach ihren Wertvorstellungen für zwischenmenschliche Kommunikation. Schuldbewusst senkte sie ihre Stimme. »Ich habe es verstanden. Wenn du mich siezt …«
»Ach, das ist die einzige Art, mir deine Aufmerksamkeit zu sichern? Hätte ich das mal geahnt. Niemals wäre das Du über meine Lippen gekommen.«
»Quatschkopf«, entfuhr es ihr.
Er lachte. »Meine liebe Ruth, wie gehst du bloß mit meinem Sehnen nach dir um? Ich spreche von Frühlingsgefühlen – und du?«
»He! Halt. Stopp. Von Frühlingsgefühlen war bisher keine Rede. Frühlingsanfang war das Stichwort.«
»Oh, wie schade. Für mich ist das fast gleichbedeutend. Wenn du das anders siehst. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle …«
»Jetzt ist aber gut. Bleib doch mal ernst. Wo ich dir endlich zuhöre.«
Oskar seufzte theatralisch. »Wie gut, dass mir das gelungen ist. Also, dann noch einmal von vorne. Bis wann hattest du mir zugehört?«
»Fang lieber von vorne an.«
»Oha, mit der Begrüßung also.«
»Nein, mit dem Frühlingsanfang. Manchmal raubst du mir den letzten Nerv.« Ruth lachte auf. »Aber du weißt schon, dass das ein Kompliment ist?«
»Tatsächlich hast du mir in den letzten Monaten ausreichend Gelegenheit gegeben, das festzustellen, ja. Also gut, jetzt mal ernsthaft. Ich dachte über ein gemeinsames Wochenende bei mir nach. Was hältst du davon? Bei uns am Rhein gibt das Frühjahr schon Gas. Es ist herrliches Wetter gemeldet. Über 20 Grad. Ich hätte ein paar gute Ideen, wie wir uns die Zeit vertreiben könnten.«
Ruth lachte erneut. »Letzteres glaube ich dir sofort. Das hast du bei meinen letzten Besuchen eindringlich bewiesen, auch bei schlechtem Wetter.«
»Klingst nicht so, als wärst du unzufrieden gewesen.«
»Das stimmt. Das war ich ganz und gar nicht.«
»Ich wette, du lächelst gerade.«
»Tue ich. Du bist ein Hellseher.«
»Das ist meine Spezialität. Deswegen kenne ich auch die Antwort. Du kommst.«
»Vielleicht musst du an deinem wahrsagerischen Feintuning noch etwas arbeiten. Ich komme. Aber nicht erst am Wochenende, sondern schon Donnerstag. Wenn du magst. Freitag fällt mein Termin aus.«
»Das ist großartig.« Oskar hatte nur einen Moment gestutzt. Nun konnte Ruth die Freude aus seiner Stimme heraushören. »Das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt habe.«
»Passt es auch für dich?«
»Ich muss Freitag arbeiten. Aber ich habe keine Sorge, dass du dich nicht auch alleine amüsierst. Hauptsache, eine gemeinsame Nacht mehr. Das ist das Beste, was ich mir vorstellen kann.«
Ruth merkte, dass sie wie ein Honigkuchenpferd grinste. Wer hätte gedacht, dass es sie so erwischte. Am liebsten würde sie sofort ihre Reisetasche ins Cabrio schmeißen. Aber was waren schon 24 Stunden? »Finde ich auch, mein kleiner, großer Quatschkopf. Ich freue mich riesig auf dich.«
*
Petra Mertens verabschiedete das Kindermädchen betont fröhlich und ließ sich dann mit dem Rücken zur Tür langsam zu Boden sinken. Aus dem Wohnzimmer dröhnten die Stimmen einer Wissenschaftssendung aus dem Kika-Fernsehprogramm. Etwas, was sie ihren Kindern erlaubte, während sie über andere Sendungen heftig diskutierten. Heute war sie, wie wahrscheinlich die Mehrzahl aller Eltern, nur froh, dass ihre Kinder für die nächste halbe Stunde abgelenkt waren. Zeit für eine kleine Verschnaufpause, bevor sie den morgigen Tag vorbereiten musste. Die Müdigkeit saß ihr seit dem unbefriedigenden Interview am Nachmittag in Nacken und Schläfe. Auch wenn sie wusste, dass die Fragen von Klöne Teil des Spiels waren, machten sie trotzdem an Tagen wie diesen mürbe. An Tagen wie diesen, an denen sie sich die gleichen Fragen selbst stellte, an denen sie zuließ, dass die Zweifel sich über den Verstand legten und alle guten Argumente beiseite fegten. Die sie durchaus hatte. Das wusste sie, das wussten ihre Unterstützer, ihre Gegner und nicht zuletzt ein immer größerer potenzieller Wählerkreis. Wenn man den Umfragen Glauben schenkte, hatte sie verdammt gute Karten, die Bürgermeisterwahl zu gewinnen.
War sie bereit, den Preis zu zahlen, fragte die Stimme, die sich zwar in ihrem eng getakteten Alltag unterdrücken ließ, die aber seit drei Stunden einfach nicht mehr die Klappe hielt. Petra hatte es mit allen Coachingtipps versucht. Sie hatte »Stopp« gemurmelt, hatte ihren Gedankenfluss umgekehrt, sich abgelenkt und ein paar halbherzige Entspannungsübungen durchgeführt. Für mehr war keine Zeit gewesen. Das Interview, ein Treffen mit der Umweltgruppe und ein Fototermin an der Baustelle eines neuen Personalwohnheims hatten sich nahtlos aneinandergereiht. Was die Stimme noch gefüttert hatte. Petra fasste sich an die Schläfen. Sie sollte aufhören, ihre Gedanken als ›die Stimme‹ zu betiteln. Wenn einer das mitbekäme, könnte sie einpacken. Das wäre das Ende ihrer kommunalpolitischen Karriere, von der sie doch hoffte, dass sie erst am Anfang stand.
Sie stemmte sich hoch und zog die Tür zum Wohnzimmer zu. In der Küche hatte das Kindermädchen schon klar Schiff gemacht, sodass sie gleich nur dafür sorgen musste, dass die Kinder in die Betten kamen. »Nur«, murmelte sie vor sich hin. Dabei war es meist die größte Herausforderung des Tages. Wenn ihr Ruhebedürfnis auf das Nichtschlafenwollen der Kinder prallte. Wobei sie die Zeit an guten Abenden mochte. Wenn alle im Flow waren, wenn es keine besonderen Störungen gab. Dann genoss sie es, dass selbst der Zwölfjährige mit ins Bett der jüngeren Schwester huschte und die Geschwister mit Engelsaugen darum baten, eine Geschichte vorgelesen zu bekommen.
»Das darfst du niemandem erzählen«, hatten sich beide ausbedungen. Natürlich waren sie längst dem Vorlesealter entwachsen. Aber seit dem Tod ihres Mannes war es so etwas wie ein Heilmittel geworden, ein Festhalten an alten, zumindest für die Kinder glücklicheren Zeiten. Ihr schlechtes Erwachsenengewissen hatte die Gelegenheit gerne ergriffen. Schließlich tat es auch ihr gut. So