Heike Meckelmann

Küstensturm


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hörte sich an, als tobte die Ostsee direkt an der Hütte vorbei. Sie empfand keine Angst, als ein Blitz das gemütliche Zimmer der Waldhütte erhellte. Im Gegenteil. Ein wohliger Schauer stellte ihre Nackenhaare auf, der genau zur Stimmung der Handlung in ihrem Buch passte. Eine Frau, die sich vor einem Killer in einem Wald versteckt hatte, beflügelte ihre Fantasie. Sie sah auf und zählte nach dem Blitz die Sekunden, bis zum Einschlag des ersten Donners. Eins, zwei, … das Gewitter muss direkt über der Hütte sein, mutmaßte sie, beugte sich nach vorn und griff zur Rotweinflasche. Langsam füllte sie ihr Glas und hielt es gegen die weichen Lippen, um einen Schluck zu sich zu nehmen. Lotta stellte das Weinglas zurück auf den Holztisch und schlang die rote Wolldecke um ihre Füße, die sie entspannt auf dem Sofa ausgestreckt hatte. Ihre langen, glatten Haare fielen weich auf die Schultern. Die behagliche Wärme des Kaminofens erfüllte all ihre Sinne mit Geborgenheit. Zumal sie genügend Holz im Korb hatte, der ihr Gewissheit verschaffte, zumindest solange in dieser gemütlichen Stimmung verbringen zu können, bis ihre Freundinnen zurückkehrten. Sie räkelte sich unter ihrer Decke. Ein weiterer Blitz erhellte den Raum und sein Inventar. Ihr Blick fiel auf den hüfthohen Tisch aus verwittertem Holz, der das Zentrum der Hütte bildete. Lotta hatte diverses Obst aus ihrer Tasche hervorgezaubert, und nun lag es dekorativ in einer getöpferten Schale und lockte zum Verzehr. Die attraktive Krankenschwester fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, stand auf und huschte zum Tisch. Mit wenigen Schritten erreichte sie den Sisalteppich, der unter dem Holztisch lag, und stolperte, genau wie vorher Stina, über die gesäumte Kante. Jetzt, wo sie allein war, wollte sie selbst ein Auge auf den Holzboden werfen, der beim Abendessen für Gesprächsstoff gesorgt hatte. Sie rückte den Stuhl zur Seite, schlug den Teppich zurück und begutachtete den Boden. »Da ist nichts«, murmelte sie und klopfte mit der Faust gegen die Dielenbretter. Es klang zwar hohl, dennoch konnte Lotta keinerlei Verriegelung entdecken, die auf eine Luke hinwies. »Zu viele Geistergeschichten. Alles nur Einbildung.« Sie schüttelte den Kopf und erhob sich. Sie rollte mit ihrem Fuß den Teppich in seine vorherige Position, griff zur Obstschale und nahm sich einen Apfel heraus. Gutgelaunt begab sie sich zurück auf ihr gemütliches Sofa.

      Fortwährend kratzten die Äste der alten Buche wie magere Finger an der Fensterscheibe, als wollten sie sie warnen. Lotta mochte diese gruselige Atmosphäre, die sie nicht mit dem spannendsten Kinoabend hätte tauschen mögen. Was sollte sie im Kino, wenn die Umgebung dieser Waldhütte genügend Raum für Fantasie bot? Leises Knarzen an der Eingangstür ließ sie aufhorchen.

      *

      Als Marcel auf dem Parkplatz stand, überkam ihn plötzlich bleierne Müdigkeit. Der Alkohol und das Kokain hatten ihn zermürbt. Dennoch ließ er nicht locker.

      Niemand würde ihn davon abhalten, sich selbst von der Lage zu überzeugen. Und wenn sie ihn betrog, dann …

      Er zog sein Handy aus der Tasche und suchte nach der Tourismusinformation. Die mussten wissen, wo diese verdammte Hütte stand. Tatsächlich befand sich das Büro unweit der Stelle, an der er gerade parkte.

      Marcel grinste. »So einfach ist das!«

      Zehn Minuten später verließ er zufrieden den Infokiosk. Ein smartes Lächeln, eine freundliche Geste … und er hatte die gewünschte Information in der Hand. Er wusste, wie er seinen Charme einzusetzen hatte.

      Eilig lief er zurück zum Wagen. Der Regen hatte die Jacke in der kurzen Zeit völlig durchnässt. Er zog sie aus und legte sie auf die Rückbank. Gott sei Dank trug er einen dicken Pullover, der ihn zumindest nicht frieren ließ. Marcel sah auf sein Navi und gab die Wegbeschreibung ein. Zwölf Minuten, das ist ja ein Witz. Marcel Andresen startete den Motor und fuhr die Kopfsteinpflasterstraße bis zum Ende. Er folgte den Anweisungen des Navis und befand sich nach der angegebenen Zeit auf einer Privatstraße. Ungeachtet des Fahrverbotes fuhr er weiter. Er ahnte, dass ihn niemand bei diesem Wetter von seinem Vorhaben abhalten würde … und auch nicht könnte. »Sie haben das Ziel erreicht. Das Ziel befindet sich auf der linken Seite.«

      Da ist gar nichts. Marcel sah sich um. Sein Kopf dröhnte. Er konnte kaum etwas erkennen, außer dem Waldgebiet, das direkt vor ihm lag. Er parkte den Wagen am Straßenrand, nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und stieg aus. Aus dem Kofferraum holte er seine Steppjacke, die er bei seiner letzten Sauftour durch die Kneipen dort vergessen hatte. Marcel zog die Jacke über, zog die Kapuze des Pullovers über den Kopf und machte sich auf den Weg. Er würde sie zurückholen, so viel war sicher.

      *

      Erneut zuckte ein Blitz durch die Fenster. »Eins, …«, zählte Lotta, als krachend der Donner folgte, um in der Dunkelheit ohrenbetörend seinen Schrecken zu verbreiten. Sie legte das Buch auf ihren Schoß, zog die Decke bis zum Kinn und warf einen letzten Blick in den Raum, der nur durch das Kaminfeuer und die Deckenlampe erhellt wurde. Dann schüttelte sie den Kopf, leerte ihr Glas und vertiefte sich wieder in ihr Buch. Sekunden später hielt sie die Geschichte erneut gefangen.

      Der Regen trommelte unaufhörlich auf das Dach der Hütte, während draußen direkt über ihr das Gewitter tobte. Wie schon an den Tagen zuvor überkam sie auf einmal wieder das mulmige Gefühl, beobachtet zu werden. Ihre Stimmung kippte, und sie bereute bereits, nicht doch mit den Mädels in die Stadt gefahren zu sein. Lottas Gesichtsausdruck wurde zunehmend ernster. Sie zog sich schützend die Decke über den Körper und wandte sich wieder ihrem Thriller zu, der jetzt weitaus mehr Angst verursachte, als sie abzulenken. Lotta schlug das Buch zu. Sie legte es auf ihren Schoß und lauschte zur Tür, bis … sie aus den Augenwinkeln einen dunklen Schatten auf sich zuspringen sah und zwei eiskalte Hände von hinten ihren Hals packten.

      *

      Zufrieden verließen sie das Filmtheater in der Altstadt von Burg. Es goss nach wie vor in Strömen. Tilda zog die Kapuze ihres schwarzen Ledermantels über den Kopf und hakte sich bei Stina unter, die vorsorglich einen Schirm in ihre Tasche gesteckt hatte, ihn aufspannte und über sie beide hielt. Tilda grinste. »Das war ein toller Film, aber das Ungetüm in deiner Hand kannst du vergessen«, sagte sie, als plötzlich eine Windböe den Regenschirm erfasste und ihn nach außen stülpte. Stina stemmte sich gegen den Wind und raffte den Schirm, so gut es ging, zusammen. »Der ist hin!« Sie zuckte die Schultern und klemmte das Ungetüm unter ihren Arm. »Aber das Kino in Burg ist auch wirklich superschön. Hab lange nicht mehr so gemütlich gesessen.« Sie stiefelten den Kinogang entlang, der sie wieder auf die Breite Straße führte.

      »So, wie ich gelesen habe, ist es eines der schönsten Filmtheater im Norden. So etwas wie ein Kulturzentrum«, erklärte Tilda. »Ne, war okay«, sagte sie und hakte sich bei Stina unter »Wollen wir noch einen trinken?«

      »Ach, ich weiß nicht. Ist schon 22.30 Uhr. Ich finde, wir sollten Lotta nicht zu lange alleinlassen.« Sie stieß einen kleinen Stein mit dem Fuß beiseite. »Ich hätte jede Menge Schiss ohne euch in dieser Hütte. Mich gruselt’s schon, wenn ihr bei mir seid. Alleine wäre ich niemals hergekommen. Lass uns heimfahren.«

      »Ach, sei kein Frosch. Was soll denn passieren? Ist doch easy und cool in der Hütte.« Tilda grinste ihre Freundin von der Seite an. Tiefe Grübchen zeichneten sich in ihren Wangen. »Okay, wir fahren bald zurück. Aber einen Absacker musst du uns genehmigen. Pack den Schirm ins Auto und dann los.« Stina nickte, wenngleich sie überhaupt keine Lust hatte, sich in eine Kneipe zu setzen. Dennoch wollte sie nicht schon wieder die Spielverderberin sein. Sie lief auf die andere Straßenseite, öffnete das Auto und legte den kaputten Regenschirm auf die Rückbank. »Ich habe da vorhin ein Schild gesehen, nur ein paar Häuser weiter. Ein Gläschen und dann fahren wir sofort zur Hütte.« Wenig später betraten sie eine Diskothek, wenn man sie überhaupt so nennen konnte, die sich abseits der Hauptstraße in einer Gasse befand. Sie öffneten die Tür, und deutsche Schlager jaulten ihnen unüberhörbarer entgegen. »Oh, mein Gott. Hier ist ja der Hund begraben«, maulte Tilda, als sie sich in der fast leeren Kneipe umsah. Am Tresen saßen zwei Gestalten, die sich augenblicklich umdrehten, als die Mädchen den Raum betraten. Die Philosophiestudentin verzog das Gesicht. »Altersheim hier, oder was meinst du?«, flüsterte sie Stina zu, die erleichtert schien, dass in dieser sogenannten Diskothek nichts los war. »Alles leer, und die Musik ist nicht auszuhalten.«

      »Draußen Sauwetter, hier drinnen saublöd«, feixte Tilda. »Lass uns verschwinden. Mir ist der Appetit auf ein Getränk vergangen.« Sie schob