Heike Meckelmann

Küstensturm


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Kinder. Marcel presste die Zähne aufeinander und stieg aus dem Wagen.

      »Scheiße. So kommst du mir nicht davon«, fluchte er und trat in den Hauseingang. Marcel klingelte mehrmals bei Stina, bis er sich sicher war, dass sie nicht zu Hause war. Dann kam ihm der Gedanke an die Nachbarin und er drückte auf deren Klingel. Der Türsummer brummte, und er eilte die wenigen Stufen hinauf. »Ach, Marcel, du bist es«, murmelte die sportliche Mittzwanzigerin nicht erfreut. Er sah, wie sie mit der Hand durch ihre kurzen dunklen Haare fuhr. Eilig zog sie ihr Höschen zurecht und hielt die Arme verschränkt vor ihre Brüste, über denen sie nur ein durchsichtiges Trägerhemd trug. Sie schien geradewegs aus dem Bett zu kommen. »Dass du dich hier überhaupt noch her traust!« Die Frau funkelte ihn böse an und wollte die Tür zuschlagen. Marcel stellte den Fuß dazwischen. »Wo ist sie? Ich muss sie sprechen. Ist sie hier?« Er sah sie durch verengte Augen an und wurde noch blasser. Die Frau, die halbnackt vor ihm stand, fühlte sich plötzlich unwohl. »Ich werde dir ganz sicher nicht erzählen, wo sie hingefahren sind.« Sie hielt inne und wurde sich augenblicklich ihrer Worte bewusst. Sie wurde rot und biss sich auf die Lippen. Marcel sah sie entgeistert an und schnaubte gefährlich. »Wer ist der Kerl? Rede!«, schrie er so laut, dass Speichel in ihre Richtung spritzte. Mit Wucht stieß er die Tür auf und drängte Hanna Westphal in den Flur ihrer Wohnung. Mit einem derartigen Angriff hatte sie nicht gerechnet. »He, was willst du? Ich weiß nicht, wo sie hin sind.«

      »Mit wem ist sie weg? Wie heißt er?«, schrie er noch einmal. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das tue ich nicht! Wenn ich dir das erzähle, spricht sie nie wieder ein Wort mit mir.« Marcels Blick ließ sie erschrocken zusammenfahren. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Er nahm den Arm hoch, legte seine Hand um ihren Hals und würgte sie. Hanna wollte schreien, aber ihre Stimme erstarb. »Wenn du mir nicht augenblicklich verrätst, was ich wissen will, mache ich dich kalt«, flüsterte er eisig und drückte fester zu. Die junge Frau keuchte, versuchte zu atmen und verzweifelt seine Hand von ihrem Hals zu befreien. Ihr Gesicht wurde tiefrot und ihre Augen quollen aus den Augenhöhlen hervor. »Rede!«

      »Sie sind ans Meer … ans Meer, eine Insel auf Feh… Fehmarn … lass endlich los.« Marcel lockerte erstaunt den Griff. »Sie machen Urlaub in einer Hütte im Wald«, krächzte sie und versuchte mit letzter Kraft, seine Hand von ihrem Hals zu lösen. Ihr wurde schwindelig und sie hatte Angst, die Besinnung zu verlieren.

      Marcel ließ los, holte aus und stieß sie gegen die Wand. »Wer ist sie? Rede!«, schrie er. Sie sackte zusammen. Am Boden kauernd, hielt sie mit der Hand ihren Hals und sog gierig Luft ein. Im Rachen brannte es, als hätte jemand ätzende Flüssigkeit hineingeschüttet. »Mit ihren Freundinnen. Nur mit Freundinnen«, röchelte sie. »Wenn du mich belogen hast, komme ich zurück und … töte dich«, sagte Marcel gefühllos, sah auf sie hinunter, stieß ihr seinen Schuh mehrfach brutal in die Seite und verschwand.

      Sie lag mehrere Minuten am Boden und konnte sich nicht bewegen. Schmerzen und Panik erfassten ihren Körper. Die Verletzungen lähmten sie und sie hatte Angst aufzustehen. Sie wusste, dass sie ihre Nachbarin in Gefahr gebracht hatte. Sie musste Stina warnen. Der Typ ist zu allem fähig, dachte sie verzweifelt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht quälte sie sich hoch, bis sie auf wackeligen Beinen stand. Sie hielt sich am Türrahmen fest, hangelte sich an der Wand entlang, bis sie in der Küche war. Immer wieder griff sie mit einer Hand an ihren Hals. Sie riss ein gelbes Post-it vom Kühlschrank. Ihr Handy lag auf dem Küchentisch. Sie schleppte sich hin und ließ sich ächzend auf einen Stuhl fallen. Schwer atmend griff sie nach dem Telefon und wählte mit zittrigen Fingern die Nummer, die Stina auf dem Zettel notiert hatte, bevor sie losgefahren war. »Für alle Fälle«, hatte sie gesagt. Hanna wartete. »Dieser Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar … dieser Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar …«

      *

      Charlotte huschte durchs Wohnzimmer und strich mit dem Finger über den Sockel der Vitrine. »Heiland Mailand. Ich glaube, ich muss mal wieder sauber machen, ist schon eine Weile her.« Sie betrachtete ihre Fingerkuppe und pustete den darauf liegenden Staub herunter. Katrin sah von ihrem Buch auf und blickte ihre Tante fragend an. »Na, dann hast du ja jetzt jede Menge Zeit. Im Januar sind keine Veranstaltungen, die du sprengen könntest, und auch sonst ist es mehr als ruhig auf der Insel, oder?«

      »Was soll das heißen?«, sagte Charlotte und stopfte eine Haarsträhne zurück in ihren Zopf. »Ich sprenge schon mal gar nichts, und du könntest mir ja vielleicht beim Saubermachen behilflich sein. Was hältst du davon?«

      »Ehrlich gesagt, nichts! Man sieht den Staub doch gar nicht. Es ist dunkel! Ich möchte sehr gern noch einen Moment weiterlesen und später nach Oldenburg fahren. Ich will mich mit Dirk treffen. Wir haben uns seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. Ich habe wirklich Sehnsucht nach ihm«, flüsterte sie und schniefte. Charlotte sah Katrin an und erkannte Traurigkeit in ihren Augen. »Weinst du?«

      »Nein, ich glaube, mich hat eine Erkältung erwischt. Ich muss mal wieder Ingwertee trinken.«

      »Hast du von diesem Virus gehört? Nele hat mir davon erzählt, dass in einer Stadt in China Fälle von schwerer Lungenentzündung aufgetreten sind. Da sind sogar schon Menschen gestorben. Stell dir das mal hier vor«, sagte Charlotte und schüttelte den Kopf.

      »Das will ich mir gar nicht vorstellen. Außerdem ist das weit weg«, entgegnete ihre Nichte. »Ich will jetzt auch los.« Katrin legte ihr Buch aus der Hand.

      »Hm, hast recht. Ist weit weg. Wuhan, ich weiß nicht mal, wo das ist. Dann hole ich mir mal mein Putzzeug, und du gehst kuscheln«. Ihre Nichte schüttelte den Kopf. »Anstatt sich beim Putzen zu verausgaben, solltest du dich lieber ausruhen. Du siehst irgendwie blass aus, Tantchen. Mach mal halblang.«

      Charlotte Hagedorn fühlte sich tatsächlich seit Tagen schlapp. Sie empfand keinerlei Antrieb. Deshalb hatte sie sich aufs Fahrrad geschwungen, um an die frische Luft zu kommen, und war zum Leuchtturm Staberhuk gefahren. Die kühle Brise tat ihr gut und das Zusammentreffen mit den jungen Frauen hatte ihr wieder frischen Auftrieb gegeben. Das ist der Winterblues, dachte sie und machte sich auf den Weg, um ihren Putzeimer aus dem Schrank zu holen.

      *

      Am gleichen Abend hatte sich das Innere der Hütte in wohlige Atmosphäre verwandelt. Im Ofen knisterte ein behagliches Feuer, und die Stimmung war gelöst. »Wollen wir zusammen kochen? Ich habe einen Bärenhunger«, fragte Stina. »Na, das ist ja mal eine Ansage«, erwiderte Lotta und sprang vom Sofa. Sie hatte sich in eines ihrer mitgebrachten Bücher vertieft. »Jeder macht, was er am besten kann. Ich setze Wasser für Spaghetti auf.«

      »Ja, und ich mache die Tomatensoße. Jemand etwas dagegen?« Tilda sah beide unbeeindruckt an. »Und ich sorge dann mal für die Getränke.«

      »Nein, du kannst Zwiebeln und Speck würfeln und braten.«

      »Jaja, damit meine Tränen fließen, wenn ich diese runden Titanen besiege«, sprach Tilda mit weinerlicher Stimme, hielt eine Zwiebel in ihren Händen und streckte sie zur Decke. »Aber sie werden mitnichten in Edelsteine verwandelt. Das werden die Götter nicht zulassen. Es werden keine Freudentränen sein.«

      »Oh Mann, unsere Philosophin«, lachte Lotta. »Okay, dann brauche ich auf jeden Fall einen anständigen Küchenwein. Wer ist dabei?«, grunzte Tilda. Die Frauen nickten. Die Studentin zog eine Rotweinflasche aus ihrem Rucksack und öffnete sie. Sie setzte die Flasche an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck. Grinsend stellte sie sie auf den Tisch. »Aber sonst geht’s noch, oder?«, entgegnete Lotta und sah sie fragend an. »Wir sollen doch jetzt wohl nicht alle aus dieser Flasche trinken.«

      »Mann, stellt euch nicht so an. Das haben wir früher immer so gehalten, und da hat es niemanden gestört. Und wir haben mehr als eine Pulle genauso leer gemacht.« Tilda zog weitere Zutaten aus der Einkaufstasche. Sie suchte nach einem Brett und fing an, Speck und Zwiebeln mit einem scharfen Küchenmesser zu zerhacken. »Sei nicht beleidigt. Ist alles gut. Und lass den Speck, der ist schon tot«, griente Lotta und griff nach der Rotweinflasche. Sie nahm einen tiefen Schluck, bis sie prustete, weil Tilda mit heraushängender Zunge die Lebensmittel bearbeitete. Sie hielt Stina die Flasche entgegen, die es ihr gleichtat. Und auf einmal gackerten alle drei, bis Lotta zusammenfuhr und ihren Blick abwandte. »Habt ihr das auch gesehen?«,