hier herumzulungern? Ihr wisst wohl, dass das Privatgelände ist und Zutritt strengstens verboten?«
»Und Sie, wohnen Sie etwa hier?«
Charlotte erhob sich. »Nein, aber ich kenne mich hier aus. Dies ist Privatgrund, auf dem niemand, außer dem Besitzer des Hauses am Eingang und dem Pächter des Leuchtturmwärterhäuschens, etwas zu suchen hat. Da hier zurzeit keine Menschenseele urlaubt, gehe ich davon aus, dass ihr hier eingestiegen seid, oder sehe ich das falsch?«
»Sie wohnen doch auch nicht hier, oder irre ich mich?« Tilda, die ihre Selbstsicherheit wiedergefunden hatte, stellte sich auf die Beine.
»Nein, ich wohne hier nicht und wollte euch nur vor gewaltigem Ärger bewahren. Glaubt es mir. Wenn die Eigentümer kommen, gibt es richtig Ärger.«
»Und was machen Sie dann hier?«, wollte Stina wissen und stand ebenfalls auf. »Ich hatte vor, Nebelfotos zu schießen. Das Licht war perfekt, und dieser Ort hat etwas Geheimnisvolles.«
»Das ist ja interessant«, entgegnete Lotta. »Dann können Sie mir vielleicht ein paar Tipps geben. Sind Sie denn Fotografin? Ich möchte unbedingt eine Fotoreihe erstellen und bin auf der Suche nach den passenden Motiven.« Charlotte sah die attraktive Blondine an und neigte den Kopf. »Haben Sie denn eine anständige Kamera dabei?«
»Ja, meine Nikon und … ich denke schon.«
»Ja, dann könnte das was werden. Aber nicht mehr heute. Mir ist die Lust für den Moment vergangen. Ich brauch erst mal ein Likörchen.«
»Oh, dann kommen Sie doch mit uns. Wir haben jede Menge in der Hütte. Das beruhigt unseren Geist«, murmelte Tilda versöhnlich.
»Wo seid ihr denn untergekommen?«, wollte die Fotografin wissen. »In der kleinen Holzhütte im Wald«, sagte Lotta und deutete hinter sich. Die Mädchen kletterten über den Zaun und verließen das Grundstück. Charlotte tat es ihnen gleich und quälte sich über das Geländer. Sie nickte zustimmend, als sie wieder festen Boden unter ihren Stiefeln hatte: »Das Angebot nehme ich gerne an. Ich muss nur mein Fahrrad holen.«
Sie eilte zurück zum Knick und holte ihr Vehikel. Gemeinsam spazierten sie Richtung Waldhütte.
»Oh, das ist ja gemütlich«, offenbarte Charlotte ihre Verwunderung, als sie eine halbe Stunde später in die Hütte eintrat. »Ich dachte immer, die steht längst leer.«
»Na ja, wir haben gebettelt, damit wir sie bekommen. Die Besitzer wollten sie über den Winter eigentlich gar nicht mehr vermieten, und wie ich die Besitzerin verstanden habe, im kommenden Sommer abreißen. Sieht ja nicht unbedingt nach Luxusresort aus. Aber wir haben es dringend gemacht und schwupp – hatten wir das Knusperhäuschen. Gerochen hat es hier drinnen auf jeden Fall, als wenn es ewig nicht mehr vermietet wurde. Voll modrig«, lachte Tilda und rümpfte die Nase.
»Wir mussten jedenfalls lange lüften, und der Geruch vom Holz im Ofen und der frischen Waldluft hat den Rest aus der Hütte verscheucht.«
»Es stank hier drinnen merkwürdig«, warf Stina ein und kräuselte die Nase.
»So nach Gruft. Eine Gruft an der Küste … Küstengruft. Wäre ein guter Titel für einen Thriller«, überlegte Tilda und zog eine Flasche aus ihrem Rucksack. »Schnaps?«
Charlotte lächelte wissend und nickte. »Warum lächeln Sie so eigentümlich?«, wollte Stina wissen. »Zum einen heißt es bei uns nicht einfach Schnaps, sondern Likörchen. Zumindest bei meinen Freundinnen und mir. Und zum anderen, wisst ihr um diesen Wald und das dazugehörige Gut? Hier gibt es jede Menge alte Schauergeschichten, die immer wieder gern erzählt werden.« Sie hielt inne. Tilda stellte ein kleines Glas vor Charlotte auf den Tisch und goss ihr von dem klaren Schnaps ein. »Oh, sehr interessant. Erzählen Sie.«
Die Künstlerin winkte ab und leerte ihr Glas. »Da gibt es die Geschichte der weißen Frau, die sich die Leute hier seit Jahrhunderten erzählen und die einem noch heute eine Gänsehaut über den Rücken laufen lässt. Sie handelt von einer jungen Frau, die im Kindsbett verstorben ist und noch heute als Geist ihr Kind auf dem Hof sucht. Immer wenn dort ein Kind geboren wurde, hat man alle Spiegel im Haus verhängt. Es hieß, man sollte nachts immer ein Licht im Haus brennen lassen, damit die weiße Frau das Kind nicht holt. Gesehen hat sie allerdings noch niemand. In den 50er Jahren ist dort sogar mal ein Kind im Teich vom Staberhof ertrunken. Aber ich denke, ihr sollt ein paar schöne Tage erleben und dürft euch die Laune nicht von Spukgeschichten vermiesen lassen.« Sie schüttelte ihre graue Mähne die, seit sie die Mütze vom Kopf genommen hatte, statisch aufgeladen um das Gesicht herum stand. »Wie – Spukgeschichten?«, fragte Tilda und klatschte begeistert in die Hände. »Dass dich das interessiert, hätte ich mir ja denken können«, griente Lotta. Charlotte Hagedorn betrachtete die schlanke, hoch gewachsene Studentin, deren Gesichtsfarbe selbst einer Geistererscheinung glich. »So, wie du daherkommst, könntest du die Rolle der Weißen Frau vom Staberhof sofort übernehmen.«
Die Künstlerin erhob sich. »Ein andermal. Ich muss wirklich los.« Sie klopfte sich auf die Oberschenkel. »Es wird dämmerig. Ist ziemlich früh dunkel und ich habe einen langen Heimweg. Wir sehen uns bestimmt noch einmal. Dann können wir darüber ausgiebig plaudern und dir kann ich einige Tipps für gute Fotos geben. Ich weiß ja jetzt, wo ihr untergekommen seid. Wie lange bleibt ihr?«
»Eine ganze Woche!«
»Na, dann ist jede Menge Zeit für Geistergeschichten!«
Kapitel 5
Der dunkelhaarige Marcel Andresen stand an den Tresen gelehnt, leerte sein Whiskyglas in einem Zug und stellte es zurück auf die Theke. Seine Freunde drängten sich angeheitert um die Bar und vernichteten eine Runde nach der anderen. Sie nannten es After-Work-Party, er wusste, dass sie sich hier mit Frauen für die Nacht verabredeten. Es war ein Spiel. Er steckte eine Hand in die Hosentasche seines teuren Designeranzugs und zog das Handy heraus. Ein kurzer Blick … keine Antwort. Seine Gesichtszüge verhärteten sich. Die Wangenknochen traten hart hervor und seine Haut wirkte bleich. Mit zusammengekniffenen Augen und stechendem Blick beobachtete er die Frauen, die zu laut lachten und um die Männertraube herumstanden, als hätten sie es mit Stars zu tun. Marcel sah sich als Tier in einem Wolfsrudel. Nur, dass er sich heute nicht am Fang der Beute beteiligen wollte.
Frankfurt war das ideale Pflaster für Startupper. Männer und Frauen, die über Geld und Macht verfügten. Sie nahmen sich, was sie wollten. Vorrangig die Wölfe unter ihnen.
Marcel stand als Zuschauer abseits der Horde. Er sah auf seine schwarze Uhr am Handgelenk. Ihn nervte dieser Abend gewaltig. Er wollte nach Hause, aber aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht aufraffen. Marcel wollte nicht in die Wohnung, in der ihn alles an Stina erinnerte. Auf einmal richtete er sich auf. Dass mir das nicht früher eingefallen ist, dachte er, stieß sich vom Tresen ab und verließ, ohne dass jemand es bemerkte, die Kneipe.
Der Unternehmer schlug den Kragen seines Mantels hoch und stiefelte in eleganten Lederschuhen durch den Regen zum Parkplatz. Er drückte auf den Schlüssel in seiner Hand und stieg in den schwarzen Porsche. Jetzt wusste er, was er zu tun hatte. Er würde zu Stinas Wohnung fahren und sie zur Rede stellen. Wie kann sie es wagen, meine Anrufe zu ignorieren, wütete er innerlich. Mit starrem Blick drückte er den Schlüssel in seiner Hand, stieg ein und zog die Tür so heftig zu, dass es knallte. Marcel startete den Motor und verließ mit durchdrehenden Reifen das Gelände.
Eine halbe Stunde später hielt er vor dem Haus, in dem seine Verlobte ihr Appartement hatte. Stina wohnte dort seit zwei Jahren und war nicht dazu zu bewegen, bei ihm einzuziehen. Sie wollte zuerst in Ruhe ihr Studium abschließen. Auf eigenen Beinen stehen, hatte sie gesagt. Marcel lächelte verächtlich, als er den Altbau hinauf sah. Es brannte kein Licht in ihrer Wohnung.
Auf der anderen Seite hatte ihre Weigerung ihm neue Möglichkeiten aufgezeigt. So konnte er, wann immer er Lust hatte, willige Frauen in sein Bett holen. Er liebte es, sie zu benutzen, hart mit ihnen umzugehen, und nicht selten verließen die unbedarften Mädchen weinend seine Wohnung. Ihm war es egal. Sie waren austauschbar.