Heike Meckelmann

Küstensturm


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einen Blick auf das Display und entdeckte unzählige WhatsApps und Anrufe in Abwesenheit. Der kann sich melden, bis er schwarz wird, dachte sie, zog die Augenbrauen zusammen und presste die Lippen aufeinander. Sie schaltete das Handy komplett aus und steckte es zurück in ihre Tasche. »Und wo ist jetzt die Hütte? Ich bin schon total gespannt«, wollte sie stattdessen wissen und verzichtete auf die Taschenlampe.

      »Mitten im Wald, ist nicht mehr weit. Hat die Besitzerin am Telefon versprochen. Den Rest müssen wir von hier aus allerdings zu Fuß marschieren.«

      »Also laufen. Bewegung hält den Geist wach und bringt den Körper in Wallung«, sinnierte Tilda, rutschte mit den Füßen in ihre derben Stiefel, band die Schnürsenkel zu und sprang aus dem Wagen. »Boah, ist das kalt«, rief sie und hechtete bibbernd in engen schwarzen Jeans und dunklem Pullover zum Heck des Golfs, um ihren dicken, wadenlangen rabenschwarzen Wintermantel aus dem Kofferraum zu ziehen. Sie öffnete die Klappe, zog den Mantel heraus und streifte ihn über. Dann griff sie nach der abgewetzten Ledertasche, in der sie ihre Sachen verwahrte. Lotta, ebenfalls in Jeans und Stiefeln, zog den Reißverschluss ihrer blauen Daunenjacke hoch, die auf dem Rücksitz gelegen hatte, und stieg ebenso aus. Gefolgt von Stina, die sich einen rosa Schal um Hals und Haare schlang, der in Kontrast zu ihren himmelblauen Augen stand. »Ist schon sehr einsam hier«, stellte sie leise fest und schluckte.

      »Wieso, wir wollten doch eine Hütte im Wald, jetzt hast du sie. Bin echt gespannt, wie das Teil aussieht«, sagte Tilda, lachte, und es klang frech.

      Alle drei schulterten ihre Rucksäcke, packten die Taschen. Dann stiefelten sie los. Auf Tildas Rücken, in ihrem Bundeswehrrucksack, klackerte es verdächtig. »Sag mal, hast du nur Flaschen mit?«, fragte Lotta und drehte sich zu ihrer Freundin um. »Nö, aber ein bisschen Flüssiges muss sein. Ich wusste ja nicht, wann wir einkaufen können, und bis dahin hält mein Bestand den Geist beieinander.« Sie zuckte grinsend die Schultern. Je weiter sie ins Innere des Gehölzes vordrangen, umso stiller und unheimlicher wurde es. Ein nicht zuzuordnendes Rauschen durchdrang die Bäume und ließ die Baumwipfel zittern. Stina war sich auf einmal überhaupt nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee war, hier den Urlaub zu verbringen. In einer Hütte, in einem finsteren Wald, zumal das Wetter ihnen augenscheinlich einen dicken Strich durch die Rechnung machen könnte.

      »Das ist spuki«, rief Tilda und sprintete voraus. »Hey, seht mal, da vorne ist sie.« Die dunkelhaarige 28-Jährige zeigte mit dem Finger auf die Hütte, die, umgeben von dicken Baumstämmen, eine furchterregende Kulisse gefunden hatte. »Das ist echt krass! Wie das Hexenhäuschen von Hänsel und Gretel. Da bekommt der Begriff Märchen eine völlig neue Bedeutung. Und ich bin die böse Hexe …« Sie eilte mit wehendem Mantel auf die Hütte zu, gefolgt von Lotta und Stina, die sich fragend ansahen. »Die tickt manchmal sehr sonderbar. Findest du, es war eine gute Idee hierherzukommen?«, flüsterte die Sportstudentin und betrachtete die milchigen Nebelschwaden, die wabernd über den Boden zogen. »Auf jeden Fall. Du sollst mal sehen, die Woche wird klasse, und du wirst keinen Gedanken mehr an – wie hieß der Kerl noch gleich? – verschwenden«, munterte Lotta ihre Freundin auf und verzog ihren Mund zu einem Lächeln. »Wirst sehen, wird toll!«

      Stina seufzte und folgte den Freundinnen, die auf den Eingang der Hütte zutraten, der auf fünf knarrenden Stufen über eine kleine Veranda erreichbar war. Tilda hatte ihre Tasche fallen lassen, die aussah, als hätte sie bereits mehrere Kriege überlebt und wartete vor der Holztür darauf, dass irgendjemand die Haustür öffnete.

      »Schlüssel?«, forderte sie Lotta mit einer lässigen Handbewegung auf.

      »Der soll da unten hinter dem Stein versteckt liegen. Guck doch mal«, deutete die OP-Schwester mit dem Finger zurück zum Treppenabsatz.

      Tilda ließ den Rucksack von den Schultern gleiten und stieg die Holzstufen wieder hinunter. Sie musste achtgeben, dass sie auf den zum Teil moosbewachsenen Stufen nicht ausrutschte. »Die hätten ruhig vorher saubermachen können, bevor man sich hier das Genick bricht. Das sieht alles schon ganz schön marode aus«, murmelte Tilda. Der genauso vermooste Findling drängte sich an die Hauswand, direkt unter einem von Holzläden verschlossenen Fenster, als müsste er die windschiefe Hütte vor dem Zusammenbruch schützen. »Hier ist ni… doch, hab ihn.« Sie zog eine verwitterte Dose hinter dem Stein hervor. »Da muss erstmal jemand drauf kommen«, sagte sie, zog die Augenbrauen hoch und hielt die verrostete Büchse in die Höhe. »Uhu«, tönte ein unheimlicher Ruf durch den Wald, der Stina eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

      »Was war das?«, fragte sie flüsternd und drehte sich eingeschüchtert um. »Das, meine Süße, war, wenn ich mich nicht täusche, eine Eule«, sagte Lotta.

      »Woher willst du das wissen? Es hört sich gruselig an.« Stina verschränkte die Arme vor der Brust und verschanzte ihre Lippen hinter dem Schal.

      Lotta schmunzelte, obwohl ihr der Eulenschrei genauso einen Schrecken eingejagt hatte. Sie wollte der Freundin Mut zusprechen und schob sie zur Tür. »Weil ich es weiß!« Tilda steckte gleichmütig und unberührt von dem Schrei des Vogels den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn langsam herum. Sie öffnete die knarzende Tür und stieß sie mit dem Fuß auf. Ernüchtert stellte sie fest, dass es im Inneren der Hütte stockdunkel war und sie nichts erkennen konnte. Mit der Hand fuhr sie an der Wand entlang und suchte nach einem Lichtschalter. Ihre Finger ertasteten ihn und bewegten den Hebel. Die Birne einer Glaslaterne, die mittig über einem Holztisch hing, leuchtete dezent auf. »Boah, das ist ja traumhaft.« Sie trat zurück, griff Rucksack und Tasche und verschwand in der Hütte. Die Mädels folgten ihr. Stinas mulmiges Gefühl in der Magengegend breitete sich weiter aus, als es im hinteren Teil der Waldhütte leise knarzte. »Was war das?«, rief sie. Wäre ich bloß zu Hause geblieben …

      *

      Im Frankfurter Bankenviertel saß Marcel hinter seinem Schreibtisch und warf einen Blick aus dem bodentiefen Fenster über die Dächer der Stadt. Er trommelte mit den Fingerkuppen auf die dunkle Eichenplatte. Sein Gesicht war wutverzerrt und die Wangenknochen traten hart hervor. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. Er hatte die letzten Nächte nicht geschlafen und über seine Nachlässigkeit nachgedacht. Seine Faust krachte hart auf die Schreibtischplatte, als seine Assistentin den Raum mit einem Becher Kaffee betrat. »Marcel, was ist? Kann ich dir helfen?« Sie kannte ihren Chef besser als jeder andere in diesem Büro. Heimlich verehrte sie ihn, hatte es ihm aber nie zu verstehen gegeben. Allein, dass sie an seiner Seite arbeiten konnte, machte sie glücklich. Vielleicht hat er sich von seiner Freundin getrennt, überlegte sie, und ihre Hoffnung, ihn doch eines Tages für sich zu gewinnen, stieg. Er drehte sich um und sah ihr in die Augen. »Raus! Ich hab ganz klar zu verstehen gegeben, dass ich von niemandem gestört werden will.« Anika Wortmann schluckte ernüchtert, bekam einen roten Kopf und stellte hastig den Kaffeebecher auf die Schreibtischplatte. Sie kämpfte mit den Tränen. Dann drehte sie sich um, um das Büro schnellstens wieder zu verlassen. Sie schloss leise die Tür hinter sich und bekam gerade noch mit, wie ihr Chef mit einem Schrei den Becher gegen die Tür schmetterte.

      Marcel Andresen sprang von seinem Ledersessel auf und steckte die Hände in die Taschen seiner Hose. »Verdammt, wie konnte mir das passieren?«, murmelte er. »Wie konnte ich sie mit nach Hause nehmen? Ich hätte damit rechnen müssen.« Er presste seine Kiefer wütend aufeinander. Mich hat noch niemand verlassen, was bildet sie sich ein? In seinem Kopf arbeitete es ununterbrochen. Er erinnerte sich daran, dass er vor etlichen Jahren wegen seiner Frauengeschichten und seines Drogenkonsums schon einmal eine Beziehung zerstört und sogar seinen Job verloren hatte. Frankfurt sollte sein Neuanfang werden. Er hatte sein altes Leben komplett hinter sich gelassen, und dann traf er diese blonde bezaubernde Studentin, die ihn vom ersten Moment an faszinierte. Wie sie mich angelächelt hat … Marcel starrte über die Dächer der Stadt.

      Die Frau, mit der Stina ihn erwischt hatte, war eine von vielen. Er hätte nur vorsichtiger sein müssen. »Verdammt.« Marcel konnte nicht aus seiner Haut und brauchte dieses andere Leben, um seine Neigungen auszuleben. Stina hingegen war die perfekte Frau, die ihm nie auf die Schliche kommen würde, weil sie gutmütig und lieb war. Sie war die Frau, die er heiraten wollte. Die künftige Mutter seiner Kinder, die seinem Leben die Ruhe gab, die er brauchte. Er hätte weiterhin seine Spielchen fortführen können, ohne dass sie es jemals erfuhr. »Hätte, hätte …«, schnaufte er und zerrte die