an seiner Seite brillieren und brauchte in seinen Augen kein Studium. So schmeichelhaft sie es empfand, so verbissen stritt sie mit ihm um ihre persönliche Freiheit. Marcel war erfolgreicher Startupper und verdiente ein Vermögen mit seiner Marketingfirma im Bankenviertel von Frankfurt. Sie wollte ihm nicht nachstehen und ihre Unabhängigkeit bewahren. Aber heute hatte sie vor, ihn zu verwöhnen.
Lautlos schlich Stina voll Vorfreude in den Flur, zog das Haargummi aus ihren langen weizenblonden Haaren und schüttelte sie. Marcel liebte es, wenn sie ihre Haarpracht offen zur Schau stellte. Er nannte sie dann Rapunzel, was den eigentlichen Stand ihrer Beziehung offenbarte, las man zwischen den Zeilen. Diese Märchenfigur saß in einem Turm gefangen, genau wie sie, nur dass ihrer luxuriös war und sie nicht erkannte, dass er von dort alle Fäden zog.
Ihre blauen Augen strahlten, als sie den weitläufigen, mit schwarzem Marmor gefliesten Flur entlangschritt, um den Wohnbereich zu betreten.
Vor einer halben Stunde hatte sie in Marcels Firma angerufen. Seine Assistentin, die ihn besser kannte als jeder andere, hatte ihr mitgeteilt, dass er zu einem Termin sei und dann direkt nach Hause fahren wollte. Jetzt würde sie ihn überraschen. Ihr Blick wanderte zur modernen, ebenfalls mit schwarzen Fliesen und gleichfarbigen Hochglanzschränken ausgestatteten Küche, um dann beim Panoramablick der Frankfurter Skyline hängenzubleiben. Diese Aussicht würde in naher Zukunft ihr Zuhause sein. Ihr Herz schlug heftig. Sie warf einen Blick auf den funkelnden Verlobungsring, der an ihrem linken Ringfinger sein Feuer versprühte, wie Marcel es ausdrückte. Langsam zog Stina eine Flasche aus ihrer dunkelblauen Ledertasche … Dom Perigon … An diesem Abend wollte sie ihm zeigen, wie sehr sie ihn liebte. Dazu gehörte nicht nur der Champagner, sondern auch das rote Nichts aus hauchdünner Seide, das mehr zeigte als verhüllte und das sie in ihrer Tasche verwahrte. Marcel hatte nie verlangt, sie in Dessous zu sehen, was sie zur Kenntnis nahm, aber nicht beunruhigte. Er war eben anders als andere Männer. Sie drückte das weiche Leder der Tasche an sich, um diesen besonderen Schatz zu hüten, und bekam rote Wangen. Stina zog am Wasserfallkragen ihrer meerfarbenen Bluse, als hätte sie Atemnot. Sie öffnete den Kühlschrank, um die Flasche kaltzustellen, als sie im Hintergrund leise Musik wahrnahm. Stina blieb stehen und lauschte. Sie legte ihre Tasche auf die Kücheninsel, um nachzusehen, woher sie kam. Marcel hatte sicher vergessen, das Bluetooth-Gerät im Bad auszustellen? Sie wusste, dass dies vorkam, weil er ständig in Eile war. Ein Workaholic. Und zu Hause konnte er nicht sein, das hatte sie von seiner Assistentin erfahren.
Stina hielt noch immer die Flasche in der Hand und huschte auf dem Steinboden Richtung Schlafzimmertür, um in das angrenzende Bad zu gelangen.
Als sie die schweren schwarz lackierten Eichentüren aufschob, blieb ihr Herz für einen Augenblick stehen. Das Szenario, das sich ihr bot, ließ sie geschockt im Türrahmen verharren. Innerhalb eines Moments zersprang das Bild einer glücklichen Beziehung in 1000 Scherben. Sie war wie gelähmt und nicht in der Lage, ein einziges Wort herauszubringen. In ihr explodierte das Gefühl, jemand würgte sie und sie müsste sterben. Ihr wurde schwindelig. Ihr Blick war starr auf das Bild vor ihr gerichtet.
Auf dem Kingsizebett lag Marcel … nackt auf dem Rücken. Er hatte die Augen geschlossen und stöhnte erregt. Auf ihm hockte rittlings eine Frau mit schulterlangen, lockigen dunklen Haaren, die sich in Ektase wild mit den Fingern durch die Mähne fuhr. Seine Hände hatten ihre Hüften gepackt und gaben den ruckartigen Takt an. Sie stöhnte aufgegeilt und bewegte sich im vorgegebenen Rhythmus auf Marcels Lenden. Er schnaufte durch die Nase und befahl mit eiskaltem Ton: »Los, gib’s mir. Fick mich! Härter, du Schlampe.« Er rammte die Unbekannte wie einen Amboss auf seinen Schwanz und schien kurz vor dem Höhepunkt zu stehen. Stina sah sein verzerrtes Gesicht, dann glitt ihr Blick zum gläsernen Nachtisch. Dort lag ein Streifen mit weißem Pulver und ein zusammengerolltes Stück Aluminiumpapier. Sie wusste sofort, dass es sich um Kokain handelte.
Tränen stiegen in ihre Augen, als Marcel nach den Brüsten der Frau griff und sie hart durchknetete. In Ekstase schlug er die Augenlider auf.
Sein verzerrter Blick traf ihren. Ruckartig stieß er die stöhnende Person von sich und schnellte hoch. Seine Bettgefährtin landete neben Marcel auf der Matratze und sah ihn fassungslos an. Im gleichen Moment entdeckte sie, warum er sie heruntergestoßen hatte. Sie erfasste die Situation, lehnte sich lasziv auf die Seite und fuhr ihrem Liebhaber besitzergreifend mit den Fingerspitzen über seine nackte Brust. Lächelnd wischte sie mit der anderen Hand Pulverreste von ihren Lippen, um sie genüsslich vom Handrücken zu lecken.
»Stina, es ist nicht, wonach es aussieht«, war Marcels peinlicher Versuch, seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen, und der erniedrigende Satz, der 1.000-fach in derartigen Situationen benutzt wurde, um zu retten, was nicht mehr zu retten war. Er stieß die Frau erneut von sich, schnellte aus dem Bett, streifte eine am Boden liegende Hose über die Hüften und schoss auf seine Verlobte zu. Seine dunklen Haare hingen ihm vor den Augen. Stina holte aus, schlug Marcel die flache Hand ins Gesicht, drehte sich um und griff nach der auf dem Tresen liegenden Tasche. Sie war im Begriff, fluchtartig die Wohnung zu verlassen, als sie bemerkte, dass sie die Flasche Champagner noch immer in der Hand hielt. Sie holte tief Luft, und drehte sich um. Mit eiskaltem Blick ging sie zurück, sah Marcel mit wutverzerrtem Gesichtsausdruck im Raum stehen und schmetterte den Dom Perigon gegen die Wand über dem Bett. Die Fremde schrie auf und hielt schützend ihre Arme vor die Augen. Die Flasche zersprang in 1.000 Stücke, und die Scherben fielen auf die zerwühlten Seidenlaken. Der Champagner hinterließ einen riesigen Fleck an der Betonwand, der sich Richtung Fußboden ausbreitete. Stina drehte sich um und rannte zur Eingangstür. Sie hörte seinen Schrei durch das Loft hallen, als sie die Tür hinter sich schloss. Dann war ihre Kraft verbraucht.
Sie wollte ihn nie wiedersehen …
Kapitel 2
Der schlanke Mann sog die Luft tief in seine Lungen. Sie roch nach Freiheit. Er zog den verschlissenen Bundeswehrrucksack über die linke Schulter und setzte einen Fuß vor den anderen.
Er drehte sich nicht ein einziges Mal um. Mit jedem Schritt folgte er dem inneren Drang, dieser Gegend den Rücken zuzukehren. Er nudelte den winzigen silbernen Stecker in seinem Ohrläppchen, bis es rot anschwoll, dann steckte er eine Hand in die Hosentasche der verwaschenen Jeans, die locker auf seinen Hüften saß. Mit der anderen zog er die dunkle Kapuze seines Hoodies tief in die Stirn. Nachdenklich zog er die Hand wieder aus der Tasche und betrachtete die Innenfläche. 27 Euro 75. Für einen Moment blieb er stehen, zog die Augenbrauen hoch, begutachtete die Münzen und die beiden zerknitterten Zehn-Euro-Scheine. Emotionslos ließ er die Hand wieder in der Tasche verschwinden. Er hatte die leise Ahnung, dass ihm nichts anderes übrig bleiben würde. Er musste per Anhalter fahren. Das Geld brauchte er. Schließlich benötigte er heute noch irgendetwas Essbares. Ludger Hanke zog den Reißverschluss der schwarzen Bikerjacke hoch und stapfte weiter.
Trotz der prekären Finanzlage legte sich ein überlegenes Lächeln auf seine Lippen. Er stellte sich an den Straßenrand und hielt immer dann, wenn ein Wagen heranrollte, den Daumen hoch. Etliche Autos fuhren an ihm vorbei, ohne seiner Person Beachtung zu schenken. Wer will auch einen bärtigen Kerl mit finsterem Blick neben sich auf dem Beifahrersitz sitzen haben?, überlegte er und stiefelte weiter. Niemand hielt in der darauffolgenden Stunde an. So lief er eine gefühlte Ewigkeit und etliche Kilometer durch eisige Kälte. Der Januar forderte seinen Tribut, die Minusgrade drangen langsam durch seine Kleidung. Er war sich sicher, dass über kurz oder lang ein Wagen halten würde. Es hatte angefangen zu schneien. »Verdammt!«, murrte er, das Wetter war niederschmetternd und die Nässe setzte seiner Kleidung und dem Gemüt zu. Er fing an zu frieren. Häuser wurden mit jedem Kilometer seltener. Vom Winter kahl gefressene Bäume säumten stattdessen die Straßen. Zielstrebig folgte er der Allee. Es kann ja nicht ewig dauern, irgendein Idiot … seine positive Energie erhielt erste Kratzer. Seine Lippen liefen blau an und die Laune sank auf ein Minimum. So habe ich mir meine Freiheit nicht vorgestellt, dachte er und legte an Geschwindigkeit zu. Ich muss irgendwo unterkommen, wenn nicht bald …
In diesem Moment unterbrach tiefes Brummen seine Gedanken. Hanke blieb stehen und neigte seinen Kopf so, dass er das Fahrzeug trotz seiner Kapuze erkennen konnte. Mit pfeifendem Ächzen