hingehen«?
»Richtung Küste?«
»Könnte was werden, wenn du nicht wählerisch bist. Ich muss über Kiel nach Flensburg.« Der Fahrer verzog seinen Mund und zuckte die Schultern.
»Flensburg, Kiel, perfekt!«
Kapitel 1
»Don’t lie to me, lie to me, promise me«, dröhnte es durch den Wagen, als Lotta und Tilda ihre Stimmen zum Besten gaben. Dann verstummte das Lied der Sängerin Lena. Lotta Freimann, die blonde OP-Schwester, die den Golf steuerte, schaltete das Radio aus. »Da, die Ostsee!« Johlend hob Tilda, die auf dem Beifahrersitz saß und ihre Füße auf das Armaturenbrett gelegt hatte, ihre Hand und deutete mit ihrem Finger Richtung Windschutzscheibe. »Geil, das ist ja so geil!«, rief sie und rutschte auf dem Sitz von einer Seite zur anderen. »Nun mach mal halblang. Das ist ja nun nicht so aufregend«, entgegnete Lotta, gähnte und rollte ihre grünen Augen. Sie war müde. Außerdem kannte sie die Insel seit ihrer Kindheit. Sie hatte oft mit ihren Eltern auf Fehmarn die Ferien verbracht. Für sie war die Ostsee eine vertraute Umgebung. Es war für sie wie nach Hause kommen. Wenngleich ihr Herz ebenso zu klopfen anfing, wie das ihrer Freundin, die vor Energie nur so strotzte. Sie freute sich darauf, Tilda und Stina ihre Insel näherzubringen. Stina Christiansen, die schweigsam im Fond des Wagens saß, beugte sich nach vorn und stützte ihre Ellbogen auf die Lehnen von Fahrer- und Beifahrersitz. Wortlos warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und blies sich eine lange blonde Haarsträhne aus dem blassen, schmalen Gesicht. Es war kurz vor 15 Uhr. »Wow«, hauchte sie beeindruckt, als sich wie aus dem Nichts die Stahlbetonbrücke träge aus dem Nebel schälte. »Die wirkt unheimlich in diesem Dunst«, sagte Stina mit brüchiger Stimme. »Und die wollen sie abreißen? Eine Konstruktion, die die Geschichte dieser Insel entscheidend geprägt hat? Ein Wahrzeichen, das selbst wir in unserem Kaff kennen? Denen sollte man mal die Konsequenzen aufzeigen«, philosophierte Tilda, nahm ihre Füße von der Ablage. »Ich fass es nicht.« Sie quetschte ihre Nase gegen die Seitenscheibe.
»Ich hoffe sehr, dass sie bleibt. Ich liebe diesen überdimensionalen Kleiderbügel«, erwiderte Lotta nachdenklich, und eine Falte bildete sich auf ihrer Stirn. Sie hatte ihre taillenlangen weizenblonden Haare mit einem Gummiband stramm am Hinterkopf zusammengerafft, sodass ihr apartes Profil reizvoll zu Geltung kam. Der elfenbeinfarbene Rollkragenpullover aus Mohairwolle schmeichelte ihrem Teint, wodurch sie der amerikanischen Schauspielerin Gwyneth Paltrow noch mehr ähnelte. »Die Brücke steht außerdem unter Denkmalschutz. Aber wer kann schon voraussehen, was Politiker sich alles einfallen lassen, um sich der alten Lady zu entledigen. So viel ich vor Kurzem erst gelesen habe, wird sie wohl erhalten bleiben. Dafür soll jetzt unterm Sund ein weiterer Tunnel gebaut werden«, sagte Lotta. »Warum das denn?«, wollte Stina wissen. »Na, für die vielen Züge und die Lkws, die bisher über die Brücke rollten.« Die zierliche Freundin auf der Rückbank versank wieder in ihrer Sprachlosigkeit, spielte mit einer Haarsträhne. Sie starrte aus dem Fenster, um auf das graue Wasser zu schauen, das ihre Laune widerspiegelte. Lotta konzentrierte sich auf die zum Teil gefährlich rutschige Fahrbahn. Der Wagen rollte langsam über die Brücke. Lotta, die normalerweise zehn- bis zwölf- Stunden-Schichten als Operationsschwester schob, spürte die Müdigkeit in jedem Knochen. Sie gähnte zum wiederholten Mal und fing an zu reden, um nicht am Steuer einzuschlafen. »Der neueste Stand ist anscheinend, dass sie die Brücke für den langsamen Verkehr erhalten, und die Bahn, Laster und Pkws durch den Tunnel sollen. Dann gäbe es hier sogar zwei unterirdische Wege auf Fehmarn. Aber genau weiß ich es leider auch nicht. Niemand wird schlau aus den wenigen Informationen, die durchsickern.« Lotta schüttelte den Kopf. »Warum noch einen Tunnel? Gibt es schon einen auf der Insel? Und woher weißt du das alles? Wir leben in Frankfurt«, wollte Tilda wissen und nagte an ihrer Unterlippe und betrachtete ihre Fingernägel. »Nein, aber hätte mich auch gewundert, wenn du dich mit dem Weltgeschehen auseinandersetzt. Hör mal, Tilda, hier soll zwischen Puttgarden und Rodby immerhin der längste Tunnel Europas entstehen.«
»Und was ergibt das für einen Sinn?«, fragte Tilda. »Aha, jetzt kommen Tildas Sinnfragen. Aber mal ehrlich. Keinen, wenn du mich fragst! Hier ist alles wunderbar so, wie es ist. Niemand, außer einer Handvoll Leute, braucht dieses Megaprojekt. Aber da wirken sehr wohl andere Mächte, wenn du mich fragst. Oder was meinst du, Stina, brauchen wir einen Tunnel?«
Die Studentin zuckte die Schultern. »Ist mir, ehrlich gesagt, egal.« Sie lehnte sich in die Polster zurück und schloss die Augen. Sie sieht mitgenommen aus, überlegte Lotta, als sie in den Rückspiegel sah, und seufzte.
Wenig später fuhren sie die Abfahrt Richtung Burg hinunter. »Zehn Minuten, dann haben wir es geschafft«, sagte die Krankenschwester und hielt sich erneut die Hand vor den Mund, weil sie das Gähnen nicht unterdrücken konnte. »Ich bin total müde.« Die Sportstudentin drehte den Kopf zum Fenster und kaute auf ihrem Nagel. Sie hing unübersehbar eigenen Gedanken nach. Ihr war es gleich, ob sie die Brücke abreißen würden oder Tunnel bauten. In ihrem Schädel drehte sich alles um das schrecklichste Erlebnis in ihrem Leben. In ihrem Blick offenbarte sich tiefe Traurigkeit, die selbst die vor ihnen auftauchende Altstadt von Burg nicht vertreiben konnte. Ein verräterischer Glanz bedeckte ihre Augen. Der immer dicker werdende Kloß im Hals erschwerte ihre Atmung.
Die Frage, was falsch gelaufen war in ihrer Beziehung, beschäftigte sie, seit sie Frankfurt verlassen hatten … eigentlich seit sie aus Marcels Loft geflohen war. Sie allein fühlte sich schuldig an der Trennung. Warum bin ich nicht mehr auf ihn eingegangen? Vielleicht habe ich ihm nicht genug gezeigt, dass ich ihn liebe. Vielleicht hätte ich …? Stina versank in Selbstvorwürfen und sah nach draußen, ohne auch nur irgendetwas wahrzunehmen. Tränen stiegen in ihre Augen und kullerten über ihre eingefallenen, blassen Wangen.
»Jede Menge Läden«, tönte Tilda und verwuschelte ihre langen dunklen Locken. In ihrem Gesicht zeichneten sich tiefe Grübchen ab, als sie Lotta grinsend von der Seite ansah. »Party und Shoppen fallen schon mal nicht aus.«
Lotta schüttelte den Kopf und drehte ihr Fenster einen Spalt herunter. »Du hast immer nur das eine im Sinn. Party und Shoppen. Wir wollen uns ausruhen, lesen und Stina aufmuntern, hast du das schon wieder vergessen? Und wie passt das alles nur mit deinen philosophischen Sinnfragen zusammen? Kneipen und Shoppen.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf das Häufchen Elend auf der Rückbank. Tilda verzog den Mund und sah ihre Freundin beleidigt von der Seite an. »Männer hast du auf deiner Agenda vergessen. Hier ist sowieso der Hund begraben. Schau dich um. Wo man hinsieht, gähnende Leere. Hier sind so gut wie keine Menschen in diesem Kaff«, maulte Tilda und raufte sich die vom Kopf abstehenden Haare. Der Wagen rollte die Breite Straße entlang. »Da wird man ja wohl darauf hoffen können, dass nachts was abgeht. Wir müssen unser Stinalein zumindest ablenken.« Damit drehte Tilda sich um und zwinkerte der Studentin mit dem Liebeskummer aufmunternd zu.
Die junge Frau guckte ihre Freundin an und musste auf einmal lachen. »Das kann ja lustig werden. Ich freue mich auf die Woche mit euch. Und Party können wir auch in der Hütte veranstalten. Wein haben wir ja genug dabei. Außerdem siehst du schon aus, als wenn du gerade erst von einer Fete kommst.« Lotta hatte Burg längst verlassen und durchfuhr den Ort Staberdorf. »Nett«, stellte Stina fest und betrachtete die kleinen Häuser links und rechts der Straße. Dann wurden die Lichter und Gebäude immer spärlicher, und das milchig trübe Wetter zog wie eine Fahne über die vorbeiziehenden Felder. Es dämmerte. Wenig später lenkte Lotta ihren schwarzen Golf in einen schmalen Privatweg. »Darfst du da so reinfahren? Da war ein Verbotsschild!« Tilda deutete auf das nicht zu übersehende Schild. »Wir dürfen«, entgegnete Lotta und fuhr unbeeindruckt weiter. »Das habe ich mit der Eigentümerin des Gutshofes abgesprochen. Normalerweise darf kein Fremder hier reinfahren, Privatweg, aber als Mieter vom Ferienhaus …«, sie lächelte.
Kurz darauf bog die 28-Jährige in einen schmalen Waldweg ein. Sie stellte den Scheibenwischer an, weil der Nebel sich immer wieder schwerfällig auf die Frontscheibe legte und die Sicht erschwerte. Wenig später stoppte sie am Wegrand, der genau hier das Ende ihrer langen Fahrt bedeutete. Dahinter begann der Wald, das Staberholz, in dem sich die Ferienhütte befinden sollte. Groß und mächtig hatte er sich vor ihnen aufgebaut und wirkte nicht gerade